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RAUB/1126: Ein Tierversuch als Sozialexperiment (SB)



Die Weihnachtsstimmung beflügelt die Umsätze beim Shoppen in der Kölner Innenstadt, doch das sogenannte Sozialexperiment, das die WDR-Wissenschaftsredaktion inmitten des fröhlichen und hektischen Trubels an einem verkaufsoffenen Sonnabend veranstaltete, ist eher nicht zur Steigerung der guten Laune gedacht. Ein Geflügelmäster bietet an seinem Stand lebende Gänse für den Weihnachtsbraten an. Etwaige Kunden könnten sich ihren Wunschvogel aussuchen, der dann fachgerecht geschlachtet wird. Die Reaktionen der Passanten sind erwartungsgemäß heftig. Viele lehnen diese Form der Zurschaustellung einer für den Fleischkonsum notwendigen Praxis ab. Der Braten soll auch in Zukunft munden, und das, was sie dort sehen, schlägt einfach auf den Magen. Eine Frau weint, eine andere ist empört, so einige der Reaktionen, die auf dem kurzen Video [1] zu sehen sind.

Nun wundert man sich beim WDR, warum die Aktion von den meisten Zeugen der Schlachtung in der Kölner Fußgängerpassage mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, während in sozialen Netzwerken, wo das Video über fünf Millionen mal angeklickt wurde, die Zustimmung überwiegt. Dort ist man der Ansicht, daß es nicht schaden könne zu wissen, daß das Fleisch auf dem Teller von einem Lebewesen stammt, dessen Existenz beendet wurde, um es verzehren zu können. Bewußter Fleischkonsum wiederum führe zu mehr Wertschätzung für das Tier und dadurch möglicherweise einem geringeren Verbrauch sogenannten Schlachtviehs.

Gut möglich aber auch, daß gerade die Annäherung an die mit Fleischkonsum verbundene Grausamkeit einen Gewöhnungseffekt zeitigt, der einen umso unbeschwerteren Verbrauch von Tierprodukten zur Folge hat. Für die Vermutung, die Menschen wären nicht in der Lage, die schmerzhaften Voraussetzungen ihres Tuns zu akzeptieren und integrieren, gibt es jedenfalls mehr Belege als für das Gegenteil. Allein die Menschen zugefügte Ausbeutung im Globalen Süden wie in der EU bleibt niemandem verborgen, der Smartphones benutzt, Kleidung einkauft oder fossile Treibstoffe verwendet. Jeder Tankfüllung ist heute Agrosprit beigemengt, der nicht anders als die Massentierhaltung einen Flächenverbrauch erfordert, der im Endeffekt in Hunger resultiert.

Neun der zehn Gänse wurden von TierschützerInnen erstanden, die weitere Schlachtungen verhindern wollten. Laut WDR hat es sich bei den Menschen, die das Geschehen zum Weinen veranlaßte, um VeganerInnen und VegetarierInnen gehandelt, "die natürlich auch ein gutes Recht hatten, so zu reagieren" [2]. Sicherlich bedarf eine derart emotionale Reaktion keiner rechtlichen Begründung. Daß sie auch bei FleischkonsumentInnen naheliegt, belegt deren vom WDR attestierte Reaktion, die zerstörerischen Voraussetzungen des eigenen Verbrauchs mehrheitlich nicht bezeugen zu wollen. Der pädagogische Tenor, der in dem vom WDR angeführten Zusammenhang zwischen hohem Fleischkonsum und systematischer Ignoranz anklingt, ist so anmaßend wie jede Form von Sozialkontrolle, die den Menschen mit Hilfe eines Schuldbewußtseins aufoktroyiert wird, das stets mit paternalistischer Entmündigung einhergeht.

Ginge es tatsächlich um das Wohl der Tiere und nicht eine konsumpädagogische Intervention, dann ließen sich für ihren Nichtverbrauch Argumente und Handlungsempfehlungen in Hülle und Fülle finden, die keines moralischen Impetus bedürfen, weil ihre Gültigkeit unmittelbar zu erkennen ist. Den Menschen nachzuweisen, daß ihr Verbrauch mit Verdrängung einhergeht, ist nichts als eine Binsenweisheit. Das ganze System kapitalistischer Marktwirtschaft könnte ohne systematische Ausblendung seines zentralen, auf Ausbeutung und Zerstörung beruhenden Verwertungszusammenhanges nicht funktionieren. Warum sollten sich Menschen einen Teil ihres Lohnes vom Käufer ihrer Arbeitskraft nehmen lassen, warum sollten sie sich überhaupt zu Lohnarbeit nötigen lassen, wie kann es sein, daß der Abstand zwischen arm und reich trotz kontinuierlichen Wirtschafts- und Produktivitätswachstums immer größer wird? Fragen wie diese sind auch relevant für die Kritik der besonders grausamen Massentierhaltung, so wie die kritische Bearbeitung des Mensch-Natur-Stoffwechsels konkrete Handhabe zur Überwindung der Tierausbeutung enthält.

Was immer das sogenannte Sozialexperiment, das als mediengerechte Inszenierung der Tötung einer Gans oder eines Ganters treffender als tödlich ausgehender Tierversuch hätte bezeichnet werden können, ausgelöst haben mag, zur Debatte des Problems, zu Lasten anderer Lebewesen zu leben, trägt es wenig bei. Wie groß das Potential menschlicher Grausamkeit ist, läßt sich im Krieg ermessen, wenn einstmals friedlich zusammenlebende Nachbarn in mörderischer Aggression übereinander herfallen. Warum also sollten Menschen nicht in der Lage sein, ihren Tierverbrauch im vollen Bewußtsein des dadurch bedingten Schmerzes zu vollziehen und - was sich wiederum anhand zahlloser Beispiele belegen läßt - gerade deshalb besonders genießen?


Fußnoten:

[1] https://www1.wdr.de/wissen/mensch/schlachtung-experiment-100.html

[2] https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-morgenecho-interview/audio-gaenseschlachtung-in-fussgaengerzone-100.html

23. Dezember 2017


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