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RAUB/1074: Dezember 2008 in Griechenland - Revolte im Vorschein der Krise (SB)




Als der 15jährige Alexandros Grigoropoulos vor fünf Jahren, am 6. Dezember 2008, in Athen von einem Polizisten erschossen wurde, löste dies aufstandsartige Unruhen aus, die mehrere Tage lang anhielten. In der griechischen Hauptstadt und an anderen Orten des Landes wurden Geschäfte, Banken, Autohäuser und Behörden attackiert. Selbst ein übergroßer Christbaum, der zum weihnachtlichen Einkauf einlud, fiel den Riots zum Opfer. Straßenkämpfe mit der Polizei am Rande großer Demonstrationen, aus denen heraus immer wieder die Ladenfassaden global operierender Konzerne wie auch die ersten Adressen der griechischen Oligarchie angegriffen wurden, belegten, daß der zumeist jugendliche Protest die Entladung eines gegen Staat und Kapital gerichteten Drucks darstellte, der sich bereits seit längerem angestaut hatte.

Die vor fünf Jahren von Schülerinnen, Schülern und Studierenden, denen sich schnell migrantische Jugendliche anschlossen, auf die Straße getragene Wut wirkte auf den ersten Blick ungerichtet und indifferent. Der diesen Eindruck vermittelnde Tenor der Medienberichte und Politikerkommentare ging jedoch zielgerichtet an der Tatsache vorbei, daß die Revolte das unmittelbar bevorstehende Hervortreten der fundamentalen Krise kapitalistischer Verwertung vorwegnahm. Was in antikonsumistischen Parolen wie "Halt's Maul und kauf' ein", "Ich konsumiere, daher bin ich" oder "Arbeit, Konsum, Tod" auf den realsatirischen Begriff gebracht wurde, war in den Augen der zu Rate gezogenen Experten der Frustration der sogenannten 600-Euro-Generation über mangelnde Zukunftsperspektiven geschuldet.

Der mit vehementer Militanz zum Ausdruck gebrachte Zorn betraf im Kern jedoch die Misere eines aus den Fugen seiner gesellschaftlichen Reproduktion geratenen Kapitalverhältnisses, das immer mehr Unwert in Form von Mangel und Not produziert, indem es auf alle Belange des Lebens übergreift. Die in Griechenland besonders korrupte Oligarchie, die die besten Jobs und Ämter unter ihresgleichen weiterreichte und sich eines Beamtenapparats bediente, der ihre Eigentums- und Steuerprivilegien schützte, war lediglich landesspezifischer Ausdruck der globalen Krise des Kapitals. Die Beleihung der Zukunft durch anwachsende Kredite erlegt allen kapitalistischen Gesellschaften ein Schuldverhältnis auf, das durch keine noch so forcierte Ausbeutung von Mensch und Natur zu begleichen ist, wenn der aufgetürmte Kredit die verwertbaren Ergebnisse der Arbeit um ein Mehrfaches übersteigt. Der sich dabei verschärfende Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung wird dem Interesse der Menschen am eigenen Lebenserhalt immer weniger gerecht, wenn dieser ihnen abverlangt, das aufoktroyierte Schuldverhältnis in Form von Lohnsklaverei und Armut zu erdulden.

Die frontale Kritik der Jugendlichen richtete sich denn auch gegen die Bedingungen eines Marktes, der ihre Lebensverhältnisse und Sozialstrukturen auf bloße Produktionsfaktoren reduziert. Sie zielte auf das abstrakte Wertwachstum, das in der Beliebigkeit des Luxuskonsums die äußere Gestalt des ihm inhärenten Zwangs annimmt, sich zur Sicherung notdürftigen Überlebens zu unterwerfen. Ein Leben, das nicht von fremdem Nutzen und schmerzhaftem Verbrauch bedingt ist, hat darin nicht einmal als Kategorie Platz, sondern kann nur in der streitbaren Auseinandersetzung mit all dem, was einem genommen wurde und wird, negativ bestimmt werden. Dementsprechend fremd war dieser Rebellion auch die sozialdemokratische Forderung, die vermeintliche Ungerechtigkeit des Kapitalismus durch einen gerechten Ausgleich zwischen den Klassen zu beseitigen. Für die damalige Protestgeneration trat das Recht in Form staatlicher Repression auf und wurde ausgeübt im Sinne einer Klasse, die nicht die ihre war.

Von daher richtete sich ihre Wut auch gegen einen Gesellschaftsvertrag, der den einzelnen in Rechtsverhältnissen isoliert, um im Zweifelsfall in Konkurrenz zu anderen Rechtssubjekten zu stehen. Die Jugendlichen verwarfen die Politik der Gewerkschaftsapparate, das Kapitalverhältnis nicht zu überwinden, sondern ihrer Klientel einen größeren Anteil des dadurch erzeugten Wohlstands zu sichern. Es war denn auch kein Zufall, daß sich die meisten Gewerkschaften von den Protesten distanzierten, indem sie etwa einen seit längerem geplanten Generalstreik absagten oder die Militanz der Jugendlichen ausdrücklich verurteilten. So vertiefte diese Revolte eine Spaltung der Ausgebeuteten, deren traditionelle Sachwalter die Klasse auf die produktive Arbeiterschaft, die Kernbelegschaften der industriellen Produktion und des Dienstleistungssektors begrenzen. Sie wollen nicht wahrhaben, daß die Krise der Akkumulation längst ein prekarisiertes und atomisiertes Subjekt hervorgebracht hat, das auf eine materiell auskömmliche Existenz nicht mehr zu hoffen braucht. Das überakkumulierte Kapital entwertet alles, was sich mit Hilfe eines Geldes, dessen Tauschwert äquivalent zum Verlust an produktiver Wertschöpfung verfällt, vermeintlich ertragreich erwirtschaften läßt.

Diese These wurde durch die Entwicklung seit den Protesten vor fünf Jahren, als Griechenland kurz davor stand, der Deckung durch neue Kredite internationaler Gläubiger verlustig zu gehen, auf drastische Weise bestätigt. Mittlerweile ist die Bevölkerung des Landes einer Bringschuld ausgesetzt, die nicht einmal durch den Ausverkauf aller in Staatbesitz befindlichen Liegenschaften und Unternehmen beglichen werden könnte. Die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds bestimmt den Kredit durch staatliche Garantien und Zentralbankgeld politisch, was ihr die Verfügungsgewalt verleiht, die Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion nach Maßgabe eines Spardiktats zu setzen, das wiederum in krassem Widerspruch zu den damit angeblich bezweckten Wachstumszielen steht.

Indem die Troika das politische Mandat erhalten hat, die Rückzahlung der Schulden nach ihren Bedingungen zu gestalten, gelangt die Fiktion eines durch den Markt vermittelten Kapitalverhältnisses zur Wirklichkeit eines Machtanspruchs, der sich im direkten Zugriff auf das Leben der Menschen ausdrückt. Dies erfolgt insbesondere dadurch, daß der Arbeitszwang mit Hilfe einer der Verschuldung des Landes adäquaten Version der Agenda 2010 Not und Armut produziert. Der Mangel hält die Menschen nicht nur am Boden, indem er ihnen die Freiheit und Kraft zum Widerstand raubt, er fungiert als Deckung eines Werts, dessen hypertrophe Akkumulation sich nur noch sehr bedingt an seine produktive Basis rückbinden läßt. Der Versuch, dies durch die Kapitalisierung von Grund und Boden, von Immobilien, Mieten und Renten zu kompensieren, befeuert zwar die Geschäfte der Finanzindustrie, setzt die Bevölkerungen mit der dadurch begründeten Aufrechterhaltung der Rückzahlungsforderungen jedoch einem immer brutaleren Mangelregime aus. Sie muß für etwas bürgen, was ihr ohne eigenes Zutun entzogen wurde, und befindet sich in der aussichtslosen Lage, ihre Lebenskraft und -zeit für eine Zukunft zu verbrauchen, deren Schattenwurf ihr in Form einer zusehends repressiven Staatsgewalt gegenübertritt.

Die Revolte im Dezember 2008 richtete sich vielleicht intuitiv, aber auf jeden Fall rigoros gegen eine lebensfeindliche Verwertungslogik, die jeden Gedanken an ein anderes, selbst- und nicht fremdbestimmtes Leben zunichte machen soll. Der seitdem in Griechenland erlittene Niedergang hat den Protest des urbanen Prekariats, der anarchistischen und autonomen Bewegungen, der sozialistischen und kommunistischen Parteien wie auch der migrantischen Bevölkerung auf vielfältige Weise zum Teil massenhaft manifest werden lassen. Wird der Blick anhand der vergangenen fünf Jahre in die Zukunft gerichtet, dann wird schnell klar, daß der Verzicht auf jeglichen Widerstand das Maß an Ausbeutung und Unterdrückung nur vergrößerte.

5. Dezember 2013