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RAUB/1247: Landbesitz und Nahrungsraub ... (SB)



Die Kämpfe für Klimagerechtigkeit begannen aber nicht erst hier, sondern fanden auch schon lange vorher statt - auch wenn sie oft nicht als solche formuliert wurden. So sind es besonders die seit über 500 Jahren existierenden antikolonialen Kämpfe des Globalen Südens, die jenes System bekämpfen, das die Klimakrise hervorgebracht hat. Wenn wir also begreifen, dass das koloniale Denken die Wurzel der Klimakatastrophe ist, heißt das, dass die Befreiung und Bekämpfung des kolonialen Denkens auch ein Kampf für das Klima ist.
Aus der Broschüre "Kolonialismus und Klimakrise - 500 Jahre Widerstand" der BUNDjugend [1]

Kolonialismus war gestern, den Eindruck kann erhalten, wer sich mit der medialen Aufarbeitung kolonialistischer Verbrechen befasst und dabei vor allem die Vergangenheit der Akteure und Betroffenen im Sinn hat. Das Präfix "Neo-" suggeriert zwar, die Fortsetzung weißer Suprematie bediene sich heute weniger brutaler Formen ökonomischer Ausplünderung als im 19. Jahrhundert, doch die politisch-ökonomischen Praktiken, mit denen ganze Länder der Abhängigkeit von Westeuropa und Nordamerika unterworfen werden, gehen im Ergebnis für die kolonisierten Bevölkerungen des Globalen Südens ganz ähnlich aus.

Geändert haben sich vor allem die Legitimationskonstrukte, deren formalrechtliche Korrektheit der politischen Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialstaaten geschuldet ist. Asymmetrische Gewaltverhältnisse zwischen dem globalen Norden und Süden aufrechtzuerhalten, die auf vertragsrechtlichen Grundlagen basieren, kann durchaus als Fortschritt in der kolonialistischen Bewirtschaftung der Bevölkerungen des Trikonts betrachtet werden. So wurde mit dem Kapitalexport in Länder des globalen Südens, dem ihnen in Kollaboration mit den Weltfinanzinstitutionen auferlegten Schuldenregime, der für kapitalstarke Investoren vorteilhaften Bewirtschaftung nationaler Ressourcen und Infrastrukturen wie der Entsorgung toxischer Abfallprodukte beibehalten, was zuvor mit gewaltsamer Landnahme, Aneignung und Versklavung auf direkterem Wege vollzogen wurde. Besonders sichtbar wird dieses Gewaltverhältnis in der Freiheit europäischer und nordamerikanischer TouristInnen, südostasiatische, afrikanische und mittel- wie südamerikanische Staaten nach Belieben bereisen zu dürfen, während in die Gegenrichtung ziehende MigrantInnen unter elenden Bedingungen nach ihrer Ankunft in den USA oder der EU in Lager gesteckt werden, wenn sie nicht zuvor von Drogengangs ermordet wurden oder im Mittelmeer ertrunken sind.

Zu diesen Praktiken gesellt sich nun eine Form des grünen Kolonialismus, dessen Anfänge bereits gemacht sind. So hat sich die vor 15 Jahren vom Weltklimarat (UNFCC) etablierte Praxis, unter dem Titel REDD+ (Reducing Emissions of Deforestation and Forest Degradation) Programme gegen Entwaldung im globalen Süden aufzulegen, die FinanzinvestorInnen neue Anlagemöglichkeiten eröffnen, insbesondere für indigene Bevölkerungen negativ ausgewirkt. Ihnen wurde in den als REDD+ ausgewiesenen Projekten häufig die traditionelle Nutzung des Waldes untersagt, sie wurden staatlichen Repressalien ausgesetzt und mitunter aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben. Zugleich resultierte die Inwertsetzung des Waldes oft in nichts anderem, als dass Anreize für verstärktes Abholzen zwecks Steigerung des Wertes zu erhaltender Bäume, die Anlage ökologisch kontraproduktiver Monokulturen und Plantagenwälder oder die Abholzung an anderer Stelle geschaffen wurden.

Schon mit dieser nur auf den ersten Blick naturschützerischen, tatsächlich jedoch Natur kapitalisierenden und verwertenden Praxis hat sich die fatale Auswirkung einer Komplexitätsreduktion gezeigt, bei der die biologischen und sozialen Verhältnisse in Wäldern auf Tauschprozesse eingedampft wurden, die anhand der neuen Währung Karbon bemessen werden. Erst mit der Abstraktion des Problems der Klimakrise auf die Recheneinheit CO2-Äquivalente, auf die die klimaschädliche Wirkung anderer atmosphärischer Gase umgerechnet wird, wurde ein Tauschwertäquivalent geschaffen, mit dem sich industrielle Zerstörung und biologische Wachstumsprozesse vergleichen und gegeneinander verrechnen lassen. Die dabei erfolgende Entkopplung der Kommodifizierung der Wälder von den sozialen und ökologischen Qualitäten über Jahrtausende geschaffener gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist kein unerwünschter Nebeneffekt, sondern kommt dem Interesse an der herrschaftsförmigen Durchsetzung des neuen Akkumulationsregimes entgegen. Was für die Klimawissenschaften den Zweck einer empirischen Vergleichsgrundlage zur Erhebung von Schadensfällen und der Prognose künftiger Entwicklungen hat, wird analog zu monetären Wertbestimmungen, die Kapitalakkumulation unabhängig vom jeweiligen Gegenstand der Wertproduktion ermöglichen, zur Produktion quantifizierbarer Größen genutzt, die in politische Verhandlungen und ökonomische Tauschprozesse eingebracht werden können.

Das sogenannte Offsetting, also die kompensatorische Schaffung angeblicher Ausgleichsflächen für die Freisetzung von CO2-Äquivalenten in Energieerzeugung, Landwirtschaft, Verkehr und rohstofferzeugenden Industrien wie der Zement- und Stahlproduktion, soll mit Hilfe des Handels von Emissionsrechten und Biodiversitätszertifikaten die Fortsetzung fossilistischer Akkumulation ermöglichen. Während die Forderung, Emissionen an der Quelle und mithin absolut zu reduzieren, durch die aktuellen Aussagen des ersten Teils des sechsten IPCC-Sachstandsberichtes in ihrer Dringlichkeit bestätigt wird, soll mit häufig windigen Rechenmanövern der Eindruck erweckt werden, die Freisetzung klimaschädlicher Gase könne neutralisiert werden, indem die Aufnahme von CO2 durch Bäume mittels des Erhalts von Abholzung bedrohter Wälder, vor allem aber der neuen Aufforstung von Landflächen vergrößert werde.

Im größeren Rahmen der Net Zero-Doktrin, die kompensatorische Ausgleichsprozesse durch Carbon Prizing sowie die perspektivische Verlagerung des Problems durch die Inanspruchnahme technologischer, CO2 aktiv aus der Atmosphäre entfernender Lösungen in die Zukunft als klimapolitischen Königsweg propagiert, gilt BECCS (Bioenergy with carbon capture and storage) als eine der vielversprechendsten Lösungen zur Einhaltung vereinbarter Klimaziele. Dem liegt der Plan zugrunde, schnell wachsende Bäume, Sträucher oder Gräser zur Energiegewinnung zu verbrennen oder ehemalige Waldflächen zu diesem Zweck wiederaufzuforsten. Bei der Energieproduktion sollen die Kohlenstoffemissionen abgeschieden und in unterirdischen Lagerstätten entsorgt werden. Dieser mit CCS bezeichnete Vorgang ist allerdings noch nicht besonders gut erprobt, es gibt lediglich 21 Einrichtungen dazu weltweit, die in der Lage sind, 0,1 Prozent der globalen CO2-Emissionen abzuscheiden, aber vor allem in der Ölförderung eingesetzt werden. Es ist bereits zu Lecks an CO2-Pipelines gekommen, und die Sicherheit der künftigen Lagerstätten wird ebenfalls in Frage gestellt.

Auch die Produktion von Bioenergie ist mit diversen Ungewissheiten behaftet, was die Kritik an BECCS immer lauter werden lässt. So stellt sich die Frage, wieviel Karbon die jeweiligen Pflanzen in welcher Wachstumsphase überhaupt speichern, wie genau die dazu angewendeten Messmethoden sind, ob der Zugewinn an gespeichertem Kohlenstoff die CO2-Bindung der zuvor auf der Fläche wachsenden Pflanzen übersteigt, was bei Plantagenwäldern häufig nicht der Fall ist, wie das jeweilige Pflanzenwachstum die CO2-Aufnahmefähigkeit der Böden beeinflusst, ob zu ihrem Anbau und ihrer Ernte bodenverdichtende Fahrzeuge und CO2-intensiver Dünger verwendet werden, wie sehr sie gegen Waldbrände und andere dem Zweck der Emissionsminderung abträgliche Eingriffe geschützt sind, und was die Etablierung derartiger Projekte für die Menschen bedeutet, die in den dafür in Beschlag genommenen Landschaften und Wäldern leben.

Die knappe Ressource in der Gleichung "Produktion fossiler Energie hier = Aufnahme ihrer CO2-Emissionen dort" sind die Landflächen, die für die Aufforstungsprogramme benötigt werden, mit denen zahlreiche Unternehmen die erklärte Absicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt klimaneutral zu wirtschaften, verwirklichen wollen. In zwei aktuellen Studien wurden diese Pläne daraufhin untersucht, wie groß die Flächen sind, die dafür in Anspruch genommen werden müssten. So wurde in dem von Greenpeace UK herausgegebenen Report "Net Expectations: Assessing the role of carbon dioxide removal in companies climate plans" [2] überschlagen, dass die Entfernung von 12.000 Megatonnen im Jahr an CO2, die laut IPCC erforderlich wären, um das 1,5-Grad-Ziel bis 2100 auf einem mittleren der verschiedenen im IPCC-Zwischenbericht von 2018 entworfenen Szenarios zu erreichen, eine Landfläche von 380 bis 700 Megahektar benötigte, was 25 bis 46 Prozent der weltweit verfügbaren Anbauflächen für Nahrungsmittel entspräche.

Laut dieser Studie ständen etwa 500 Megahektar ehemaliger Waldflächen und ungenutzten Landes zur Wiederaufforstung zur Verfügung, ohne dass dies notwendigerweise zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion oder Biodiversität ginge. Auf diese Weise könnten 3.700 Megatonnen CO2 im Jahr aus der Atmosphäre entfernt werden. Doch alleine der Ölkonzern Shell wolle 50 Megahektar Wald aufforsten, um die Emissionen seiner fossilen Produkte zu neutralisieren, wodurch bereits ein Zehntel des verfügbaren Kompensationspotentials verbraucht wäre. Derartige Projekte würden vor allem in tropischen Regionen angesiedelt, wo die Ernährungslage bereits prekär ist und Landnahmen oft gewaltsam durchgesetzt würden, merken die AutorInnen des Berichts an. Zu fragen wäre auch, inwiefern angeblich ungenutzte Flächen angesichts des weltweit anwachsenden Hungers nicht zusätzlich für den Anbau von Nahrungsmitteln verwendet werden sollten. Die bereits bei der Produktion von Agrosprit entbrannte Debatte "Teller oder Tank" hat beim Klimaschutz nichts von ihrer Aktualität verloren.

In dem Oxfam-Report "Tightening the Net: Net zero climate targets implications for land and food equity" [3] wird daran erinnert, dass um die begrenzte Ressource Land bereits in erheblichem Ausmaß gekämpft wird. Da das Leben von 2,5 Milliarden Menschen weltweit direkt von dem Land, das sie als KleinbäuerInnen bewirtschaften, abhängt und die Ungleichheit bei der Landnutzung immer weiter zunimmt, da immer größere Ackerflächen von ortsfremden InvestorInnen bewirtschaftet würden und ihre Erträge in den Export gingen, verschärfe das Carbon Farming die darüber entflammten Konflikte nur noch mehr. Allein vier Erdölkonzerne benötigten Anbauflächen für Aufforstungsprojekte in der Größe von 50 bis 70 Millionen Hektar, was mehr als die doppelte Fläche des Vereinigten Königreiches umfasse. Wollte der Erdöl und Erdgas produzierende Sektor seine gesamten Emissionen mit dem Ziel, 2050 Net Zero zu erreichen, auf diese Weise kompensieren, wäre dafür ein Drittel der weltweit vorhandenen Anbauflächen für Nahrungsmittel erforderlich. So hat die indische Regierung ein größeres Gebiet zur Aufforstung abgesperrt und die dort lebenden Menschen vertrieben. Dadurch wurde das Überleben fast einer halben Million Mitglieder indigener Stammesgemeinschaften und im Wald lebender Menschen in Frage gestellt [4].

Wenn die AutorInnen des Oxfam-Reports verlangen, dass jede nicht für Nahrungsmittel gedachte Landnutzung die Beseitigung des Hungers voraussetzen müsse - ohne Zero Hunger kein Net Zero -, dass zudem die Rechte und Lebensgrundlagen der in den betroffenen Wäldern und Landschaften lebenden Menschen geschützt werden müssten, nicht zuletzt durch deren gleichberechtigte Teilnahme an den dazu erforderlichen Entscheidungsprozessen, dann beschreiben sie, was die kolonialen Bedingungen des Nord-Süd-Verhältnisses verhindern. Im Globalen Norden, wo der Entwicklungsvorsprung auf Kosten des Klimas und der Biodiversität vor allem im Globalen Süden erwirtschaftet wurde, wo der Reichtum der Welt konzentriert ist und fossilistische Industrien wie Konsumpraktiken die Zerstörung der Lebensgrundlagen unvermindert vorantreiben, soll weiter gewirtschaftet werden wie bisher. Wenn das bedeutet, dass aufgrund der dafür in Anspruch genommenen biologischen Potentiale zur Speicherung von CO2 Hunderte Millionen Menschen mehr hungern sollen, scheint dagegen nichts einzuwenden zu sein.

Schon heute bedarf die EU das Doppelte ihrer Fläche, um die aufwendige, vor allem durch Futtermittelexporte aus Südamerika alimentierte Ernährung ihrer Bevölkerungen sicherzustellen. Anstelle der Überlegung, wie die europäische Agrarwirtschaft so strukturiert werden könnte, dass nicht zusätzliche Ernteerträge aus Hungerregionen in die EU importiert werden müssen, wird in die umgekehrte Richtung gedacht. Die von europäischen Regierungen und Unternehmen beanspruchten Flächen für klimapolitische Ausgleichsprozesse auf anderen Kontinenten dienen der fortgesetzten Externalisierung fossilistischer Abfallproduktion, sprich der Sicherung eigenen Wohlstandes zu Lasten von Menschen, die aus ihren Lebensräumen vertrieben werden, denen die Nahrung entzogen wird, die am Mangel von Impfstoffen sterben oder die ermordet werden - allein 2019 wurden 212 UmweltaktivistInnen aufgrund ihres Kampfes für den Erhalt ihrer traditionellen Lebenswelten im Globalen Süden umgebracht.

Von daher ist erfreulich, dass eine Politisierung der Klimagerechtigkeitsbewegung stattfindet, die den Zusammenhang zwischen Kolonialismus, Rassismus und Klimakrise insbesondere in Sicht auf den Globalen Süden und unter kritischer Aufarbeitung eigener Anteile an diesem Gewaltverhältnis in den Blick nimmt und zum Gegenstand politischer Kämpfe macht. Die Krisen des Klimas, der Biodiversität, des Hungers und der politischen Selbstbestimmung in globaler Zusammenarbeit zu überwinden erweist sich zusehends als das Nadelöhr, das wider alle Angst vor dem Scheitern zu durchschreiten ist.

Fußnoten:
[1] https://www.bundjugend.de/wp-content/uploads/Kolonialismus-und-Klimakrise-Ueber-500-Jahre-Widerstand-11.pdf

[2] https://www.greenpeace.org.uk/wp-content/uploads/2021/01/Net-Expectations-Greenpeace-CDR-Briefing-updated2.pdf

[3] https://oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/621205/bp-net-zero-land-food-equity-030821-en.pdf

[4] https://www.opendemocracy.net/en/oureconomy/tackling-climate-crisis-must-not-come-expense-eradicating-global-hunger/

16. August 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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