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RAUB/1090: Ernstfall Ernährungsunsicherheit (SB)



Keine Sonderration für Hartz-IV-Empfänger, auch und schon gar nicht im Kriegs- und Katastrophenfall. Zwar wird es der Bevölkerung angst und bange, wenn die Bundesregierung sie auffordert, wie zuletzt in den Hochzeiten atomarer Vernichtungsgefahr einen Notvorrat an Nahrungsmittel, Getränken und anderen essentiellen Dingen des täglichen Bedarfs anzulegen. So ernst wird das Szenario des drohenden Ernstfalles dann doch nicht genommen, daß auch Menschen mit dieser Bevorratung versehen werden, die aus eigenen Mitteln keine zusätzlichen Einkäufe tätigen können. Laut Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) sollen Menschen im sozialen Leistungsbezug derartige Vorkehrungen aus dem ihnen zur Verfügung stehenden Budget bestreiten [1].

Da den Beziehern von Arbeitslosengeld II weniger als fünf Euro am Tag für Nahrungsmittel und Getränke zur Verfügung stehen, kommt eine mit etwa 200 Euro zusätzlich zu Buche schlagende Notfallbevorratung für sie nicht in Frage. Dabei ist der Notfall für 4,3 Millionen Leistungsbezieher und Millionen weitere Menschen, deren existenzbedrohende Armut behördlich nicht erfaßt ist, weil sie keine Papiere haben, auf der Straße leben oder sich im Prekariat als Scheinselbständige durchlavieren, längst eingetreten. Die Versorgung mit dem Notwendigsten muß täglich neu erkämpft werden, was den fragwürdigen Vorteil haben könnte, daß es sich bei der Angst vor dem sozialen Abstieg und kriegerischen Angriffen um ein Luxusproblem handelt, für das sie weder Zeit noch Sinn haben.

Essen ist nicht gleich Essen, das erfahren mittellose Menschen leidvoll am eigenen Leib. Vor der Gefahrenzone akuten Hungers erstreckt sich die weite Einöde relativen Mangels, in der mehr schlecht als recht überlebt, wer zum ärmsten Fünftel der Bevölkerung gehört und damit zehn Jahre Lebenserwartung weniger als das reichste Fünftel hat. Zwar ist es in der Bundesrepublik immer noch relativ leicht, satt zu werden, doch ob der Bauch mit hochwertigem Biofood oder industriell degeneriertem Junkfood gefüllt wird, ist kein trivialer Unterschied, sondern entscheidet zu einem Gutteil über die individuelle Lebensqualität.

Rund 28,5 Prozent ihres Einkommens geben die Bundesbürger im Durchschnitt für die Ernährung aus [2]. Das ist laut einer aktuellen Untersuchung die Hauptausgabenquelle noch vor den mit 25,9 Prozent veranschlagten Mietkosten [3]. Daß bloßes Wohnen zu einem teuren Luxus geworden ist, steht üblicherweise im Mittelpunkt der Kritik an einem Kapitalismus, in dem die Nutznießer der arbeitsfreien Grundrente neofeudale Gesellschaftsverhältnisse etablieren. Doch auch die Zeiten, in denen nur ein kleiner Teil des Erwerbseinkommens auf das Essen entfiel, sind vorbei, und das nicht nur, weil viele Menschen mehr Geld ausgeben, um weniger durch Schadstoffe aller Art belastet zu werden. Biologisch erzeugte Nahrung erreicht bestenfalls den Standard agrarischer Lebensmittelproduktion in vorindustrieller Zeit, ist also kein besonders hochwertiges Premiumprodukt, wie den Kunden exorbitant teurer Biomärkte vorgegaukelt wird. All diejenigen jedoch, die sich das nicht leisten können, gehen mit dem Verbrauch industriell erzeugter Nahrungsmittel Gesundheitsrisiken ein, die sie nicht überblicken können. Die Hochkonjunktur kontrovers geführter Ernährungsdebatten ist mithin nicht nur Ergebnis eines überkandidelten Konsumismus, sondern auch am eigenen Leib gemachten Erfahrungen unbekömmlicher Art geschuldet.

Rund 90 Prozent des Nettoeinkommens gibt der Durchschnittsbürger für seine Lebenshaltungskosten aus. Weil der erwerbsabhängige Mensch im Hamsterrad sozialer Reproduktion steckt, aus dem es mangels Masse kaum ein Entkommen gibt und das Polster zwischen ihm und dem sozialen Absturz nicht gerade dick ist, fällt das feindselige Ressentiment gegen die Empfänger staatlicher Transferleistungen auf fruchtbaren Boden. Satt zu werden, sich aber nur schlecht ernähren zu können, ist erwerbslosen und versorgungsbedürftigen Menschen in den Augen abhängig Beschäftigter allemal zuzumuten, weil die Trennlinie zwischen beruflich gesicherter Existenz und einem Leben in akuter Bedürftigkeit mit aller sozialdarwinistischen Aggression gezogen wird.

Indem der Aufbau der Heimatfront durch die Zurichtung der Bevölkerung auf mehr "Resilienz" Hand in Hand geht mit der Erinnerung daran, daß die Versorgung mit essentiellen Lebensmitteln auch hierzulande keineswegs selbstverständlich ist, erhält die mit viel medialem und PR-technischen Aufwand betriebene Zelebrierung bourgeoiser Einkaufs- und Kochkultur eine Schattenseite, über die weniger gerne gesprochen wird. Was vom reich gedeckten Tisch fällt und durch Tafeln, Containern oder Food Sharing in kostenlosen Umlauf gebracht wird, ist das Ergebnis einer Überproduktion, die im Fall einer länger anhaltenden Versorgungskrise als erstes wegfiele. So dient die wohlmeinende Berichterstattung über karitative und selbstorganisierte Netzwerke der Armutsfürsorge auch der Propagierung einer Almosenkultur, die an der gesellschaftlichen Frage sozialer Gleichheit wie der einer qualitativ vollwertigen Ernährung für alle zielsicher vorbeimanövriert.

Ernährung ist eine Klassenfrage, das wissen etwa die Aktivistinnen und Aktivisten des spanischen Erwerbslosennetzwerkes Baladre [5] schon lange. Sie betonen den Unterschied zwischen der bloßen Befriedigung des Hungers und einer vollwertigen Versorgung im Rahmen einer Kapitalismuskritik, die ihre selbstorganisierten Überlebensstrukturen nicht als Kompensation für die Mängel kapitalistischer Vergesellschaftung verstanden wissen will. So könnte die Zivilschutzpolitik der Bundesregierung über den Zweck, die herrschende Ordnung zum Zwecke ihrer Fortschreibung mit dem symbolischen Ersatz dessen zu sichern, was eine emanzipatorische Politik der Ernährungssicherheit idealerweise weit im Vorfeld möglicher Notlagen verfügbar machte, hinaus Anlaß für die unbescheidene Forderung sein, jedem Menschen eine qualitativ vollwertige Ernährungsweise zu ermöglichen, und sei es durch die Überwindung nämlicher Eigentumsordnung.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2016/09-01/028.php

[2] http://www.aktiv-verzeichnis.de/vexcash-ag/nur-10-prozent-vom-netto-zahlen-und-fakten-zu-den-lebenshaltungskosten-in-deutschland-2016

[3] https://www.vexcash.com/blog/lebenshaltungskosten-deutschland-2016

[4] KRIEG/1655: Schwarze Staatspädagogik (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1655.html

[5] BERICHT/239: Erwerbslosennetzwerk Baladre - zarte Blüte, starkes Gift ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0239.html

5. September 2016


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