Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

REPRESSION/1426: Kanadier foltern nicht ... sagt die kanadische Regierung (SB)



Daß die US-Amerikaner, Briten und Afghanen Gefangene foltern, ist hinlänglich bekannt. Sollten andere Kontingente der Besatzungsmächte am Hindukusch wie die Kanadier niemals eigenhändig foltern, was gelinde gesagt bezweifelt werden darf, macht sie eine Überstellung von Gefangenen an die afghanischen Sicherheitskräfte zu Mittätern. Das gilt natürlich gleichermaßen für alle anderen Streitkräfte, Geheimdienste und Regierungen, die gemeinsam mit den Amerikanern Krieg führen.

Bekommt der Pakt des Verschweigens, Vertuschens und Bestreitens gelegentlich Risse, setzt es Schuldzuweisungen an angebliche schwarze Schafe samt der Versicherung, man werde fortan Abhilfe schaffen. Zugleich befördert die öffentlich geführte Folterdebatte ihrerseits die Akzeptanz von Folterpraktiken, die vordem in Haftanstalten und Gefangenenlagern hinter verschlossenen Türen angewendet wurden, inzwischen jedoch in zunehmendem Maße legalisiert werden.

Im Jahr 2006 erhoben Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen den Vorwurf, daß Gefangene, die von den kanadischen Besatzungstruppen gemäß einem Abkommen vom Dezember 2005 an die afghanischen Behörden übergeben wurden, daraufhin schweren Mißhandlungen ausgesetzt waren. Die Regierung Premierminister Stephen Harpers wies den Vorwurf entschieden zurück, und dem Versuch, die Überstellungspraxis der Streitkräfte vor einem kanadischen Gericht anzufechten, war kein Erfolg beschieden. Bei Unterzeichnung eines zweiten Transferabkommens im Jahr 2007 wurden angeblich wirksame Sicherheitsklauseln in den Vertrag aufgenommen.

Die langjährig praktizierte Vertuschung der Beteiligung an einem Folterregime geriet endgültig ins Wanken, als der hochrangige kanadische Diplomat Richard Colvin im Herbst 2009 vor einem parlamentarischen Ausschuß aussagte, daß während seiner Zeit als Stellvertreter des Chefdiplomaten der kanadischen Botschaft in Kabul in den Jahren 2006 und 2007 wahrscheinlich alle an die örtlichen Sicherheitskräfte überstellten Gefangenen gefoltert worden seien.

Einem Bericht der New York Times (23.11.09) zufolge bezeichnete Colvin, der zu diesem Zeitpunkt dem Botschaftspersonal seines Landes in Washington angehörte, den Umgang der eigenen Streitkräfte mit afghanischen Gefangenen als "unkanadisch, kontraproduktiv und vermutlich illegal". Er legte detailliert seine Bemühungen dar, die Regierung in Ottawa und die militärische Führung darüber zu informieren, daß Gefangene sexuell mißbraucht, geschlagen, gestochen, verbrannt und auf andere Weise gequält wurden. Man habe seine Warnungen jedoch ignoriert und ihm befohlen, seine Vorwürfe einzustellen.

Die Regierung bediente sich zunächst der nationalen Sicherheitsgesetze, um Colvin mundtot zu machen und seine Kooperation mit einer Kommission der Militärpolizei zu verhindern, die das Schicksal der überstellten Gefangenen aufklären sollte. Nach der Anhörung vor dem Parlamentsausschuß ging man dazu über, Colvins Glaubwürdigkeit auf eine so plumpe Weise in Zweifel zu ziehen, daß dieses Manöver augenblicklich auf seine Urheber zurückfiel. So behauptete Verteidigungsminister Peter MacKay, Colvins Angaben beruhten auf Hörensagen, Informationen aus zweiter oder dritter Hand, wenn sie nicht ohnehin direkt von den Taliban gekommen seien. Colvin sei nie Zeuge von Folter geworden, und afghanische Gefangene entbehrten jeder Glaubwürdigkeit, da es sich bei ihnen um Leute handle, die Schulkindern Säure ins Gesicht schütten und Busse in ihrem eigenen Land in die Luft sprengen.

Die konservative Regierung gab damals nur einen einzigen Fall im November 2007 zu, bei dem man den Transfer aus Sicherheitsgründen nicht vorgenommen habe. Hingegen räumte der Oberfehlshaber der kanadischen Streitkräfte, General Walter Natynczyk, ein, daß man mehrfach Gefangene nicht an die afghanische Regierung überstellt habe, weil man um ihre Sicherheit fürchtete. Der Verteidigungsminister beharrte Ende 2009 auf einer internationalen Sicherheitskonferenz in Halifax dennoch auf seiner ursprünglichen Version und behauptete, es gebe keinen Beweis, daß auch nur ein einziger gefangener Taliban nach Überstellung an die afghanischen Behörden gefoltert wurde. Diese Formulierung war aufschlußreich, ließ sie doch zwei mögliche Interpretationen zu. Beweise für die Folterpraktiken nicht an die Oberfläche öffentlicher oder gar justitiabler Wahrnehmung dringen zu lassen, ist eine davon.

Die Kontroverse löste damals eine schwere politischen Krise in Kanada aus. Unter Verweis auf die nationale Sicherheit weigerte sich die Regierung, Dokumente zu veröffentlichen, die Aufschluß über die Stichhaltigkeit der von Richard Colvin erhobenen Vorwürfe geben könnten. Die Opposition forderte eine öffentliche Untersuchung und drohte mit vorgezogenen Neuwahlen. Im Juni 2010 einigten sich Regierung und Opposition schließlich darauf, daß die Dokumente zunächst von ausgewählten Abgeordneten auf ihre Relevanz hin geprüft werden sollten. In einem zweiten Schritt würden sie dann an Experten weitergeleitet, die entschieden, welche Dokumente veröffentlicht werden könnten, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden.

Als Resultat dieses Verfahrens hat die kanadische Regierung nun 4.000 bislang geheime Dokumente veröffentlicht, in denen es um den Vorwurf geht, kanadische Soldaten hätten die Folter von Verdächtigen in Afghanistan durch heimische Sicherheitskräfte in Kauf genommen. Die Dokumente zeigten eindeutig, daß es keine glaubhaften Vorwürfe gegen die kanadischen Streitkräfte gibt, erklärte Peter MacKay. Zu jedem Zeitpunkt hätten die kanadischen Streitkräfte die Taliban-Gefangenen in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht behandelt. [1]

Offenbar setzt der Verteidigungsminister nach wie vor darauf, alles zu bestreiten, was angeblich nicht bewiesen werden kann. Die Opposition wies darauf hin, daß rund 36.000 möglicherweise relevante Dokumente noch nicht zugänglich gemacht worden seien, und kündigte an, sie werde das bereits veröffentlichte Material zunächst prüfen. Wenn MacKay sich darauf versteift, es gebe keine Beweise, obgleich erst ein Bruchteil der vorhandenen Dokumente vorliegt, läßt das auf ein systematisches Verfahren der Abschottung schließen. Der doppelte Filter von ausgewählten Parlamentariern und Sicherheitsexperten bei der Prüfung der Akten produziert mit hoher Wahrscheinlichkeit eben jenes unverfängliche Material, das die kanadische Regierung benötigt, um einen Unschuldsbeweis zu fabrizieren.

Wie das funktioniert, hatte Ottawa bereits im Januar 2008 vorexerziert. Damals schien Kanada seine Freundschaft zu den USA und Israel aufs Spiel zu setzen, als ein Regierungsdokument kursierte, das die beiden Länder in eine Reihe mit Folterstaaten stellte. Einem Bericht der Zeitung "Ottawa Citizen" zufolge handelte es sich bei dem Papier um eine Vorlage des Außenministeriums, mit der kanadische Diplomaten in der Foltererkennung geschult werden sollten. Das Dokument nannte in diesem Zusammenhang neben den USA und Israel die Länder China, Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien und Afghanistan.

Auslöser des Trainings war demnach der Fall des im Jahr 2002 auf Veranlassung der USA in Syrien inhaftierten Kanadiers Maher Arar. Dieser war in einem Gefängnis in Damaskus fast ein Jahr lang gefoltert worden, ohne daß kanadische Diplomaten vor Ort die Anzeichen für die Torturen, die er durchlitt, erkannten oder erkennen wollten. Im Rahmen der Schulung wurde ausdrücklich das US-Gefangenenlager Guantánamo als Ort möglicher Folter genannt. Unter der Überschrift "Definition von Folter" werden "US-Verhörtechniken" aufgeführt - unter anderem das Verbinden der Augen, Erniedrigung durch Nacktheit, Isolation und Schlafentzug.

Die Unterlagen waren der Menschenrechtsorganisation Amnesty International im Zusammenhang mit dem Fall eines kanadischen Gefangenen in Afghanistan zugegangen. Der US-Botschafter in Kanada, David Wilkins, nannte es im Fernsehsender CTV "beleidigend", sein Land auf einer solchen Liste zu nennen, und forderte die Streichung der USA. Der Zeitung zufolge wollte sich der kanadische Außenminister Maxime Bernier nicht zu dem Papier äußern. In einer Mitteilung seines Hauses hieß es jedoch, es handele sich nicht um ein politisches Dokument oder die Wiedergabe einer politischen Linie. [2]

Wenige Tage später reagierte Kanada auf Protest aus Washington und Jerusalem, indem die USA und Israel von der Liste mit Ländern, in denen Gefangenen Folter droht, gestrichen wurden. Bernier bedauerte, daß "fälschlicherweise einige unserer engsten Verbündeten" auf dieser Liste in einem Handbuch für Diplomaten geführt worden seien. Er habe eine Überarbeitung des Dokuments angeordnet. [3] Die Risse im Mantel des Schweigens zu flicken, gleich ob es die Verbündeten oder die eigene unmittelbare Beteiligung betrifft, ist noch immer das Mittel der Wahl wenn es gilt, die Option der Folter zur Erzwingung falscher Geständnisse, vor allem aber zur Etablierung eines Schreckensregimes grenzenloser Bedrohung unter dem Radar postulierter Rechtsstaatlichkeit und Humanität zu halten.

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/kanada_gefangene_folter_afghanistan_1.11023928.html

[2] http://www.focus.de/politik/ausland/folterliste_aid_234106.html

[3] http://www.n-tv.de/politik/Kanada-USA-foltern-doch-nicht-article288321.html

24. Juni 2011