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REPRESSION/1508: Dystopie Überwachungsstaat - Die Zukunft der Mangelverwaltung (SB)




Was als NSA-Spähaffäre oder Abhöraffäre Schlagzeilen macht, hat sich längst zu einer tiefgreifenden Krise der Legitimation demokratisch konstituierter Staatlichkeit entwickelt. Wenn die Bevölkerungen desjenigen Teils der Welt, der seine globale Definitionsmacht nicht zuletzt aus dem Anspruch ableitet, über einen universalen, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie garantierenden Wertekodex zu verfügen, in der Gewißheit leben müssen, überall und zu jeder Zeit von Dritten ausgeforscht zu werden, wäre entschiedener Widerstand erste Bürgerpflicht. Obwohl dies aus jenem Wertekodex hervorgeht, ist das Gegenteil der Fall. Die Verfügungsgewalt der internationalen Geheimexekutive und informationstechnisch hochgerüsteten Konzerne hat das demokratisch verfaßte Gemeinwesen ebenso mit Monopolmacht überformt, wie die Konzentration des Kapitals das Gros der Menschen dazu verurteilt, welche Arbeit auch immer zu verrichten, wenn sie nur Lohn einbringt, oder auf die kargen Transferleistungen des ohnehin ausgehöhlten Sozialstaats angewiesen zu sein.

Da sich in beiden Fällen keine parlamentarische Perspektive auf Veränderung abzeichnet und der außerparlamentarische Widerstand mit anwachsender Gewalt unterdrückt wird, scheint der schleichende Übergang zum zentralistisch administrierten Sicherheitsregime kaum mehr aufzuhalten zu sein. Angesichts des dröhnenden Schweigens, das diese Entwicklung begleitet, könnte man auch von einem Akt finaler Selbstentmündigung zugunsten eines Technokratenregimes sprechen, das, wie bereits im Rahmen der Eurokrise installiert, wesentliche Entscheidungen hinter geschlossenen Türen trifft. Um zur zentralen Frage, wer über wen herrscht, nicht vorzustoßen, wird anhand transatlantischer Differenzen ordentlich Schaum geschlagen.

Doch kann die Verstimmung der Bundesregierung über das Abhören der Bundeskanzlerin den Eindruck, es beim informationstechnisch hochgerüsteten Überwachungsstaat mit einem kollaborativen Interesse aller Regierungen zu tun zu haben, nicht widerlegen. Hielt man sich bislang aus Gründen der Schadensbegrenzung bedeckt, so inszeniert man nun einen Sturm im Wasserglas, der die tiefen hegemonialen Verschränkungen zwischen USA und EU zwar auf eine Belastungsprobe stellt, den Kern des gegenseitigen Interesses, die Notwendigkeit handlungsfähiger Bündnisse gegen Dritte, seien es die eigenen Bevölkerungen oder die zu Weltmarktkonkurrenten heranwachsenden BRICS-Staaten, eher stärken denn schwächen wird. Dabei erzeugt die Infragestellung staatlicher Souveränität, die in Hinsicht auf den Anspruch an die Durchsetzung imperialistischer Staatsziele schwerer wiegt als eine bloße Sicherheitslücke, nur sehr bedingt Rückenwind für das bürgerrechtliche Anliegen, auf dem Weg in die Totalüberwachung eine Kehrtwende zu machen.

So appelliert das Schwadronieren über enttäuschtes Vertrauen und mißbrauchte Freundschaft, mit der internationale Politik als eine Art Seifenoper auf Regierungsebene inszeniert wird, an eine nationalistische Restauration, die für demokratische Freiheiten nur kontraproduktiv sein kann. Die Frage, wer in diesem Land das Heft in der Hand hat, geht dabei ebenso unter wie die Erkenntnis, daß die Bruchlinien des ökonomischen Gewaltverhältnisses nicht parallel zu Staatsgrenzen, sondern quer durch die Klassenverhältnisse verlaufen. So mündet die sogenannte NSA-Affäre in den typischerweise mit Kriegszeiten assoziierten Effekt, daß die Bevölkerung sich um die eigene Flagge schart. So bringt die Zahnlosigkeit ihres Protestes gegen die eigene Ausforschung denn auch die Bereitschaft hervor, auch in Zukunft für die Nachrichtendienste und Marktforscher welcher Couleur auch immer zur Verfügung zu stehen.

Da alle Regierungen die informationstechnische Bewirtschaftung ihrer Bevölkerungen entwickeln, soll jegliche Form von starker Gesetzgebung gegen und demokratischer Kontrolle über das Wissenskartell, das sich dabei auf staatlicher und privatwirtschaftlicher Ebene formiert, unterbleiben. In Sicht auf die unterstellte Bedrohung ist eine Terrorismusabwehr, die in krassem Mißverhältnis zu den akzeptierten Bedrohungen zahlloser Menschenleben steht, ohnehin irrelevant. Sie erhält ihre Bedeutung in der Unterdrückung sozialer Kämpfe, doch diese Stoßrichtung staatlicher Aufrüstung wird aus naheliegenden Gründen eher beiläufig erwähnt. Die Abwehr von Wirtschaftsspionage ist nur relevant, so weit Industrie- und Dienstleistungskonzerne an nationale Grenzen gebunden sind, was vor allem mittlere und kleine Unternehmen betrifft. Auf politischer Ebene ist man vor allem damit befaßt, die Schraube der Ausbeutung weiter anzuziehen, wie die monatelang ungerührt von der NSA-Affäre voranschreitenden Vorbereitungen für das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) belegen.

Die wesentlichen Nutzeffekte flächendeckender Datenerhebung und -evaluation liegen eben dort, wo der zentrale gesellschaftliche Konflikt nicht ausgetragen wird, im Zugriff auf die Schalthebel administrativer und ökonomischer Macht. Hier soll, wie etwa die individuelle Identifikation von Kriminalitätsrisiken zugunsten der von interessierter Seite vorangetriebenen prädiktiven Strafverfolgung belegt, die Krise kapitalistischer Herrschaft in die optimierte Steuerung der Gesellschaft überführt werden. Wo die erhoffte Reichtumsproduktion ausbleibt und der anwachsende Mangel verwaltet sein will, ist ein Krisenmanagement gefragt, daß von demokratischen und partizipatorischen Ansprüchen nur gestört werden kann.

Das beginnt mit der datentechnischen Durchleuchtung der Empfängerinnen und Empfänger von Sozialtransfers zwecks Kostensenkung, betrifft die Verdichtung der Arbeitsintensität zur Mobilisierung noch unerschlossener Quellen der Mehrwertproduktion, setzt sich fort in der Disziplinierung der Lebensweise durch gesundheitspolitisch induzierte Konsumeinschränkungen und hört mit grünkapitalistisch begründeten Verhaltensauflagen noch lange nicht auf. Was sich durch Erhebung und Evaluation großer Datenmengen an gesellschaftlichen Rationalisierungseffekten erzielen läßt, schlägt jedes Argument humanistischer Bedenkenträger in den Wind einer sozialdarwinistischen Verteilungsratio, die desto mehr hegemonial wird, je tiefer die Krise des Kapitals die gesellschaftliche Reproduktion erschüttert.

Diese Entwicklung erfolgt im Sinne einer Mangelverwaltung, die den immer weniger auf durch Arbeit erzeugten Wert in den Unwert eines Lebens ummünzt, das sich nach Maßgabe gesamtgesellschaftlicher Rentabilität nicht mehr produktiv erhalten läßt. Wo ein Sarrazin unter großem Beifall über unproduktive Ausländer lästerte, meinte er natürlich auch den einheimischen Hartz-IV-Empfänger, der mit anhaltender Dauer der Erwerbslosigkeit kaum mehr vermittlungsfähig ist und versorgungstechnisch auf niedrigste Sparflamme gesetzt werden soll. Wo ein Mißfelder alten Menschen das neue Hüftgelenk mißgönnte, zeichnet sich eine Rationalisierung des Gesundheitswesens ab, die die in anderen Ländern längst aufgemachte Rechnung, ob sich ein Leben jenseits der 70 überhaupt noch lohne, auch für die Bundesrepublik akzeptabel macht.

Der Horizont des Interesses an einer Erfassung und Auswertung von Daten, die in der Post-Privacy-Ideologie bereits ihre Kapitulationsurkunde gefunden hat, kann gar nicht weit genug ausgeleuchtet werden, um mit der Innovationskraft des administrativ-informationstechnischen Komplexes im bürgerrechtlichen wie herrschaftskritischen Sinne auch nur annähernd Schritt zu halten. Die Reorganisation herrschender Verfügungsverhältnisse bis in die kleinste Zelle des sozioökonomischen Stoffwechsels, das in der Marktkonkurrenz atomisierte Individuum, zielt auf eine Rationalisierung der Gesellschaft, die alle Autonomie beseitigt, weil sie sich in den Input-Output-Bilanzierungen persönlicher Legitimationsnot nicht abbilden läßt. Der Angriff auf die verbliebenen Terrains menschlicher Eigenständigkeit und kollektiver Selbstorganisation ist total, nicht weil er sich aus dem Zwang zur Wiederholung massenmörderischer Regimes speiste, sondern weil die Einbindung informationstechnischer Systeme in die kapitalistische Verwertungslogik den Organisationsgrad und die Effizienzsteigerung der Produktivkräfte in nie gekannte Höhen treibt.

Wo der Mensch seine Bereitschaft und Fähigkeit, zum großen Ganzen gewinnbringend beizutragen, täglich neu unter Beweis stellen muß, wenn er nicht Gefahr laufen will, das Anrecht auf angemessene Versorgung Stück für Stück zu verlieren, da wächst seine Bereitschaft, sich der Definition und Bemessung eines unterstellten, ihn zum Objekt fremder Interessen machenden Lebenswerts zu fügen. Die Qualifikation der Herrschaft in der Mangelordnung verschärft nicht nur die Teilbarkeit des Menschen, sie setzt sie voraus. Das strikte biopolitische Regime der Fremd- wie Selbstevaluation verwandelt die Not des Mangels durch die Sanktionierung der Abweichung in positive Verhaltens- und Verbrauchsnormen, die desto weniger in Frage gestellt werden, als sie anderen zum Nachteil gereichen. Daß der daraus vermeintlich resultierende Überlebensvorteil nur das geringere Maß dessen ist, was allen gemeinsam genommen wurde und wird, kann der einzelne nur in einer Solidarität realisieren, die die Normierung und Bewertung des eigenen Lebens von Grund auf als Angriff auf die eigene Freiheit verwirft und bekämpft.

Dies zu verhindern, ist eine Absicht der Negation des Anspruchs, über die eigene Rentabilität hinaus uneingeschränkt von Legitimationszwängen versorgt zu werden, und seine Umwandlung in den Zwang zur Verrichtung jeglicher Arbeit. Euphemismen wie "Workfare" oder "Fördern und Fordern" sollen bemänteln, daß der Druck dieser Gewalt mit der sozialdarwinistischen Antwort auf die Verteilungsfrage in eins fällt. Die Überlebenskonkurrenz wird forciert und erzeugt Zustimmung zur informationstechnischen Selektion, wie anwachsender Sozialneid und Fremdenhaß belegen. Daß diejenigen, die dem anderen nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnen und die lebensrettende Aufnahme von Flüchtlingen als persönliche Benachteiligung empfinden, um so bereitwilliger in die selbstgestellte Falle todbringender Überlebenskonkurrenz gehen, illustriert die Kurzsichtigkeit, mit der die Etablierung unumkehrbarer Gewaltverhältnisse von den davon Betroffenen vorangetrieben wird, aufs schmerzlichste.

3. November 2013