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REPRESSION/1534: Sanktionen tabu - Unser Despot am Bosporus (SB)



Die Türkei ist als Mitglied der NATO, geostrategischer Brückenstaat, Wirtschaftspartner, Bollwerk der Flüchtlingsabwehr und Pufferzone am Rande des Kriegsgebiets viel zu wichtig und nützlich für die Bundesregierung und die EU, als daß man dem Regime Recep Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung ernsthaft in die Parade fahren würde. Je offener die diktatorischen Ambitionen des türkischen Präsidenten und die ungezügelte Repression gegen jegliche Opposition zur Sprache kommen, um so energischer tritt man auf die Bremse, wenn Sanktionen gefordert werden. Daß dazu eine ebenso absurde wie entlarvende Argumentation ins Feld geführt werden muß, liegt auf der Hand.

Erstes Argument: Man darf keine Druckmittel anwenden, weil man damit die Druckmittel aus der Hand gibt. Als die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk [1] erklärt, es wäre eine absolute moralische Bankrotterklärung der EU, hielte sie an den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fest, muß sie sich der Frage erwehren, ob nicht der Dialog der bessere Weg sei, da man das Land andernfalls in die Isolation triebe. Dagdelen läßt sich davon nicht beirren und verweist darauf, daß die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei sehr viel mehr als nur ein Dialog sei, denke man beispielsweise an die deutlich wachsenden deutschen Rüstungsexporte in dieses Land. Es herrsche in vielerlei Hinsicht eine enge Partnerschaft mit dieser Diktatur, wie sie die Türkei unter Erdogan sei. Geltende EU-Gesetze sähen als Voraussetzung für Beitrittsverhandlungen Verbesserungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vor. Das krasse Gegenteil sei der Fall, wie die EU-Kommission in ihrem aktuellen Fortschrittsbericht feststelle.

Zweites Argument: Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen ist gar kein Druckmittel. So erklärt Ruth Berschens vom Handelsblatt [2], die EU würde Erdogan damit in die Hände spielen, der ihr eine Falle gestellt habe und nur darauf warte, daß ihm von den Europäern endlich der Stuhl vor die Tür gesetzt wird. Dann könnte er ihnen die Schuld in die Schuhe schieben und käme vor seinen Landsleuten nicht in Erklärungsnöte. Auch Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik [3], hält nichts von dieser Option, da die Beitrittsverhandlungen de facto seit sechs Jahren auf Eis lägen und die EU damit ihren stärksten Trumpf aus der Hand gegeben habe.

Drittes Argument: Wirtschaftssanktionen sind theoretisch wirksamer, aber praktisch ein zweischneidiges Schwert. Wie Seufert laviert, habe sich die EU sehr schwer damit getan, solche Sanktionen gegen Rußland zu beschließen. Zudem diskutiere man kritisch darüber, ob sie überhaupt einen Effekt haben. Vor allem aber gelte es zu bedenken, in welchem Maße man sich dabei auch ins eigene Fleisch schneide. Seufert, der immerhin Rußland als Beispiel dessen nennt, wovon man bei der Türkei lieber die Finger lassen solle, läßt natürlich alle früheren Fälle unerwähnt, in denen die europäischen Führungsmächte keine Probleme mit massiven Sanktionen bis hin zu Angriffskriegen im Namen der Menschenrechte hatten.

Wollte man demgegenüber ernsthaft in Erwägung ziehen, Druck auf die türkische Regierung auszuüben, ließen sich diverse Mittel nennen. So hat die Türkei zwischen 2007 und 2013 von der EU 4,8 Milliarden Euro an Vorbeitrittshilfen erhalten, die gestoppt werden könnten. Denkbar wäre auch eine Beendigung der Gespräche über die Erweiterung der seit 1995 bestehenden Zollunion zwischen der EU und Türkei, die zu einem zollfreien Austausch von Industrieprodukten führte. Erdogan möchte gerne auch Agrarprodukte und Dienstleistungen einbeziehen, worüber seit 2015 verhandelt wird. Da die wirtschaftliche Situation des Landes spätestens seit dem Putschversuch und der daraus resultierenden Repressionswelle prekär ist, braucht die AKP-Regierung dringender denn je einen ökonomischen Aufschwung, um die während ihrer Regierungszeit entstandene neue Mittelschicht bei Laune zu halten und ihren politischen Rückhalt nicht zu verlieren.

Wie eng die Kollaboration der Bundesregierung mit Ankara trotz aller verbalen Schelte verschränkt ist, wird insbesondere auf dem Feld der "Terror"bekämpfung deutlich. Als Frank-Walter Steinmeier mit dem jüngsten Türkeibesuch seinem Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu reichlich Gelegenheit bot, Breitseiten von Vorwürfen gegen Berlin und Brüssel abzufeuern, vergaß der deutsche Außenminister nicht, eines zu unterstreichen. Die Behauptung, Deutschland sei ein Hort für Tausende Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, konterte Steinmeier zum Abschluß der gemeinsamen Pressekonferenz mit den Worten: "Verehrter Kollege, lieber Mevlüt, lass mich nochmal klarstellen, damit kein Missverständnis im Raume bleibt: Wir verurteilen jede Form von Terrorismus. Die von IS genauso wie Terrorismus der PKK." [4]

Als Erdogan am folgenden Tag seinerseits mit dem Vorwurf nachlegte, die deutschen Behörden gingen nicht ausreichend gegen die PKK vor, versicherte Bundesinnenminister Thomas de Maizière: "Für uns ist jeder Terrorismus - ganz gleich mit welchem Motiv - etwas, das wir in Deutschland bekämpfen." Man sei "offen und bereit" für Kooperationen mit der Türkei. [5] Tatsächlich geht kein anderes Land der Europäischen Union so repressiv gegen die PKK vor wie die Bundesrepublik. In Brüssel wurde kürzlich ein Prozeß mit der Begründung eingestellt, die Angeklagten hätten zwar womöglich mit der PKK gekämpft, doch in der Türkei herrsche Krieg, in dem beide Seiten zur Waffe griffen. Hingegen wurden auf Antrag der Bundesanwaltschaft Kurden aus Frankreich und Dänemark ausgeliefert, damit ihnen in Deutschland der Prozeß gemacht werden kann. Nach Paragraf 129b können "terroristische Vereinigungen" verfolgt werden, die im Ausland aktiv sind. Konkrete Taten müssen Angeklagten nicht nachgewiesen werden, es genügt die Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation.

Seit dem PKK-Verbot im Jahr 1993 sind in Deutschland 93 Männer und Frauen verurteilt worden. Dazu kommen Tausende Verfahren in den Bundesländern, oft laufen Hunderte in einem Jahr. Für die bloße Mitgliedschaft in einer als PKK-Struktur verdächtigten Gruppe können hohe Strafen verhängt werden, führende Aktivisten wurden von deutschen Gerichten zuletzt zu sieben Jahren Haft verurteilt. Dafür reicht es aus, Spenden zu sammeln oder für die PKK zu werben. In Berlin erhielten kürzlich Demonstranten Strafbefehle über mehrere tausend Euro, weil sie Parolen wie "Es lebe die PKK!" gerufen haben sollen. Als eifrige Erfüllungsgehilfen türkischer Staatsinteressen haben deutsche Behörden des öfteren linke Kurdenvereine durchsucht, Unterlagen beschlagnahmt, Einrichtungen zuweilen als PKK-nah verboten. In Stuttgart beginnt gerade der Prozeß gegen einen 46jährigen Kurden, der Aktivitäten der PKK geleitet haben soll. Erst im Oktober war dort ein Mann unter einer ähnlichen Vorwurfslage zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Berücksichtigt man, daß die PKK bereits in den neunziger Jahren jegliche militanten Aktionen in Deutschland eingestellt und der operative PKK-Chef, Cemil Bayik, 2015 für derartige Aktivitäten in der Vergangenheit ausdrücklich um Entschuldigung gebeten hat, wird deutlich, in welchem Maße deutsche Politik und Justiz die Verfolgung von Linken in der Türkei auch im eigenen Interesse betreiben. Derzeit wird in München zehn Türkinnen und Türken der Prozeß gemacht, die für die maoistische TKP/ML Mitglieder rekrutiert und Geld gesammelt haben sollen. Die Männer und Frauen befinden sich unter scharfen Sicherheitsvorkehrungen in Untersuchungshaft. Dabei ist die TKP/ML nur in der Türkei verboten, während sie auf internationalen Terrorlisten nicht geführt wird. Andererseits dürfen sich die Grauen Wölfe, deren rechtsextreme Position und Militanz kein Geheimnis ist, in Deutschland ungehindert in Vereinen organisieren.

Erdogan hat den kurdischen "Terroristen" im eigenen Land wie auch in Syrien den Krieg erklärt, was er keineswegs symbolisch versteht. Wie die Angriffe auf kurdische Städte im Südosten der Türkei wie auch die Selbstverteidigungskräfte in Nordsyrien zeigen, ist der Despot fest entschlossen, den kurdischen Widerstand physisch zu vernichten, die kurdischen Lebenszusammenhänge und Gesellschaftsentwürfe zu zerschlagen, Hunderttausende zu Flüchtlingen zu machen und in letzter Konsequenz die kurdische Kultur und Identität auszulöschen. Für diese Form finaler Repression gibt es Begriffe, die Vertretern der Bundesregierung in anderen Fällen leicht von der Zunge gehen. Nicht so im Falle Recep Tayyip Erdogans, der sich inmitten heftigster Kontroversen mit Berlin und Brüssel nach wie vor der Rückendeckung in substantiellen Kampfzonen sicher sein kann. Führt er die deutsche Politik am Nasenring vor, wie vielfach empört kolportiert wird? Das kann nur behaupten, wer die Kräfteverhältnisse ebenso ignoriert wie den eigenständigen Führungsanspruch Berlins nicht zuletzt in der Weltregion, die Ankara als Einflußbereich für sich reklamiert.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/beitrittsgespraeche-mit-der-tuerkei-die-roten-linien-sind.694.de.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/eu-und-tuerkei-erdogans-wunder-punkt.720.de.html

[3] http://www.deutschlandfunk.de/eiszeit-zwischen-eu-und-tuerkei-europa-hat-kein-druckmittel.694.de.html

[4] http://www.deutschlandfunk.de/steinmeier-in-ankara-schwere-vorwuerfe-vom-tuerkischen.1766.de.html

[5] http://www.tagesspiegel.de/politik/verfolgung-der-pkk-in-deutschland-de-maiziere-will-mit-der-tuerkei-kooperieren/14852582.html

17. November 2016


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