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REPRESSION/1359: Karadzic-Prozeß im Schatten der erfolgreichen Verteidigung Milosevics (SB)



"Showdown für den mörderischen Psychiater" titelt Spiegel Online (26.10.2009) zu Beginn des Prozesses gegen den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska, Radovan Karadzic, vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Kein Zweifel, dieser unter Anklage des Völkermordes und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehende Mann ist so verachtenswürdig, daß ihm keine Unschuldsvermutung zustehen kann und es im Grunde genommen keiner ordentlichen Rechtsprechung bedarf, die ihm nur die Gelegenheit zur Selbstinszenierung böte. Statt dessen sollte man vor einem außerordentlichen Tribunal, um das sich bei dem ICTY zweifellos handelt, kurzen Prozeß mit Karadzic machen, meinte schon der ehemalige deutsche Richter am ICTY, Wolfgang Schomburg, kurz nach der Verhaftung Karadzics im Juli 2008. Sein nach rechtsstaatlichen Kriterien nicht eben seriöser Vorschlag, man solle sich auf die Beweislage früherer Prozesse stützen, anstatt den ganzen Fall erneut aufzurollen, begründete Schomburg damit, man könne als "internationales Strafgericht nicht Historiker spielen und versuchen, alles aufzuarbeiten". Seiner damaligen Prognose nach werde dieser Prozeß "auf keinen Fall so lange dauern [wird] wie etwa das Verfahren gegen Milosevic" (Deutschlandfunk, 26.07.2008).

Die Erinnerung an das zu seinem Beginn 2002 in der Presse der NATO-Staaten einhellig zum "Jahrhundertprozeß" hochgejubelte Verfahren gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten lastet aus gutem Grund wie ein dunkler Schatten auf den Richtern und Anklägern des ICTY. Milosevic gelang es in seiner Doppelfunktion als Angeklagter und Verteidiger seiner selbst weitgehend, den Prozeß zu politisieren und in eine Anklage gegen die NATO umzuwidmen, gegen die zu ermitteln sich das Den Haager Kriegsverbrechertribunal standhaft weigert. Wenn Spiegel Online Karadzics mangelnde Kooperationsbereitschaft damit belegt, daß er das ICTY nur "das Nato-Gericht" nennt, dann muß das nicht bedeuten, daß der Angeklagte damit nicht ins Schwarze trifft. So rühmte die ehemalige Chefanklägerin Louise Arbour US-Außenministerin Madeleine Albright, die maßgeblich für den Überfall der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien verantwortlich zeichnet, als "Mutter des Gerichts". Der damalige NATO-Sprecher James Shea präsentierte seinen Arbeitgeber als "Freund des Tribunals". Am 16. Mai 1999 erklärte Shea, während Bomben auf Jugoslawien fielen, warum das ICTY zu Recht als eine Art legalistischer Handlungsarm der NATO empfunden wird:

"Die NATO-Staaten haben die Finanzen aufgebracht, um das Tribunal zu errichten, wir gehören zu den Hauptfinanciers und wollen natürlich eine zweite Kammer einrichten, so daß die Strafverfolgung beschleunigt werden kann. Ich kann ihnen versichern, daß wir und das Tribunal darin vollständig übereinstimmen. Wir wollen Kriegsverbrecher sehen, über die Recht gesprochen wird, und ich bin sicher, daß, wenn Richterin Arbour nach Kosovo geht und sich die Fakten anschaut, sie dann Personen jugoslawischer Nationalität anklagt."

Am 17. Mai 1999 beantwortete Shea die Frage, ob die NATO bereit sei, sich selbst der Jurisdiktion des ICTY zu unterwerfen, indem er das Militärbündnis nicht nur über das internationale Recht stellte, sondern dessen Institutionen als eine Art Rechtsabteilung der NATO darstellte:

"Wie Sie wissen, gäbe es ohne die NATO-Staaten keinen Internationalen Strafgerichtshof, noch gäbe es ein Internationales Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien, denn die NATO-Staaten stehen an vorderster Front derjenigen, die diese beiden Tribunale eingerichtet haben, die sie finanzieren und die ihre Aktivitäten auf täglicher Basis unterstützen. Wir sind die Vertreter, nicht die Verletzer internationalen Rechts."

Diesem Selbstverständnis gemäß agierten Richter und Ankläger am ICTY in einer Interessenübereinstimmung gegen Milosevic, die einem normalen Gericht einen Befangenheitsantrag nach dem anderen einbrächte. Da das ICTY jedoch weitgehend selbst über die strafprozessualen Regeln seiner Verhandlungsführung befinden kann, sind die Möglichkeiten, ihm Voreingenommenheit nachzuweisen, begrenzt. Dabei dokumentierte schon die Tatsache, daß die Anklageerhebung gegen Milosevic am 27. Mai 1999 während der Angriffe der NATO auf Jugoslawien erfolgte und präventiven Charakters war, die politische Funktion des ICTY. Mitten in einem völkerrechtswidrigen Krieg gegen sein Land wurde Milosevic, der sich seines Verfassungsauftrags gemäß nicht der Forderung der NATO-Staaten unterworfen hatte, wesentliche Hoheitsrechte Jugoslawiens an das Militärbündnis abzutreten, als mutmaßlicher Kriegsverbrecher kriminalisiert. Das diente nicht nur der Legitimation des Verbrechens des Aggressionskrieges, sondern machte den jugoslawischen Präsidenten als direkten Verhandlungspartner, dem die NATO-Regierungen womöglich Zugeständnisse hätten machen müssen, um den Krieg ohne eine verlustreiche Invasion zu beenden, inakzeptabel.

Das schnell abflauende Interesse der westlichen Medien an dem angeblichen Jahrhundertprozeß war der Erkenntnis geschuldet, daß dem als Wiedergänger Hitlers dämonisierten Milosevic keineswegs umstandslos nachzuweisen war, was ihm vor und während des Überfalls der NATO auf Jugoslawien angelastet wurde. Ganz im Gegenteil, der Angeklagte verstand es immer wieder, die von den Anklägern aufgebrachten Zeugen zu demontieren und vermeintlich eherne Wahrheiten über den Verlauf der jugoslawischen Sezessionskriege und die seine Politik bestimmenden Motive überzeugend zu erschüttern. Bis heute verzichten die etablierten Medien aus gutem Grund darauf, dem Verlauf dessen, was sich zwischen Februar 2002 und März 2006 am Den Haager Kriegsverbrechertribunal ereignete, auf den Grund zu gehen und die von ihnen vollmundig gegen Milosevic erhobenen Bezichtigungen zu verifizieren. Slobodan Milosevics Tod am 11. März 2006 in der Haftanstalt des ICTY in Scheveningen, der nach dem vergeblichen Ersuchen des schwerkranken Angeklagten, sich in einer Moskauer Spezialklinik behandeln zu lassen, eintrat, ersparte es dem ICTY, das Problem zu lösen, wie man auf Grundlage der vielen im Verfahren zutagegetretenen Widersprüche zu einer Verurteilung gelangen konnte.

Besser noch, der vorzeitige Abbruch des Verfahrens gegen Milosevic bietet sich dazu an, ihm die Flucht vor einem gerechten Schuldspruch in den Tod zu unterstellen. Entscheidend ist, daß das komplexe Geschehen dieses exemplarischen politischen Prozesses nicht aufgearbeitet, sondern unter Verschluß eines höchst selektiven Erinnerungsvermögens steht. Was auf jeden Fall bleibt, ist der tiefsitzende Ärger der Richter und Ankläger über die erfolgreiche Verhandlungsführung Milosevics. Da Richter und Ankläger am ICTY vor dem Problem stehen, alle Widersprüche, die sich aus dem internationalen Krisenmanagement während der jugoslawischen Sezessionskriege und den geostrategischen Interessen der NATO-Staaten ergeben, ausklammern zu müssen, könnte es auch Karadzic gelingen, im Rahmen der von ihm gewählten Form der Verteidigung Fragen aufzuwerfen, die zu stellen zu Lasten der unsichtbaren Betreiber des ICTY gehen.

So scheint Schomburg, der Ende 2008 aus dem ICTY ausschied, der Aussicht auf eine schnelle Verurteilung Karadzics nicht mehr so sicher zu sein wie noch zum Zeitpunkt seiner Verhaftung. Im Deutschlandradio Kultur zeigte er sich unzufrieden damit, daß Karadzic das Recht zugestanden bekam, sich selbst zu verteidigen. Auf die Frage der Moderatorin, wie groß die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Verfahrens durch den Angeklagten sei, antwortete Schomburg:

"Die Gefahr ist leider sehr groß und da muss ich sagen, dass ich mit der Mehrheitsmeinung des Tribunals, wie ich es auch oft in abweichenden Meinungen zum Ausdruck gebracht habe, überhaupt nicht einverstanden bin. Wir müssen sehen, dass es sich um ein so schwieriges Verfahren handelt, in dem eine sogenannte Selbstverteidigung schon aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht kommt. Wie soll sich eine Person gegen eine derartige Vielzahl von Dokumenten verteidigen, über eine so lange Zeit und dann noch in und aus der Untersuchungshaft heraus? - Der Punkt ist aber, dass in Wirklichkeit Herr Karadzic ja hinter den Kulissen eine Armada von Verteidigern hat, die ihm zuarbeiten, die ihm auch aus dem Sitzungssaal heraus zuarbeiten, ihn coachen."
(Deutschlandradio Kultur 26.10.2009)

Tatsächlich erklärt der ehemalige ICTY-Richter im zweiten Teil seiner Antwort, daß Karadzic technisch durchaus in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Schomburgs Unbehagen angesichts der Möglichkeit, daß Karadzic eine auch nur annähernd so erfolgreiche Vertretung seines Falls wie Milosevic leistet, wird von der deutschen Staatsanwältin Hildegard Uertz-Retzlaff, die im Team der ehemaligen Chefanklägerin Carla Del Ponte die erweiterte Anklageschrift gegen Milosevic erarbeitete, geteilt. Sie fordert angesichts der Weigerung des Angeklagten, wegen ungenügender Vorbereitungszeit bei der Eröffnung des Verfahrens gegen ihn zugegen zu sein, vom Tribunal, Karadzic das Recht zu entziehen, als sein eigener Verteidiger zu agieren (Welt Online, 26.10.2009).

Auch im Prozeß gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten wurde immer wieder versucht, ihm das Recht auf eigene Verteidigung zu nehmen und einen Pflichtverteidiger zwischen ihn und das Gericht zu stellen. Obwohl die Ankläger damals nach jahrelangen Vorbereitungen an fast 300 Verhandlungstagen über 500.000 Seiten an Dokumenten und 5000 Videokassetten als Beweismittel vorlegten sowie 286 Belastungszeugen aufboten, obwohl sie über einen mit Millionen von Dollar ausgestatteten und mit hochqualifiziertem Personal versehenen Ermittlungsapparat, der zudem eng mit den Regierungen und Geheimdiensten der NATO-Staaten zusammenarbeitet, verfügten, obwohl das ICTY über die Haftbedingungen, mit denen dem Angeklagten zugesetzt wurde, gebot, obwohl der vorsitzende Richter dem Angeklagten nach Belieben das Mikrofon sperrte, wenn er dessen Auslassungen nicht mehr hören wollte, wurde Milosevics Verteidigung in eigener Sache nach Kräften in Frage gestellt.

Dementsprechend waren die Möglichkeiten Milosevics zur Vorbereitung auf die lediglich 150 Verhandlungstage, an denen er seine Zeugen befragen konnte, stark eingeschränkt. Zudem waren seine Arbeitsbedingungen wie seine Möglichkeiten zum Erbringen von Beweismitteln bei weitem nicht so großzügig gestaltet wie die der Anklagebehörde. Daß er seine begrenzten Optionen dennoch so effizient ausschöpfte, daß Ankläger und Richter an den Rand einer Verfahrenseinstellung gerieten, erklärt, wieso man bei Karadzic von Anfang an versucht, die Notbremse seiner Entmündigung zu ziehen. Die historische Aufarbeitung der ihm zur Last gelegten Taten birgt eine Vielzahl von Einsichten, die den Regierungen der NATO-Staaten alles andere als angenehm sein dürften. Gerade weil das Tribunal von seiner Konstitution her ein politisches Projekt bestimmter Staaten ist, soll eine politische Verhandlungsführung unter allen Umständen verhindert werden.

26. Oktober 2009