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RAUB/1202: Volkswagenkonzern - Geschäft ist Geschäft ... (SB)



Wir begrüßen es natürlich, wenn VW sein neues Werk in der Türkei baut. Aber der Konzern sollte sich fragen, zu welchem Preis er das tut. Es darf nicht passieren, dass in der Fabrik internationale Rechte und Normen der EU verletzt werden, wie wir das in der Türkei immer wieder erleben.
Eyüp Özer (Auslandschef der Metallgewerkschaft Birlesik Metal Is in Istanbul) [1]

Volkswagen will ein neues Werk in einem Billiglohnland bauen. Die Entscheidung über den Standort dürfte der Aufsichtsrat noch vor der Sommerpause im Stammwerk Wolfsburg und damit in wenigen Tagen fällen. Da die Produktionskosten deutlich gesenkt werden sollen, wird ein Land mit niedrigeren Löhnen als in der Bundesrepublik und guten Absatzchancen gesucht. Ungarn und Polen wurden schnell von der Liste gestrichen, auch Rumänien, Serbien und Bulgarien sind inzwischen kein Thema mehr, da selbst die niedrigen osteuropäischen Lohnkosten noch unterboten werden können. Wenngleich das letztendliche Votum noch aussteht, gibt es Konzernkreisen zufolge eine Vorentscheidung, die neue Fabrik in der Türkei zu errichten. Ausschlaggebend bei der Wahl ist eine Reihe von Faktoren, die aus Sicht der Konzernleitung wie auch der Landespolitik in Niedersachsen und der Bundesregierung für diese Option sprechen. Dieser Ratio werden Bedenken angesichts der anhaltenden Repression in der Türkei, wo das Erdogan-Regime die Menschen- und Arbeiterrechte mit Füßen tritt, leichterdings geopfert. Ganz im Gegenteil zählen gerade diese Voraussetzungen zu den maßgeblichen Vorteilen des bevorzugten Standorts, stellen sie doch ein extrem niedriges Lohnniveau und die Verhinderung von Arbeitskämpfen in Aussicht.

Zuletzt war noch Bulgarien mit im Rennen, wo die Regierung in Sofia massiv für die Ansiedlung einer neuen VW-Fabrik im Land wirbt. Für diese Option spräche, daß der Staat Teil der Europäischen Union ist und damit eine gewisse Rechtssicherheit garantiert. Daß dies nicht für die Türkei gilt, macht sie jedoch für VW um so attraktiver. Dort sind sechs internationale Autobauer präsent, die einen Großteil ihrer Fahrzeuge vor allem in die EU exportieren. Auf Autos und Zulieferteile fallen keine Zölle an, da das Land der Zollunion angehört. Diese war als Vorstufe zum EU-Beitritt gedacht, der jedoch auf unabsehbare Zeit auf Eis liegt. Deshalb gelten die europäischen Arbeits- und Sozialstandards noch nicht, so daß sich Volkswagen das für den Konzern günstigste aus beiden Sphären heraussuchen könnte: Während die Türkei die Vorteile der Zollunion genießt, ist sie nicht gezwungen, sich an die Menschen- und Arbeitsrechtsstandards der EU zu halten.

Das Präsidialregime Recep Tayyip Erdogans höhlt das Streikrecht systematisch aus, erschwert die Mitgliedschaft in Gewerkschaften und läßt unliebsame Arbeitskräfte unter fadenscheinigen Gründen festnehmen. Nach Angaben des Auslandschefs der Metallgewerkschaft Birlesik Metal Is in Istanbul, Eyüp Özer, brauchen die Autokonzerne unter den drakonischen Bedingungen in der Türkei nur 2,40 Euro netto in der Stunde zu zahlen, neue Arbeiter erhielten den Mindestlohn von 1,40 Euro. Das resultiere aus dem Streikverbot und dem Verbot, Gewerkschaften frei wählen zu dürfen. Özer appellierte an VW, in den Gesprächen mit der türkischen Regierung "auf die Verbesserung grundlegender Menschen- und Arbeiterrechte zu bestehen". Würden diese Fragen nicht geklärt, "wären die menschlichen Kosten dieser Investition viel zu hoch".

Ende Mai stellte die EU-Kommission in ihrem Türkei-Bericht fest: "Friedlich arbeitende Funktionäre und Mitglieder sehen sich willkürlichen Entlassungen, Bedrohungen und Festnahmen ausgesetzt." Als es im September auf der Baustelle des Istanbuler Flughafens wegen schlechter Arbeitsbedingungen mit zahlreichen tödlichen Unfällen zu Ausständen gekommen sei, hätten Sicherheitskräfte 500 Streikende festgenommen, mehr als 60 dieser Arbeiter stünden vor Gericht. Die Türkei erlebe "eine Verletzung grundlegender Arbeitsrechte, etwa der Vereinigungsfreiheit und des Rechts auf Tarifverhandlungen". Die Regierung habe 2018 mindestens zwei Streiks faktisch verboten. Özer wies darauf hin, daß das Kabinett Arbeitsniederlegungen mit der Begründung untersage, sie gefährdeten die nationale Sicherheit. Das Streikverbot verstoße aber gegen die Verfassung, gegen internationale Abkommen und sei höchstrichterlich zurückgewiesen worden.

So hat das Verfassungsgericht entschieden, daß ein im Jahr 2015 von Birlesik Metal Is organisierter Streik nicht hätte verboten werden dürfen. Damals war es in der Kfz-Industrie zu Ausständen gekommen, nachdem die Tarifverhandlungen mit der Arbeitgeberorganisation MESS gescheitert waren. Es ging aber auch darum, daß sich einige Arbeiter von der arbeitgebernahen Gewerkschaft Türk Metal nicht vertreten fühlten und daran gehindert wurden, zu Birlesik zu wechseln. Insgesamt legten 20.000 Metaller die Arbeit nieder, unter anderem bei Renault, Fiat und Ford. Trotz des gewonnenen Prozesses sieht die Gewerkschaftsföderation Industri-All keine Verbesserungen. Denn seit dem Putschversuch 2016 seien die Streikverbote sogar noch ausgeweitet worden. Im Juni forderte die Internationale Arbeitsorganisation ILO Ankara auf, Arbeitnehmern endlich die volle Vereinigungsfreiheit und faire juristische Verfahren zuzugestehen. Der Internationale Gewerkschaftsbund ITUC, dem der DGB angehört, führt die Türkei inzwischen unter den "10 schlimmsten Ländern für Arbeiter". Besonders nachteilig wirke sich Erdogans Dekret Nummer 5 aus, das die Gewerkschaften der Regierungsaufsicht unterstelle. Der staatliche Kontrollrat könne jederzeit Akten einsehen, Untersuchungen einleiten und die Gewerkschaftsspitze auswechseln.

Ein weiterer Standortvorteil der Türkei aus Sicht des VW-Konzerns wäre der große Absatzmarkt mit 80 Millionen Einwohnern, was im Kontext einer langfristigen Investitionsentscheidung von Bedeutung ist. Neben günstigen Steuern, genügend Fachkräften und einer langen Erfahrung im Autobau spricht auch die logistische Anbindung des geplanten Standorts Manisa bei Izmir, der Hafenstadt an der Ägäis, für diese Option. Zudem lockt Ankara mit mehr als 100 Millionen US-Dollar Zuschuß und einem kostenfreien Grundstück, so daß ein erheblicher Anteil der geplanten Investitionskosten in Höhe von rund 1,3 Milliarden Euro gedeckt wäre. Überdies will der Staat eine signifikante Menge von bei Beamten und Politikern beliebten Passat-Limousinen abnehmen. Sollte sich Volkswagen für einen anderen Standort entscheiden, fahren die Staatsbediensteten in Zukunft wohl eher Toyota, heißt es aus Ankara.

In dem neuen Werk könnten vor allem Limousinen der Konzernmarken VW und Skoda gefertigt werden. Die Führung um Vorstandschef Diess hätte dort zwar lieber sportliche Geländewagen gebaut, was Betriebsratschef Bernd Osterloh aber abgelehnt haben soll. Er befürchtete, daß die SUV-Modelle dann zu günstigen Konditionen nach Zentraleuropa exportiert würden. Das Stammwerk in Wolfsburg und andere deutsche Standorte hätten das Nachsehen. Ein erstes Modell dürfte der VW Passat werden, der aktuelle Produktionsstandort Emden soll bis zum Jahr 2022 komplett auf Elektrofahrzeuge umgerüstet werden. Damit zeichnet sich zugleich ab, daß der Skoda Superb, der auf derselben Plattform basiert, ebenfalls in der Türkei produziert würde. Der ursprüngliche Plan, Skoda die Leitung der neuen Fabrik zu übertragen, wurde kassiert, die Verantwortung soll bei der Marke Volkswagen liegen. Damit besänftigte der Vorstand Betriebsratschef Osterloh, der mit einer Blockade gedroht hatte, weil er eine Verlagerung von Modellen aus den deutschen Werken nach Osteuropa befürchtete.

Wenngleich aus Unternehmenssicht die Rahmenbedingungen für die Türkei sprechen, geht der Volkswagen-Konzern mit einer gewissen Zurückhaltung zu Werke, um nicht einen Imageverlust zu riskieren. Eine Kampagne der Kundschaft, die zum Boykott von VW wegen eines Pakts mit dem Regime aufriefe, stünde dem Unternehmen schlecht zu Gesicht und wäre finanziell ein Schlag ins Kontor. So wurde Erdogan aus den Verhandlungen über die größte Einzelinvestition aus Deutschland in der Türkei seit Jahrzehnten an der Oberfläche komplett herausgehalten, während Arda Ermut, Chef der türkischen Investitionsagentur, als Gesicht der Gesprächspartner fungierte. Unterdessen konzentrierte sich der Staatschef auf die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul und erwähnte VW mit keinem Wort, obgleich ihm das sicher im Wahlkampf gelegen gekommen wäre. [2]

Das heikle Thema nötigt auch der beteiligten deutschen Politik manch verbalen Eiertanz ab, die Wahrung der Menschenrechte anzumahnen, um dann erst recht für die Investition in der Türkei zu plädieren. Das SPD-geführte Land Niedersachsen, das eine Sperrminorität an VW hält, muß das neue Werk absegnen. Der verzweifelt zu einem Hoffnungsträger der angeschlagenen Partei erkorene Ministerpräsident Stephan Weil, der im VW-Aufsichtsrat sitzt, erhebt keine Einwände: "Ich habe mich immer gegen Forderungen gewehrt, man dürfe nicht mehr in der Türkei investieren." Selbst die Opposition in dem Bundesland hält sich mit Kritik zurück, denn der einflußreiche VW-Konzern ist dort ein Faktor, den alle mit Vorsicht behandeln. Zwar sei die Menschenrechtslage in der Türkei "höchst problematisch und kritisch", sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Anja Piel. Gleichzeitig sehe man gerade, daß die Opposition wieder an Stärke und Rückhalt im Land gewinne. "Diese Gesamtsituation gilt es auch bei Investitionsentscheidungen zu berücksichtigen." Und Jörg Bode, der wirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, sprach von einer "unternehmerischen Entscheidung von VW, die es hier zunächst zu respektieren gilt, und die wir nicht politisch bewerten wollen". Er regte aber an, im Unternehmen einen "einheitlichen Wertemaßstab" aufzustellen, der auch die Frage beantworten soll, ob und unter welchen Bedingungen VW in Ländern mit problematischer Menschenrechtslage investieren solle.

Bei Volkswagen nimmt man solche Steilvorlagen dankend auf und versichert, der Konzern sorge stets dafür, "dass durch unsere Geschäftstätigkeit keine Menschenrechte verletzt werden". Dieser frappierenden argumentativen Dissoziation, daß die Geschäftstätigkeit absolut sauber sei, während alles übrige auf das Konto der Türkei gehe, für deren Handlungsweise man schließlich keine Verantwortung trage, scheint auch den hiesigen Führungen von Betriebsräten und Gewerkschaften als probate Ausflucht zu behagen. Die Rolle Osterlohs im Konzert der Standortpolitik wurde bereits angedeutet, gravierende Einwände gegen die türkische Option aus seinem Munde sind nicht bekannt. Anzumerken wäre noch, daß die bereits erwähnte eher linksgerichtete Birlesik Metal Is Mitglied des türkischen Gewerkschaftsbunds Disk ist, der wiederum mehreren internationalen Kooperationen angehört, darunter der Gewerkschaftsföderation Industri-All. Deren Präsident ist der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann. Die deutsche Gewerkschaft wollte sich indessen gegenüber der F.A.Z., der das auffiel, zu den Bedenken der Schwesterorganisation nicht äußern.

Auf Unterstützung und Solidarität, wie sie die Lohnabhängigen und oppositionellen Gewerkschaften in der Türkei so dringend benötigen, können sie bei den deutschen Konzernbetriebsräten und Gewerkschaftsführungen offensichtlich nicht zählen. Als gelte es, der Kollaboration deutscher Wirtschaft und Politik auch in diesem Zusammenhang die Krone aufzusetzen, bekundet nun auch Saudi-Arabien massives Interesse an VW. Kronprinz Mohammed Bin-Salman hat in Südkorea ein milliardenschweres Abkommen zur wirtschaftlichen Kooperation unterzeichnet, bei dem es auch um den Automobilhersteller Hyundai geht. Was VW betrifft, würde das Königshaus jedes gebaute Auto mit mindestens 1000 US-Dollar über mehr als 10 Jahre fördern, und der Staat dem Werk pro Jahr Fahrzeuge in fünfstelliger Höhe abnehmen. Die Umsatzsteuer liege bei fünf Prozent, Land, Gebäude und Infrastruktur würden zur Verfügung gestellt, Aus- und Weiterbildung finanziert. [3] Ist das ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann? Daß deutsche Konzernmanager im Zweifelsfall so wie Jamal Kashoggi enden könnten, sollte doch kein entscheidender Hinderungsgrund sein.


Fußnoten:

[1] www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/erstes-vw-werk-in-der-tuerkei-faellt-der-bau-ins-wasser-16261798.html

[2] www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/automobilindustrie-volkswagen-will-neues-autowerk-voraussichtlich-in-der-tuerkei-bauen/24480012.html

[3] www.tagesschau.de/investigativ/vw-werk-109.html

1. Juli 2019


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