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REPRESSION/1429: Boykottgesetz in Israel heftig umstritten (SB)



Wirft man die Frage auf, wie die ungebremste Verschiebung von Politik und Gesellschaft ins rechte Lager in Israel selbst wahrgenommen und bewertet wird, erhält man angesichts der aktuellen Kontroverse um das jüngst verabschiedete Boykottgesetz einen aufschlußreichen Einblick. Bedenken, daß mit diesem Schritt eine weitreichende Demontage ohnehin fragiler demokratischer Grundprinzipien betrieben werde, reichten bis hinein ins Kabinett und konservative säkulare Kreise. Daher muß man davon ausgehen, daß diese Entwicklung nicht nur sehenden Auges, sondern mit Einverständnis weiter Teile der Mehrheitsbevölkerung vorangetrieben wird, was wiederum auch im Zusammenhang der Einschätzung aus deutscher Sicht zu denken geben sollte.

Die israelische Regierung hat in jüngerer Zeit eine ganze Reihe von Vorstößen unternommen, Kritik an ihrer Politik als "anti-israelisch" zu diskreditieren und zu sanktionieren. Ein ganzes Bündel geplanter oder bereits verabschiedeter Gesetzesentwürfe hebelt demokratische Grundprinzipien aus und stellt die Gleichberechtigung von Minderheiten im Land offen in Frage. Auf dieser Linie liegen der Treueschwur auf den demokratischen und jüdischen Staat Israel für neue Staatsbürger, das "Naqba"-Gesetz, welches das Gedenken an die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser unterbinden soll, und die Verhinderung von Auslandsspenden für israelische Nichtregierungsorganisationen, die regierungskritischen Gruppen Gelder entziehen soll.

Nun hat die Knesset ein Gesetz beschlossen, das es erlaubt, den Aufruf zum Boykott von israelischen Produkten oder Dienstleistungen sowie von Institutionen, Organisationen oder Kommunen mit einer Klage auf Schadenersatz zu überziehen, ohne daß die Kläger den entstandenen Schaden beziffern müssen. Überdies sollen Personen und Unternehmen, die sich an einem solchen Boykott beteiligen, künftig von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden. Fortan müssen AktivistInnen, die sich für den Boykott von Waren aus jüdischen Siedlungen im Westjordanland einsetzen, mit Strafen von umgerechnet bis zu 10.000 Euro rechnen. Wenngleich auch Ausländer, die im Ausland zum Boykott aufrufen, dafür in Israel verklagt werden können, richtet sich das neue Gesetz doch in erster Linie gegen Israelis und Palästinenser.

Die israelische Linke hatte im vergangenen Jahr mehrere Boykottaktionen durchgeführt, die einen beträchtlichen Widerhall in den Medien hervorriefen. So weigerten sich Künstler und Theatergruppen, in einem neueröffneten Kulturzentrum in der Großsiedlung Ariel aufzutreten. Dies führte zu einer hitzigen Kontroverse um die Frage, ob staatlich geförderte Ensemble Siedlungen boykottieren dürfen. Zahlreiche Akademiker, Intellektuelle und Schriftsteller schlossen sich dem Boykott an und erklärten, nicht in Siedlungen lehren zu wollen. Käme es erneut zum Boykott einer Veranstaltung in einer jüdischen Siedlung, drohte den Künstlern nicht nur eine Klage seitens der Siedlung, sondern auch der Ausschluß von einer Beschäftigung bei Sendern oder Theatern wie auch von der Kulturförderung.

Die beiden Abgeordneten von Likud und Jisrael Beiteinu, die den Entwurf eingebracht hatten, begründeten die Vorlage damit, daß man einer Bevölkerungsgruppe, mit der man nicht übereinstimmt, trotzdem nicht schaden dürfe. Wie man sich denken kann, war dabei nicht von den Palästinensern die Rede. Die Parlamentarier erklärten vielmehr, den Versuchen, Israel zu delegitimieren, müsse Einhalt geboten werden. Wie prekär der Entwurf eingeschätzt wurde, unterstreicht der Umstand, daß selbst der juristische Berater des Parlaments zuvor Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes vorgebracht hatte. Dessen ungeachtet stimmten nach einer stundenlangen heftigen Debatte in der Knesset 47 Abgeordnete für die Regelung, 38 waren dagegen. Auch in Regierungskreisen herrschte keineswegs Einigkeit: Nicht weniger als sieben Minister enthielten sich der Stimme und Premierminister Netanjahu blieb der Abstimmung ebenso fern wie der Parlamentssprecher Reuven Rivlin, Verteidigungsminister Ehud Barak und selbst Außenminister Avigdor Lieberman. [1]

Zu den Befürwortern des Gesetzes gehörte Wissenschaftsminister Daniel Hershkowitz, für den der Boykott eine Aktion gegen Israel ist. Wenn Israel gegen solche Aktionen vorgehe, sei dies ein Akt der Selbstverteidigung. Der ultrarechte Abgeordnete Aryeh Eldad sprach gar von "einem großen demokratischen Sieg über die Feinde zu Hause und im Ausland sowie über die Araber und deren Verbündete in der anti-israelischen Linken".

Kritiker des Gesetzes sparten nicht mit harschen Worten, die unterstreichen mögen, daß weiten Kreisen in Politik und Medien die Brisanz dieses neuerlichen Rechtsrucks voll und ganz bewußt ist. Ben Caspit, ein prominenter Kolumnist des rechtslastigen Massenblatts Maariv, geißelte das Gesetz als "Faschismus in seiner schlimmsten Form". "Hier werden Leute unverhohlen mundtot gemacht. Das ist Gedankenpolizei", schrieb er unter Anspielung auf George Orwells "1984". In anderen Zeitungen war von einem undemokratischen Maulkorbgesetz die Rede, welches das Grundrecht der Meinungsfreiheit verletze. Avirama Golan von der liberalen Haaretz sprach von einem verfassungswidrigen Gesetz, dessen Ziel "das Auslöschen einer politischen Debatte" sei. [2]

Der Rechtswissenschaftler Michael Karayanni machte ein Demokratiedefizit in Israel aus. Etwas zu boykottieren oder dazu aufzurufen gehört für ihn zum Bürgerrecht auf Protest, der ein integraler Bestandteil jeder Demokratie sei. Zudem seien andere Boykottaufrufe wie etwa jener ultra-orthodoxen Gruppen gegen Geschäfte, die Schweinefleisch verkaufen, weiterhin erlaubt. [3]

"Nichts delegitimiert Israel besser als dieses Gesetz", erklärte Ilan Gilon, Abgeordneter der linksliberalen Meretz. "Es schadet dem öffentlichen Diskurs, es schadet der Demokratie, es schadet unserem Ansehen, es schadet dem Friedensprozess: Die Rechte versucht, alle zu ihrer Meinung zu zwingen." [4] Der Rechtsprofessor und frühere Justizminister Amnon Rubinstein sprach von einem schwarzen Tag. Das neue Gesetz könne dem Ansehen Israels großen Schaden zufügen: "Die Feinde Israels werden diesen Text nutzen, um zu behaupten, dass Israel keine Demokratie ist und die Menschenrechte nicht achtet", sagte er im israelischen Radio.

Ein Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde erklärte dazu, das Gesetz mache eine neue Verhandlungsrunde unmöglich. Es handle sich um einen "weiteren Versuch, zu verschleiern, dass die Siedlungen nicht Teil Israels sind". Die Bürgerrechtsbewegung "Frieden jetzt" kündigte an, sie habe nicht die Absicht, sich an das Gesetz zu halten. Man werde im Gegenteil eine Kampagne dagegen ins Leben rufen, da jeder, der Produkte der Siedlungen kauft, zum Fortbestand der Besetzung des Westjordanlands beiträgt. Andere Menschenrechtsgruppen wiesen darauf hin, daß Boykotte ein gewaltfreies und legitimes Mittel seien. Verschiedene Organisationen wollen sich an den Obersten Gerichtshof wenden, der prüfen soll, ob das neue Gesetz mit der Verfassung im Einklang steht.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,774018,00.html

[2] http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/677371/Israel-bestraft-Boykott-gegen-Siedlungen?_vl_backlink=/home/politik/index.do

[3] http://de.euronews.net/2011/07/12/israelisches-gesetz-festigt-siedlungspolitik/

[4] http://www.neues-deutschland.de/artikel/201964.bei-boykott-droht-strafe.html

14. Juli 2011