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RAUB/1062: Europas Eliten fürchten den Aufstand der Hungerleider (SB)




Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war die Zahl der Hungertoten, an Krankheiten Sterbenden, in tiefstem Elend Vegetierenden, Sklaven und Ausgebeuteten höher als heute. Darauf deuten aktuelle Studien hin, die mit der wachsenden Sorge der Metropolengesellschaften korrespondieren, es könne selbst in den Ländern Europas zu Aufständen kommen, die das Gefüge der Staaten grundlegend erschüttern. So sieht die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Folge der Wirtschafts- und Währungskrise eine wachsende Gefahr sozialer Unruhen. Demnach liegt das diesbezügliche Risiko, das mit Hilfe eines speziellen Indikators gemessen wird, im EU-Schnitt um zwölf Prozentpunkte höher als vor Ausbruch der Finanzkrise. Der Index sei vor allem in Ländern wie Zypern, Griechenland, Portugal und Italien stark gestiegen, während das Risiko in Deutschland, Finnland und Belgien rückläufig sei. Wie die Analyse von Arbeitsmarktexperten der UNO hervorhebt, liege die Beschäftigung in nur fünf der 27 EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, wieder über dem Niveau vor der Krise. Zudem sei Deutschland das einzige Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit seit 2008 gesunken ist. [1] Die ILO macht vor allem die Sparpolitik, die den Krisenländern verordnet wurde, für den Anstieg der Arbeitslosigkeit in der EU auf inzwischen über 26 Millionen Menschen verantwortlich. Die Euro-Staaten hätten zu viel Wert darauf gelegt, ihre Haushalte zu sanieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.

Der Erzbischof von Freiburg und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, gewiß kein radikaler Sozialreformer, warnte zu Ostern in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk vor einer zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland, zu deren Überwindung Vermögende stärker herangezogen werden müßten. Das verlange die Solidarität, erst recht aber der christliche Glaube. Gebe man von dem, was man habe, nicht genügend weiter, verstoße man gegen die christlichen Grundsätze. Es sei für die Gesellschaft fast lebensgefährlich, wenn ganze Gruppen und Schichten aus finanziellen Gründen nicht aktiv an ihrer Gestaltung mitwirken könnten. Breche die Gesellschaft auseinander, seien Demokratie und Staatswesen in Gefahr. [2]

Öffnet man den Blick über den Tellerrand hiesiger Befindlichkeiten hinaus, stößt man weltweit auf boomende Sklaverei nicht zuletzt im Dienst US-amerikanischer und europäischer Konzerne. Die ILO ermittelte 2012 weltweit 20,9 Millionen Sklaven, fast doppelt so viele wie einige Jahre zuvor. Doch das sei konservativ geschätzt, meint der spanische Bürgerrechtler Moisés Mato López, der von rund 400 Millionen Sklaven ausgeht. Auf 20 Millionen käme man allein schon in Indien. Der Argentinier Gustavo Vera, der mit seiner NGO "La Alameda" kürzlich einen internationalen Kongreß gegen Menschenhandel und organisierte Kriminalität in Buenos Aires veranstaltet hat, geht ebenfalls von mehreren hundert Millionen aus. Vera zufolge setze man für Argentinien 200.000 Sklaven in der Textilproduktion an, was man durch Hunderte Begehungen beweisen könne. Zugleich wisse man, daß im Umfeld eines einzigen großen Textilmarkts in der Provinz Buenos Aires 300.000 Sklaven arbeiten, die tatsächlichen Zahlen also weit über jener halben Million Sklaven in Argentinien liegen, die von Regierungsseite nie bestritten worden sei. [3]

Solange die katastrophalen Lebens- und Sterbensverhältnisse aus Sicht der westlichen Industriegesellschaften in ferne Weltregionen verbannt schienen, war gegen verschleiernde Pseudoanalysen und Fortschritte vorgaukelnde Rechenexempel offenbar kein Kraut gewachsen. Was sich binnen weniger Jahre geändert hat, ist das rasante Vordringen der Verelendung in den USA und den meisten Ländern Europas, die Strategien gegen das Kollabieren ganzer Gesellschaften und den Verlust staatlicher Kontrolle auf den Plan rufen. So begannen alle EU-Gipfel jüngeren Datums mit Appellen der Gewerkschaften für Maßnahmen gegen den Verlust von Arbeitsplätzen in ganz Europa und endeten mit völlig unzureichenden Zusagen, die dennoch ausreichten, um die Gewerkschaften weiterhin in die Sparpolitik einzubinden.

Wie die jüngsten Zahlen der Statistikbehörde Eurostat bestätigen, schlägt sich die wirtschaftliche Rezession in Europa ungebremst in steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard nieder. Die Arbeitslosigkeit steigt seit 22 Monaten kontinuierlich an, und der angegebene Wert von 12 Prozent in den siebzehn Ländern der Eurozone ist der höchste seit deren Gründung. Dabei bezieht er sich lediglich auf offiziell registrierte Arbeitslose, die Unterstützung beantragt haben. Er berücksichtigt all jene nicht, die keine Unterstützung mehr bekommen oder unterbeschäftigt sind. Beispielsweise hat Deutschland mit durchschnittlich 6,9 Prozent eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in Europa, während zugleich über sieben Millionen Menschen hierzulande für sehr niedrige Löhne und im informellen Sektor arbeiten.

Die höchste Arbeitslosigkeit weisen Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal auf, denen die Troika aus EU, EZB und IWF wiederholt Sparprogramme aufgezwungen hat. Am härtesten betroffen sind die Jugendlichen, wobei laut Eurostat in der Eurozone fast ein Viertel aller unter 25jährigen arbeitslos ist. Auch hier liegen südeuropäische Länder an der Spitze, so daß selbst konservative Kommentatoren längst von einer "verlorenen Generation" sprechen.

Hinter diesen Daten verbirgt sich die Verelendung von Millionen Familien in ganz Europa. Daß eine ungeheure Umverteilung des Reichtums stattfindet, die zahllose Menschen in Armut stürzt, während eine kleine Minderheit ihr Vermögen deutlich vergrößern kann, belegt eine andere Studie von Eurostat mit dem Titel "Bevölkerung und soziale Lage". Dieser Untersuchung zufolge ist der Lebensstandard in 15 der 27 EU-Staaten von 2009 auf 2010 gefallen, wobei Bulgarien, Lettland, Griechenland und Spanien am stärksten betroffen seien. Die gravierendsten Einbußen hätten die Arbeitslosen und das unterste Fünftel der Gesellschaft erlitten, was dazu führe, daß sich eine wachsende Zahl europäischer Familien nicht einmal mehr jeden zweiten Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder einem vegetarischen Äquivalent leisten könne. Zugleich hätten jedoch die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung in mehreren europäischen Ländern ihr Vermögen deutlich vermehrt. [4]

Ein weiterer aussagekräftiger Indikator für die Verarmungs- und Vernichtungsfolgen der aufgezwungenen Sparpolitik ist der Umstand, daß erhebliche Teile der europäischen Bevölkerung diese mit ihrer Gesundheit, viele Menschen sogar mit ihrem Leben bezahlen. Zu diesem Schluß gelangt eine aktuelle Studie der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet, die erstmals systematisch die Folgen der Krise anhand von nationalen Studien und Statistiken untersucht hat. Danach sind Infektionskrankheiten wie Malaria, West-Nil- oder Denguefieber, HIV-Neuinfektionen bei Drogenabhängigen, Depressionen und Suizide stark angestiegen. Beispielsweise sei der signifikante Anstieg der Selbstmordrate in England direkt mit steigender Arbeitslosigkeit verbunden. Das griechische Gesundheitsministerium meldete einen dramatischen Anstieg der Suizidrate, auch in Spanien haben psychische Störungen erheblich zugenommen. Mindestens die Hälfte dieser Krankheiten sei auf plötzliche Arbeitslosigkeit in Zusammenhang mit der Schwierigkeit zurückzuführen, Hypothekenkredite oder Mieten zu zahlen. In Portugal ist die Todesrate im Winter 2012 bei Menschen über 75 Jahren um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Mehr als vierzig Prozent der alleinlebenden Rentnerinnen und Rentner können ihre Wohnung nicht mehr ausreichend heizen.

Zahlreiche Berichte aus Griechenland oder Spanien beschreiben die Verzweiflung und das Elend der Menschen als Folge der Krise: Kinder, die vor Hunger in der Schule zusammenbrechen; Eltern, die aus Armut und Verzweiflung ihre Kinder in die Obhut von Heimen bringen; Rentner, die nachts den Müll nach Essbarem durchwühlen; Schwerkranke, die nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ihre Krankenversicherung verloren haben und aus Geldmangel zu spät ins Krankenhaus gehen - und dem Tode geweiht sind. [5]

Die Lancet-Studie führt dieses Elend unmittelbar auf die Sparpakete der Troika zurück. Diese hat Griechenland auferlegt, nicht mehr als sechs Prozent des Bruttosozialprodukts für die Gesundheitsversorgung auszugeben - "ein Präzedenzfall, in dem die EU die Kontrolle über das Gesundheitssystem einzelner Mitgliedsstaaten übernimmt". Da die fünf auferlegten Sparpakete das Land immer tiefer in die Rezession getrieben haben und das Bruttosozialprodukt fällt, sinken auch die Gesundheitsausgaben. Betrugen diese 2009 noch 14 Milliarden Euro, waren es im letzten Jahr nur noch geschätzte 9,5 Milliarden. Von Portugal verlangte die Troika Einsparungen von 670 Millionen Euro allein im Gesundheitssystem. In den südeuropäischen Ländern wurden viele Gesundheitseinrichtungen geschlossen, die Krankenhausbetten reduziert, der Eigenanteil für Medikamente erhöht. In Spanien wurde die Gesundheitsversorgung vom Beschäftigtenstatus abhängig gemacht, so daß Hunderttausende "illegale" Einwanderer kaum noch Zugang zum Gesundheitssystem haben.

Wie die Autoren der Lancet-Studie hervorheben, leugnen die europäischen Politiker diese gesundheitsgefährdenden bis lebensvernichtenden Auswirkungen hartnäckig. Das gelte sowohl für nationale Ministerien als auch die Europäische Union. So habe die "Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher" der EU, die sich angeblich der gesundheitlichen Vorsorge und Sicherheit der europäischen Bevölkerung verpflichtet sieht, die Folgen der Sparpolitik nicht nur ignoriert, sondern aktiv "Ratschläge erteilt, wie Gesundheitsministerien ihre Ausgaben kürzen können".

Dies läßt nur den Schluß zu, daß die genannten Folgen nicht etwa hingenommen, sondern beabsichtigt sind. Die maßgeblich unter Führung der Bundesregierung erpreßten Sparmaßnahmen zur Wiedergewinnung der Stabilität und Rettung der Europäischen Union treiben zahllose Menschen in Armut, Verzweiflung und Tod. Sie bringen Leid und Elend über den Kontinent, wie sie außerhalb von Kriegszeiten beispiellos sind. Daß alle europäischen Regierungen, gleich ob sozialdemokratisch oder konservativ, diese massive Umverteilung von unten nach oben unterstützen, wirft zwangsläufig grundsätzliche Fragen nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen auf, die weltweit und längst auch in den Metropolen in eine Krise ohne absehbares Ende geführt haben.

Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/nachrichten/201304071200/3

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/idw_dlf/2057933/

[3] http://www.stern.de/politik/ausland/2-weltweite-ausbeutung-boombranche-sklaverei-1993195.html

[4] http://www.wsws.org/de/articles/2013/04/05/euro-a05.html

[5] http://www.wsws.org/de/articles/2013/04/04/lanc-a04.html

7. April 2013