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RAUB/1097: TTIP ist tot - lang lebe TTIP? (SB)



Man muß nicht alles glauben, was Sigmar Gabriel an kruden Behauptungen in die Welt setzt, um CETA zu retten. Mit dieser Auffassung stehen die zahlreichen Gegnerinnen und Gegner der Freihandelsabkommen nicht allein. Wenngleich aus ganz anderen Gründen, können auch Angela Merkel und BDI-Präsident Ulrich Grillo dem Bundeswirtschaftsminister nicht folgen, was dessen Prognose zur Lebenserwartung des von ihm totgesagten TTIP betrifft. TTIP dürfe nicht sterben, weil es schlichtweg unverzichtbar für den deutschen Führungsanspruch in Europa und weit darüber hinaus sei, lesen Merkel und Grillo allen Skeptikern und Kritikerinnen die Leviten, sie trieben Schindluder mit dem hiesigen Wohlstandsvorsprung gegenüber dem Rest der Welt. Wer nicht alle Türen aufstoße, um ökonomisch zu expandieren und anderen kraft seines höheren Produktivitätsniveaus die Gurgel abzudrehen, würge sich quasi selber ab.

Diese Logik deutscher Stärke beschwört die Unterwerfung einer Bevölkerung, die jegliche sozialen Grausamkeiten einschließlich jener, die ihr die Freihandelsabkommen bescheren würden, duldsam ertragen soll, gehe es doch anderen noch viel schlechter. Der freie Handel ist das zentrale Thema der Exportwirtschaft, mehr als 15 Millionen und damit fast die Hälfte aller Arbeitsplätze hängen in Deutschland direkt oder indirekt vom Außenhandel ab. In diesem Jahr werden deutsche Waren für rund 1220 Milliarden Euro in alle Welt verkauft. Da verwundert es nicht, wenn Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Kritik mit den Worten abkanzelt: "Wer in diesem Land den Freihandel ablehnt, der kämpft gegen die Sicherung und Verbesserung des Lebensstandards seiner Landsleute an. Der erweist aber auch Millionen von Menschen weltweit einen Bärendienst, die versuchen, sich von ihrer Armut zu befreien." [1]

Als habe der zumeist erzwungene freie Handel höchst ungleicher Partner weltweit nicht Existenzen millionenfach ruiniert, das Elend vervielfacht und den Vorsprung der führenden Industriestaaten vorangetrieben, rezitiert Börner den Katechismus der neoreligiösen Marktdoktrin, die vom Raub nichts wissen will, wo sie himmlisches Manna für alle in Aussicht stellt. Im Interview mit dem Deutschlandfunk [2] stößt Ulrich Grillo ins gleiche Horn und erklärt, die deutsche Industrie stehe "für eine offene Gesellschaft, für freien Handel, für Warenaustausch, für globalen Handel" - deswegen müsse man auch das Thema TTIP vorantreiben: "Wir können uns nicht in Deutschland einigeln. Das als weltweit führende Exportnation wäre sehr schädlich. [...] Wir müssen versuchen, [...] unser "Made in Germany", worauf wir stolz sein können, was unsere Stärken sind, das müssen wir in die Welt hinaustragen. Da dürfen wir nicht die Grenzen hochziehen und das mit uns selber ausmachen."

In diesem Punkt habe der Bundeswirtschaftsminister unrecht: "TTIP ist nicht tot." Grillo verweist auf die laufenden Verhandlungen, von denen man nach drei Jahren keine Wunder erwarten dürfe, zumal CETA fünf Jahre gedauert habe. Er kämpfe dafür, "dass die Regeln und Standards, die wir in Deutschland haben, dass wir versuchen sollten, die auch in der Welt, in dem Welthandel zu verankern. Bevor die Asiaten oder andere die Regeln diktieren, sollten wir das doch besser machen." Es geht um nichts weniger als die Hegemonie im künftigen Welthandel, dessen Normen und Maßgaben die EU unter deutscher Führung im Schulterschluß mit den USA diktieren und festschreiben will.

Da der Protest gegen TTIP, CETA, TiSA und Konsorten hierzulande stärker als irgendwo sonst in der EU aufgestellt ist und massenhaft auf der Straße Flagge zeigt, kann Grillo nicht umhin, gewisse taktische Versäumnisse einzuräumen. Man habe die Sorgen der Bürger vielleicht nicht ernst genug genommen und die Verunsicherung unterschätzt, die auch gezielt geschürt worden sei, kündigt der BDI-Präsident eine Kampagne der Gegenaufklärung in Gestalt sogenannter Bürgerdialoge an. Transparenz heißt das Zauberwort, soll der unverstellte Blick der Bevölkerung doch klar fokussieren, was Regierung und Unternehmerschaft von ihr erwarten.

Die Bundeskanzlerin winkte auf dem Tag der deutschen Industrie in Berlin mit dem beliebten Zaunpfahl, bei der Kritik an TTIP handle es sich offenbar um verkappten Antiamerikanismus:

"Ich sage es mal ganz vorsichtig: Die Tatsache, dass ein Freihandelsabkommen, das wir mit Russland verhandeln würden, wahrscheinlich nur die Hälfte aller Diskussionen mit sich bringen würde, das muss uns doch zu denken geben." [3]

Es stelle sich die Frage, ob es um die Sache oder um etwas ganz anderes gehe, so Merkel, die es wie immer wegweisend verstand, mit harmlos anmutenden Worten Klartext zu reden: "Bei gutem politischen Willen könnte man ziemlich viel erreichen." Die Verhandlungen mit der US-Regierung sollten so weit wie möglich vorangetrieben werden, gerade weil die Handelsabkommen CETA mit Kanada und TTIP mit den USA mehr umfaßten als nur den Zollabbau, seien sie für die Zusammenarbeit der Länder der freien Welt so wichtig. Die Kanzlerin verwies nicht zuletzt darauf, daß Deutschland mit Freihandelsabkommen bisher immer gute Erfahrungen gemacht habe, und stellte mit Blick auf die wirtschaftliche Situation im Land Steuersenkungen in Aussicht. Eingängiger ließe sich die Warnung kaum auf den Punkt bringen, daß ein voller Teller ohne Freihandel nicht zu haben sei. "Ich plädiere dafür, TTIP weiter zu verhandeln", legte Angela Merkel auf dem Unternehmertag den Kurs der Bundesregierung an. "Wir könnten Globalisierungsgeschichte schreiben, wenn wir das vernünftig weiterführen", [4] droht die Kanzlerin dem Kampf gegen die Freihandelsabkommen mit einem potentiellen Supergau.


Fußnoten:

[1] http://www.dw.com/de/ist-ttip-noch-zu-retten/a-35967551

[2] http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-wer-soll-es-hinbekommen-wenn-nicht-deutschland.694.de.html?

[3] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/freihandelsabkommen-angela-merkel-ttip-usa-antiamerikanismus

[4] http://www.dw.com/de/ist-ttip-noch-zu-retten/a-35967551

6. Oktober 2016


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