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REPRESSION/1335: "Atlas der Wut" - Was gibt's denn da noch zu enthüllen? (SB)



Die Sicherung der lebensnotwendigen Ressourcen in Händen der Eliten, die den Ausschluß einer Mehrheit der Menschheit von der Teilhabe an der existenziellen Sicherung strategisch betreiben, zeitigt auch im Innern der euphemistisch zur Wohlstandsgesellschaft verklärten krassen bundesrepublikanischen Widerspruchslage repressive Konsequenzen. Die Hungerrevolte naht, und wer Erstaunen an den Tag legt, daß sich der Staat zwar aus der Vorsorge für das Wohlergehen der Bürger, nicht aber aus der für ihre Befriedung mit drastischen Mitteln verabschiedet, muß mehr als eine Lektion verpaßt haben.

Bekanntlich hat die Bundesregierung im letzten Herbst das Grundgesetz dahingehend aufgeweicht, daß der Einsatz des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr bei "besonders schweren Unglücksfällen" im Inland erlaubt ist. Diese und zahlreiche weitere staatliche Initiativen zur Überwachung und Eindämmung all jener Kräfte und Bestrebungen, welche die fortgesetzt drangsalierten Menschen aus dem Kerker ihres individuellen Schicksals befreien und ihre kollektiven Potentiale entfalten könnten, bleiben nur dem verborgen, der den Kopf aus welchen Gründen auch immer in den Sand steckt.

Udo Ulfkotte will in Erfahrung gebracht haben, was die Regierung zur Eindämmung sozialer Brandherde in Stellung gebracht hat, und die Ergebnisse seiner Recherchen diese Woche in seinem Buch "Vorsicht Bürgerkrieg!" vorstellen. Wenn er also Werbung in eigener Sache macht und dafür die Skandaltrommel schlägt, mag man ihm das nachsehen. Daß er als "Geheimdienst- und Terrorismusexperte" firmiert, muß allerdings angesichts des immanenten Widerspruchs irritieren, sobald man zu dem Schluß gekommen, daß "Terrorismus" im wesentlichen ein Kunstprodukt der Geheimdienste ist, weshalb man schwerlich als Fachmann auf beiden Gebieten gelten kann. Andererseits handelt es sich um keine geschützte Berufsbezeichnung, weshalb die Beurteilung des Qualitätsstandards dem Belieben des Rezipienten überlassen bleibt.

Was der "Terrorismusexperte enthüllt", hat Welt Online (29. Juni 2009) in einer Vorankündigung dahingehend zusammengefaßt, daß die Bundesregierung nicht nur mit sozialen Unruhen rechne, sondern deren mutmaßliches Auftreten lokalisiert und die betreffenden Örtlichkeiten unter Beobachtung gestellt hat. In Reaktion auf die schweren Unruhen in französischen Vorstädten seien 2005 von den Sicherheitsbehörden streng vertrauliche Listen mit mutmaßlichen Brandherden in deutschen Städten erstellt worden, die als sogenannter "Atlas der Wut" insgesamt 165 Quartiere und Orte auflistet, in denen die Experten starke soziale Unruhen, Krawalle und Revolten in absehbarer Zeit für wahrscheinlich halten. Diese Zusammenstellung liege auch der Bundesregierung vor, wobei die Liste mehrmals jährlich aktualisiert werde. Staatsschutz und Verfassungsschutz hätten die Spannungsgebiete lange beobachtet und herausgefunden, daß sich die Wut wahlweise gegen die Politik und soziale Mißstände richte oder auch zwischen verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen gäre.

Wie kommt es, daß sich Unbehagen einstellt, noch bevor man das Buch gelesen hat? Liegt es an der lässigen Verknüpfung, daß schließlich Gewerkschaften und Linke zu sozialen Unruhen aufgerufen hätten, was wie eine Bezichtigung daherkommt, man kenne die Brandstifter ja bereits? Wem ist damit gedient, die 165 bösen Orte zu erfahren, um sich dann womöglich in abseitigen Streitereien darüber zu verlieren, ob das die richtigen oder falschen, zu wenige oder zu viele sind, und ob das ganze nicht ohnehin eine Beleidigung der dort lebenden Menschen ist? Vielleicht sind es aber auch Begriffe wie "Brandherd", "gären" und "Wut", die allzu sehr an Katastrophen, Verwesungsprozesse und Gefühlseruptionen erinnern, die den Lösch-, Entsorgungs- und Wegschließungsreflex des braven Bürgers auslösen.

"An diesen Orten brodelt ein explosives Gemisch", wird Udo Ulfkotte zitiert, der sich seinem Thema wie ein Chemiker zu nähern scheint, der vor brisanten Mischungen und Zuständen warnt, die Naturgesetzen folgend zum Ausbruch drängen und nur vom Fachman gebändigt werden können. Vielleicht macht das ja den "Geheimdienst- und Terrorismusexperten" aus, daß er am liebsten selber durch die Brille des Staatsschützers schaut, um zu verhüten, was man doch beiderseits nicht wollen kann? Doch da wir das Buch noch gar nicht gelesen haben, sind all das nur unbegründete Vorannahmen und Spekulationen, die sich bei der Lektüre bestimmt in Rauch auflösen werden.

30. Juni 2009