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RAUB/1187: Widerspruchslösung - nach Vorschrift sterben ... (SB)



Nehmen wir tatsächlich an, die Körpergrenzen schwinden, weil eine regelrechte Kapitalisierung der Körper zu beobachten ist, nämlich der Einsatz der lebendigen menschlichen Substanz als ein allgemeines Äquivalent, welches - 'zirkulierend' - als Medium dazu dient, einen spezifischen Mehrwert zu schaffen: Worin würde dann dieser Mehrwert bestehen? Was erwirtschaftet diese Gesellschaft, indem jeder einzelne von uns im Zeichen biologisch definierter Chancen quasi kurzgeschlossen wird mit dem Körper der anderen?
Petra Gehring - Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens [1]

An lebensrettenden Aufgaben mangelt es nicht. So vieles liegt nicht nur in Deutschland, sondern weltweit im argen, daß es aberwitzig erscheint, aufgrund von rund 200 potentiellen OrganspenderInnen mehr im Jahr [2] einen so grundlegenden Eingriff in die herrschende Rechtsordnung zu vollziehen. Wendete man die ethisch durch die Rettung der Leben von Menschen, die auf ein Ersatzorgan warten, begründete Einführung der Widerspruchslösung in der Transplantationsmedizin auf andere Krisen und Notstände an, so wäre vorstellbar, vom Konto jedes Bürgers einen Geldbetrag zur Rettung davon betroffener Menschen abzubuchen, wenn dem nicht zuvor aktiv widersprochen wird. Das Aufheulen der Empörung gerade dort, wo viel zu holen wäre, und die üblichen Verweise auf die Gefahr sozialistischer und planwirtschaftlicher Übergriffe wäre geradezu vorprogrammiert.

Die von den BefürworterInnen der Widerspruchslösung praktisch zum moralischen Handlungsnotstand erklärte Rettung von Menschen, die mitunter seit Jahren auf ein Ersatzorgan warten, taugte nur als Begründung für den von Gesundheitsminister Jens Spahn vorgelegten Gesetzentwurf, wenn diese ultimativ gemachte Forderung bei der Behebung vergleichbarer Schadensfälle, etwa zur Rettung vor Krieg und Hunger flüchtender Menschen, zur Beendigung der tödlichen Folgen verbrauchsintensiver und Umweltgifte produzierender Industrien, zur Einstellung todbringender Waffenexporte oder automobiler Gefahren, erhoben würde. "Not kennt kein Gebot" - die Widerlegung dieses moralischen Imperativs ist der kapitalistischen Leistungsideologie und bürgerlichen Meritokratie so tief eingeschrieben, daß die dadurch erforderlich gewordene Widerspruchsregulation eine Kulturleistung besonders kreativer Art darstellt.

Da der medizinische Zugriff auf den als hirntot geltenden Menschen zwecks Transferierens vitaler Organfunktionen die Autonomie der betreffenden Person betrifft, stellt sich die Frage, um wessen Körper es sich überhaupt handelt. Das Selbstverständnis des diesbetreffenden Eigentumsanspruchs meint traditionell den Körper der Arbeit, den als Ware zu verkaufen die Basis der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft darstellt. Der in der Verkehrsfähigkeit seiner stofflichen Substanzen und informationstechnisch generierten Daten entgrenzte Körper hingegen stellt insofern Neuland für das Eigentumsrecht dar, als seine Bewirtschaftung auf technologischen Innovationen beruht, die erst seit einigen Jahrzehnten in den Stand umfassender Anwendung gelangt sind.

So bringt das Interesse, die Bevölkerung gesundheitspolitisch zu verwalten und als Rohstoff der Gesundheitswirtschaft zu verwerten, die Idee einer Gemeinschaftspflicht hervor, die sich im Fall der Transplantationsmedizin auf die physischen Grundlagen der zum Zeitpunkt ihrer Nutzung beendeten Existenz richten. Mit der Widerspruchslösung gelangt diese Gemeinschaftspflicht in den Stand einer gesellschaftlichen Maßnahme zur Steigerung der Organernte, die den Anspruch auf Eigentum am eigenen Körper nach dem sogenannten Hirntod aktiv in Frage stellt. Dies erfolgt unter anderem mit dem Argument, die Möglichkeit des kommerziellen Organhandels zu unterbinden. Einer marktradikalen Position gemäß könnte das Privateigentum an den Substanzen und Informationen der eigenen Physis auch die Voraussetzung dafür bieten, die Verteilung des knappen Gutes von Ersatzorganen über den Preis zu regeln.

In beiden Fällen gerät der Mensch unter Druck, sei er moralischer oder ökonomischer Art. Die Einspeisung seines Körpers in ein abstraktes Kollektiv von Bedürftigen knüpft denn auch an die vermeintlich überwundene Vorstellung eines "Volkskörpers" an, der heute zwar nicht mehr durch das Konstrukt der Rasse definiert wird, aber durch die klar gezogenen Trennlinien zwischen Anspruchsberechtigten und nicht Anspruchsberechtigten das angeblich unteilbare Menschenrecht auf nationaler Grundlage relativiert. Mit universalen Werten ist eine solche Entwicklung nicht zu vereinbaren, setzt sie doch gerade auf die Ein- und Ausschließung des Lebens unter den Bedingungen knapper werdender Ressourcen und schärfer geführter Kämpfe um ihre Nutzung.

Dementsprechend bedeutsam wird die Relativierung leiblicher Autonomie durch die schleichende Durchsetzung utilitaristischer Argumente in einer bislang an der Autonomie des Individuums ausgerichteten Gesetzgebung. So führt der Weg von der Zustimmungs- über die Entscheidung- bis zur Widerspruchslösung in eine Zukunft, in der die Etablierung einer Sozialpflichtigkeit der Physis, die keinen Widerspruch akzeptiert, weil die Not anderer ein angeblich größeres Rechtsgut als das der individuellen Unverletzlichkeit darstellt, nicht mehr auszuschließen ist. Wo der Überlebensprimat zur einzig gültigen Direktive erhoben wird, da bleibt kein Platz für die Konzeption eines Humanums, das sich auf irgendeine Weise von den Zwängen und Notwendigkeiten seiner Biologie abhebt. Der Niedergang des gehobenen Bürgertums und seine Verrohung im Bannkreis der Neuen Rechten zeigt sich auch daran, daß philosophisch begründete Bedenken kaum zu vernehmen sind, sondern die Ideale des sogenannten Wertkonservativismus von sogenannten LebensschützerInnen auf die geistige Bescheidenheit des christlichen Fundamentalismus reduziert werden.

Was sich bereits in der Präventiv- und Steigerungslogik gesundheitspolitischer Maßregelung der Bevölkerung wie der nur mit löchrigem Datenschutz möglichen Bewirtschaftung der von ihr produzierte Medizindaten abzeichnet, ist eine neue Epoche biopolitischer Lebensverwaltung. Im Endeffekt - dort trifft sich diese Entwicklung mit den transhumanistischen Visionen kalifornischer IT-Pioniere von einer gentechnisch induzierten Lebensverlängerung wie der potentiellen Unsterblichkeit des informationstechnisch zum Datensatz mutierten Menschen - könnte es um die Akkumulation von Lebenszeit für diejenigen gehen, die es sich leisten können oder deren Existenz als "systemrelevant" eingestuft wird.

Die Philosophin Petra Gehring hat bereits 2006 die Überlegung angestellt, daß die biotechnisch ermöglichte Kommodifizierung des Körpers dem Ziel einer "Erwirtschaftung und Verteilbarmachung biologisch gewonnener Zeit" [3] gewidmet sein könnte. In dem so legitimierten Zugriff auf biologische Lebensressouren der ersten Ordnung, also des Menschen selbst, wird die Dystopie hellsichtiger Science-Fiction-AutorInnen zur Wirklichkeit sozialdarwinistisch organisierter Vergesellschaftung. Im duldsamen Nachvollzug längst manifester Entwicklungen bleibt es den bioethischen VerwalterInnen menschlicher Selbstachtung überlassen, dies mit einer flexibel auf die Errungenschaften der Humangenetik und Bioinformatik abgestimmten Anthropologie von der Unabdinglichkeit technisch erzeugter Resilienz zur Erhaltung der Art auszukleiden.


Fußnoten:

[1] Petra Gehring: Was ist Biomacht?, Frankfurt/Main 2006, S. 34

[2] https://www.deutschlandfunk.de/theologe-peter-dabrock-widerspruchsloesung-bei-organspenden.694.de.html?dram:article_id=445133

[3] a.a.O.

3. April 2019


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