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RAUB/1106: Alle Räder müssen rollen, und kostet es die Welt (SB)



"Etwas mehr Rückgrat! Etwas mehr Selbstbewußtsein" - was Cem Özdemir denjenigen Delegierten zurief, die den Auftritt von Daimler-Chef Dieter Zetsche auf dem Parteitag der Grünen mit Pfiffen quittierten, stellt die Machtverhältnisse in diesem Land auf den Kopf. Der Gleichschritt mit der Autoindustrie bedarf nicht des aufrechten Ganges, sondern der Unterwerfung unter den Takt der Maschinen. Sich in der Bundesrepublik als Politikerin und Politiker industriekonform zu zeigen bedarf auch keines Mutes, wie im Deutschlandfunk anläßlich dieses Treffens behauptet. Ganz im Gegenteil, wer sich gegen VW, BMW und Daimler stellt, wird in Bundesregierung und Parlament politisch kaum etwas bewegen. Wer sägt schon gerne an dem Ast, von dem sein Leben abhängt, das gilt bis weit hinein in linke Kreise, wo zwar Forderungen zugunsten der Lohnabhängigen dieser Branche erhoben werden, die sozialökologische Unverträglichkeit der motorisierten Individualmobilität aber ein Mauerblümchendasein führt.

Wer hierzulande Regierungspolitik machen will, muß den Pakt mit dem deutschen Imperialismus eingehen, das weiß auch der Grünen-Vorsitzende. Sich dazu zu bekennen, mit der Produktion und dem Export von Militärfahrzeugen am Krieg zu verdienen, von der Ausbeutung globaler Produktivitätsunterschiede durch billige Arbeit und Ressourcen zu Lasten des Globalen Südens zu profitieren und mitverantwortlich dafür zu sein, daß immer größere Flächen des Planeten versiegelt, im Tagebau aufgerissen oder bei der Biomasseproduktion ausgelaugt und so dem Erhalt lebensnotwendiger Prozesse entzogen werden, setzt vor allem das Vergessen all dessen voraus, was ältere Grüne noch in ihrer linksalternativen Jugend gelernt haben.

Auch der Umstieg von fossiler Individualmobilität auf E-Mobilität, wie von dieser Partei mit Nachdruck eingefordert, ist alles andere als ein Ruhmesblatt, wird damit doch eine gesellschaftliche Form von Mobilität fortgeschrieben, die sich nur eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung leisten kann und können wird. Sozial wie ökologisch unverträglich ist E-Mobilität auch deshalb, weil ihre CO2-Emissionen die moderner Diesel- und Benzinmotoren noch auf längere Sicht übertreffen werden, weil der Bau der Fahrzeuge und Batterien die ganze weltweit organisierte Kette destruktiven Ressourcenverbrauchs aufrechterhält, weil durch den Abrieb der Reifen und Bremsen weiterhin Feinstaub freigesetzt wird, weil alle infrastrukturellen Voraussetzungen der Individualmobilität erhalten bleiben und weil der Strukturwandel in der Autoindustrie auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen wird. Sozial wie ökologisch vertretbarere Formen der Mobilität, also öffentlicher Nahverkehr und auf die Schiene verlegter Personenverkehr und Gütertransport, werden durch die politische und industrielle Förderung der E-Mobilität an den Rand gedrängt [1]. Sie sind eben nicht so kapitalproduktiv, daß auch eine solchen Entwicklungen eigentlich verpflichtete Partei wie die Grünen mit hoher Geschwindigkeit an dieser Möglichkeit vorbeizieht.

Wie bereits die Kooperation zwischen der Airbus Group und der Heinrich-Böll-Stiftung [2] gezeigt hat, ist die mit der Kriegsbeteiligung der damaligen Regierungspartei beim Überfall der NATO auf Jugoslawien eingeleitete "Normalisierung" der Grünen längst abgeschlossen. Selbst Franziskus, bei seinem Polenbesuch abfällig als "Papst der Radfahrer und Vegetarier" tituliert, vertritt heute sozialere und ökologischere Ideale als diese Partei. Der aus den rudimentären Restbeständen der 68er-Bewegung entstandene Versuch einer Generation, beim Kampf um die Fleischtöpfe - gerne auch vegan - nach- und aufzuholen, mündete erfolgreich im Wohlleben eines gutsituierten Bürgertums, das keinen ernsthaften Einwand dagegen erheben kann, wenn die Autoindustrie mit allen Mitteln versucht, das nationale Gesamtprodukt zu mehren.

"Mit industriefreundlichem Gruß", so schloß der Präsident des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) eine E-Mail an Mitarbeiter, aus der im Rahmen eines Berichts der Deutschen Presse-Agentur, von Spiegel Online und BR Recherche [2] zu Abstimmungen zwischen dieser Behörde und der Autoindustrie zitiert wurde. Absprachen zwischen den großen Kapitalen der Republik und Regierungsbehörden sind alltäglich und erfreuen sich großer Akzeptanz, geht es doch um den Erfolg deutscher Unternehmen auf einem Weltmarkt, auf dem im Rahmen internationaler Krisenkonkurrenz mit anwachsender Heftigkeit agiert wird. So wurde der Manipulation der Abgaswerte staatlicherseits durch Veränderungen in der technischen Überprüfungspraxis, die die Vortäuschung emissionsarmer Verbrauchswerte begünstigten, der Weg geebnet.

So stellt sich in der Bundesrepublik, allen Ansprüchen auf demokratische Teilhabe zum Trotz, kaum die Frage, ob die Menschen sich lieber etwas langsamer fortbewegen oder die Kosten an Leben und Natur mit dem Tempo der Automobile und Flugzeuge scharf in die Höhe treiben wollen. Als die Bewegung Reclaim the Streets in den 90er Jahren mit Besetzungen verkehrsreicher Straßen gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums durch Autofahrer und Autoindustrie protestierte, griff sie eine materielle Praxis an, die nicht zum Tod von Fußgängern führen muß, um deren Leben stark einzuschränken. In den Entwürfen für autonom fahrende Automobile wird bereits vom Wohn- oder Arbeitszimmer auf Rädern gesprochen, was sogar zum Ausbau dieser Form von privater Okkupation der Straßen und Plätze führen könnte.

Wer dennoch zu Fuß geht, mit Rad oder Bahn fährt, muß die Beschleunigung des Lebens, die Unwirtlichkeit der Städte und Verunstaltung der Landschaften auch in Zukunft hinnehmen, weil es keine entsprechend verbrauchsintensive und damit profitable alternative Verkehrsform gibt. Der fossile Kapitalismus rechnet sich im betriebswirtschaftlichen Sinne auch deshalb, weil die zerstörerischen Folgen dieser Produktionsweise häufig dort zu Buche schlagen, wo kein Anspruch auf finanzielle Kompensation besteht. So ereignen sich 90 Prozent der weltweit 1,25 Millionen Todesfälle im Straßenverkehr laut WHO in ärmeren Ländern, obwohl dort nur etwa die Hälfte aller Fahrzeuge weltweit unterwegs sind. Im kontinentalen Vergleich sterben in Afrika am meisten Menschen auf der Straße, in Europa am wenigsten. Als zutiefst elitäre und kolonialistische Fortbewegungsform hat der individuelle Autoverkehr auch dann noch Zukunft, wenn Millionen Menschen hungern oder mangelernährt sind, denn die Wahl wird im Zweifelsfall für den Tank und gegen den Teller getroffen.

Einen Zetsche mit Pfiffen zu begrüßen bleibt für Grüne dennoch widersinnig. Sie sind den Pakt mit Konzern-Deutschland längst eingegangen, und dieser Spitzenmanager ist ein - wenn auch großes - Rädchen im Getriebe eines Standortnationalismus, an dessen Fortbestand viele interessiert sind, selbst wenn sie nur mittelbar von ihm profitieren.


Fußnoten:

[1] http://www.wildcat-www.de/wildcat/100/w100_abgasskandal.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/airbus-kooperation-gruene-kuscheln-mit-luftfahrt-und-ruestungsbranche-a-1094323.html

[3] http://www.br.de/nachrichten/dieselgate-untersuchungskommission-nicht-unabhaengig-100.html

13. November 2016


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