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RAUB/1217: Fabrikbrand Neu Delhi - die Umlastungskette ... (SB)



Wir haben mithilfe einer Befragung untersucht, in welchem Ausmaß sich international tätige Unternehmen bereits um sozial und ökologisch nachhaltige Lieferketten bemühen. Die Ergebnisse sind ernüchternd.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) [1]

Der Großbrand in einer Fabrik in der indischen Hauptstadt Neu Delhi, bei dem mindestens 43 Menschen ums Leben gekommen sind, ist kein Ausnahmefall, sondern eine zwangsläufige Folge extremer Ausbeutung. Bei den Opfern handelt es sich um arme Wanderarbeiter, die für einen Hungerlohn vor allem Taschen, Flaschen und Spielzeuge fertigten und auch in dem mehrstöckigen Gebäude schliefen. Als das Feuer, vermutlich durch einen Kurzschluß, in der Nacht ausbrach, konnten sie nicht entkommen und starben an Rauch und Flammen. Viele, die gerettet wurden, sind lebensgefährlich verletzt, so daß die Zahl der Opfer noch steigen könnte. Nach Angaben der Feuerwehr war der Zugang zu dem schlecht beleuchteten Gebäude in dem Geschäftsviertel von Sadar Bazar, in dem der Brand gewütet hatte, sehr schwer. In den engen Straßen des dicht besiedelten Stadtteils der Millionenmetropole gibt es viele kleine Fabriken und Lager, in denen eine Ökonomie jenseits offizieller Standards und Regularien existiert. [2]

Unfälle und Brände in indischen Fabriken gibt es immer wieder, da Sicherheitsstandards häufig mißachtet werden. Mangelhafte Brandschutzvorrichtungen, fehlende Notausgänge und veraltete Elektrik sind keine Seltenheit, die Opferzahlen dadurch oft hoch. Erst im September waren bei mehreren Explosionen in einer Chemiefabrik im Westen des Landes mehr als ein Dutzend Menschen ums Leben gekommen, die Zahl der Verletzten lag um ein Vielfaches höher. Hier wie in anderen Ländern dieser Weltregion kommt es sehr viel häufiger zu solchen Zwischenfällen mit Toten und Verletzten, als von den westlichen Medien wahrgenommen wird, die allenfalls über katastrophale Fabrikunglücke mit zahlreichen Opfern berichten.

Indiens Premierminister Narendra Modi zeigte sich per Twitter erschüttert über den "extrem schrecklichen" Brand im Stadtteil Anaj Mandi. "Meine Gedanken sind bei jenen, die ihre Liebsten verloren haben", schrieb Modi. Die Behörden würden ihr Möglichstes zur Unterstützung der Opfer tun, fügte er hinzu. [3] Wie es von offizieller Seite hieß, habe es sich um eine illegale Fabrik gehandelt, deren Brandschutz von den zuständigen Behörden nicht abgenommen worden sei. Der Besitzer und der Manager des Betriebs wurden festgenommen. Bei dieser Form politischer Schadensbegrenzung geht es in erster Linie darum, das Unglück in die Sphäre irregulärer und strafwürdiger Machenschaften zu verweisen, keinesfalls aber dem Normalbetrieb informeller Produktionsweisen und extremer Arbeitsbedingungen zuzuordnen, wie sie nicht nur in Indien gang und gäbe sind.

Deutsche Unternehmen, die in Billiglohnländern produzieren lassen, dürften aufgeatmet haben, scheint doch die ausgebrannte Fabrik in Neu Delhi für den einheimischen Markt und nicht den Export gefertigt zu haben. Angesichts des Imageschadens, der sich in einbrechenden Absatzzahlen niederzuschlagen droht, ist eine Gruppe von Unternehmen aus Deutschland in die Offensive gegangen und fordert erstmals gemeinsam ein verbindliches Lieferkettengesetz, mit dem die Einhaltung von menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten bei Zulieferern gewährleistet werden soll. Die Spannbreite der 42 beteiligten Unternehmen reicht von Konzernen wie Hapag-Lloyd und Nestlé Deutschland über Familienunternehmen wie Ritter Sport, Tchibo und Vaude bis hin zu Start-ups und Handelsgenossenschaften.

Wie es in ihrer Erklärung heißt, zeige die Erfahrung, "dass freiwillige Selbstverpflichtungen allein nicht ausreichen". Eine gesetzliche Regelung würde zu Rechtssicherheit und gleichen Wettbewerbsbedingungen beitragen: "Wie begrüßen es, wenn mit einem Sorgfaltspflichten-Gesetz in Deutschland der Weg für eine anspruchsvolle europäische Regelung geebnet wird." In einem Spagat zwischen Profitmarge und Rechtschaffenheit geben diese Unternehmen zu bedenken, daß eine nachhaltige Entwicklung nicht zum Nulltarif zu haben sei. Viele Firmen könnten oder wollten sich zusätzliche Kosten aus Wettbewerbsgründen aber nicht leisten, weshalb gesetzlich geregelte Mindeststandards erforderlich seien, um Wettbewerbsneutralität zu gewährleisten.

Während einige Länder wie Frankreich, Großbritannien, die Niederlande oder Australien bereits Gesetze verabschiedet haben, mit denen einzelne menschenrechtliche Sorgfaltspflichten verbindlich geregelt werden, setzt Deutschland bislang auf einen freiwilligen Ansatz. Im Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte von 2016 ist jedoch eine Überprüfung der Freiwilligkeit eingebaut. Im Koalitionsvertrag haben Union und SPD vereinbart, gesetzlich tätig zu werden, wenn bis 2020 nicht mindestens die Hälfte der großen Unternehmen freiwillig auf die Einhaltung von Menschenrechten achtet. Zwischen Juli und Ende Oktober hatte die Bundesregierung Unternehmen zu dem Thema befragt. Wie eingangs zitiert sind die Ergebnisse ernüchternd.

Nun will Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gemeinsam mit Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) ein Gesetz zur Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards in globalen Lieferketten auf den Weg bringen. Heil fordert klare Regelungen und die Einhaltung von Standards. "Wenn Menschen durch Ausbeutung an Leib und Leben gefährdet sind und andere davon wirtschaftlich profitieren, können wir dagegen mit klaren Haftungsregeln etwas erreichen", behauptete der Politiker. Es gehe um die Einhaltung von Standards, um das Nein zu Kinderarbeit, Dumpinglöhnen und Ausbeutung. Auch der Arbeitsschutz müsse gewährleistet sein: "Ich habe den Eindruck, dass wir die Unternehmen, die ihre Produkte bei uns verkaufen, darauf gesetzlich verpflichten sollten."

Im September hatte Entwicklungsminister Müller das staatliche Textilsiegel Grüner Knopf vorgestellt, das zur Bekämpfung von Kinderarbeit dienen soll. Da es jedoch auf Freiwilligkeit beruht, wurde es als unzureichend kritisiert. Der Prozeß der Freiwilligkeit laufe schleppend, räumte der Minister ein. Das sehe er beim Textilbündnis, wo weiterhin nur die Hälfte der Unternehmen mitmache. "Es wird in anderen Lieferketten nicht anders sein." Wenngleich Heil und Müller erstmals schwere Geschütze aufzufahren scheinen, schwebt ihnen doch nichts anderes als jenen 42 Unternehmen vor, die ihren deutschen Standortvorteil nicht etwa freiwillig zurückfahren, sondern in diesem Kontext nutzen wollen. So heißt es denn in einem gemeinsamen Positionspapier, das die beiden Minister kürzlich vorgestellt haben, daß sich eine gesetzlich verankerte Sorgfaltspflicht an den internationalen Rahmenwerken orientieren solle. "Von den Unternehmen wird dabei nur verlangt, was vor dem Hintergrund ihres individuellen Kontextes machbar und angemessen ist." Konkret könnten kleine und mittlere Unternehmen von verbindlichen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten befreit werden. [4]

Grundsätzlich ist einzuwenden, daß der hier transportierte Ansatz, ein fairer Handel sei unter Einschluß profitgetriebener Unternehmen möglich, an der ideologischen Konstruktion krankt, wonach ein solcher Austausch zum Wohle aller realisierbar sei. Um dies zu behaupten muß ausgeblendet werden, daß die Konkurrenz höchst ungleicher Staaten und Unternehmen Extreme an Unterdrückung und Ausbeutung hervorbringt, die ein vermeintliches Ende kolonialer Abhängigkeit obsolet machen. In diesem Zusammenhang zwischen der Lohnsklavin am Anfang der sogenannten Wertschöpfungskette und den Konsumenten spottbilliger Erzeugnisse in einem deutschen Supermarkt oder Warenhaus findet man ebenso brutale Gangster, korrupte Politiker und gierige Geschäftsleute wie seriöse Manager, untadelige Buchhalter, rechtstreue Beamte, wohlmeinende Gewerkschafter und natürlich Kunden, die am allerwenigsten wissen wollen, wie das alles zusammenhängt. Ein wenig mehr für solche Erzeugnisse auszugeben wäre noch nicht einmal das Problem, sofern man nicht selber am Hungertuch nagt. Doch wer möchte sich schon mit dem Blut und Elend konfrontieren, das an diesen Produkten klebt. Dann lieber guten Gewissens auf Unternehmer und Politiker vertrauen, die treuherzig versichern, daß künftig Produkte aus fernen Ländern ausnahmslos weiß- oder grüngewaschen sind.


Fußnoten:

[1] www.zeit.de/wirtschaft/2019-12/hubertus-heil-umweltstandards-lieferketten-globalisierung-produktion

[2] www.dw.com/de/viele-todesopfer-durch-feuer-in-fabrik-in-neu-delhi/a-51575571

[3] taz.de/Fabrikbrand-in-Neu-Delhi/!5648122/

[4] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/menschenrechte-lieferkette-1.4716264

10. Dezember 2019


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