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REPRESSION/1548: Wie weit reicht Erdogans langer Arm? (SB)



Im Zuge ihrer Machtergreifung treiben Recep Tayyip Erdogan und die AKP-Regierung den Umbau von Staat und Gesellschaft zu einem Regime im permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand unter einer islamisch-nationalistischen Ideologisierung aller Lebensbereiche in rasantem Tempo voran. Ein Ende der unablässigen Repressionswellen ist nicht abzusehen, da der Marschtritt weder eine Pause noch eine Grenze des expansiven Übergriff duldet. Weder will die Führung in Ankara der unterdrückten Opposition eine Atempause gewähren, in der sie sich zusammenschließen und Widerstand organisieren könnte, noch gestattet es der Absturz der türkischen Ökonomie, zur Normalität düsterster wirtschaftlicher Prognosen und dramatisch verfallender sozialer Verhältnisse zurückzukehren. Der Mythos, Erdogan verleihe dem gedemütigten Volk neue Würde und beschenke es mit wachsendem Wohlstand, dem beträchtliche Teile der Bevölkerung enthusiastisch Glauben schenken, zerbräche an der Realität fortgesetzter Ausbeutung und Verfügung durch neuformierte Eliten.

Woche für Woche verliert die türkische Lira an Wert, die Banken sitzen auf milliardenschweren faulen Krediten und ausländische Investoren ziehen samt ihrem Geld aus der Türkei ab. Bedeutsame Wirtschaftszweige wie der Tourismus sind dramatisch eingebrochen, die Umschichtung der Kapitalfraktionen und massenhaften Säuberungen in diversen relevanten gesellschaftlichen Sphären erschüttern den über Jahrzehnte gewachsenen Zusammenhalt des Systems und seine funktionalen Kompetenzen.

So haben die Behörden in der letzten Woche Haftbefehle gegen 380 Unternehmer erlassen, denen wie üblich Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen werden. Zeitgleich wurden Anordnungen zur Durchsuchung der Privat- und Geschäftsräume der Beschuldigten erteilt. Nach Angaben des Medienkonzerns Dogan wurden auch dessen Chefjustitiar und ein früherer Vorstandschef festgenommen. Dogan besitzt die Tageszeitung Hürriyet und den Fernsehsender CNN Turk, außerdem hält die Holding unter anderem Beteiligungen an Finanz-, Energie- und Tourismusunternehmen. Medienberichten zufolge haben die Behörden außerdem Haftbefehle gegen 105 Ehefrauen hochrangiger Militärs erlassen. Den Frauen werde vorgeworfen, Kontakt zu führenden Mitgliedern der Putschisten gehabt und sie finanziell unterstützt zu haben. [1]

Nach dem Anschlag in der Silvesternacht in Istanbul, bei dem 39 Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt wurden, herrschten Ausflüchte, Verdächtigungen, ja sogar Schadenfreude in regimenahen Medien vor. Erdogan nahm an keiner Beerdigung der Opfer teil, seit langem machen konservative Fraktionen Front gegen das ihrer Ansicht nach "unislamische" Feiern der Jahreswende. Viele westlich orientierte Türkinnen und Türken sehen in dem Überfall auf die Silvesterfeier eine Konsequenz aus dieser Hetze. Säkulare und liberale Kreise werden zunehmend isoliert und bedroht, der Abbau der letzten Reste demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Wenige Tage später folgte ein Anschlag in der Ägäis-Metropole Izmir, der nächste ist nur eine Frage kurzer Zeit. [2]

Seit Beginn des Ausnahmezustands am 21. Juli wurden Zehntausende zivile Staatsbedienstete und Angehörige der Sicherheitskräfte entlassen, Tausende weitere suspendiert, nur ein Bruchteil davon wurde später wieder eingestellt. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu sitzen im Zusammenhang mit dem Putschversuch mehr als 41.000 Verdächtige in Untersuchungshaft. Nun hat das türkische Parlament den Ausnahmezustand bis zum 19. April verlängert, der es Erdogan erlaubt, weitgehend per Dekret zu regieren. Die Dekrete haben Gesetzeskraft und gelten ab ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt, das Parlament muß sie lediglich nachträglich bestätigen. Da die AKP zusammen mit den rechtsradikalen Nationalisten die parlamentarische Opposition ausgeschaltet hat, sind die formaldemokratischen Institutionen zu bloßen Apparaten des Regimes verkommen. Die von Erdogan angestrebte Präsidialdiktatur würde es ihm erlauben, zeitlich unbeschränkt per Dekret zu regieren und damit den Ausnahmezustand auch ohne dessen offizielle Verhängung zum Dauerzustand zu machen.

Per Notstandsdekret wurden noch vor dem Wochenende die Befugnisse der Polizei für Ermittlungen bei Straftaten im Internet ausgeweitet und 83 Vereinigungen geschlossen. Zudem wurden weitere 8400 Staatsbedienstete entlassen, darunter 2687 Polizisten, 1699 Mitarbeiter des Justizministeriums und 841 Angehörige der Streitkräfte oder des Verteidigungsministeriums. Außerdem verloren 631 Akademiker und 155 Verwaltungsangestellte an Universitäten ihren Job. Unter den zahlreichen weiteren von Entlassungen betroffenen Behörden sind auch die Religionsbehörde und das Presseamt.

Die von den Ministerien und Behörden entlassenen Staatsbediensteten wurden in Anhängen zu dem Dekret erneut mit ihrem Namen und Dienstort benannt. Damit werden die Betroffenen öffentlich an den Pranger gestellt, ohne jemals von einem Gericht verurteilt worden zu sein, was man mit einem Aufruf zum Pogrom seitens der AKP-Regierung gleichsetzen kann. [3]

Nach dem Putschversuch flohen viele Menschen ins Ausland, andere kehrten trotz Aufforderung der Regierung nicht zurück. Erdogans jüngstes Notstandsdekret macht es möglich, Verdächtigen im Ausland unter bestimmten Bedingungen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Das Kabinett kann Türkinnen und Türken im Ausland, die bestimmter schwerer Straftaten beschuldigt werden und trotz Aufforderung nicht innerhalb von drei Monaten zurückkehren, die Staatsbürgerschaft aberkennen. Zu diesen Straftaten zählen unter anderem Putschversuche wie der im vergangenen Juli oder die Gründung bewaffneter Organisationen. Da von Rechtsstaatlichkeit und unabhängiger Justiz in der Türkei weniger denn je die Rede sein kann, erlaubt diese Vorwurfslage der Regierung, willkürlich jegliche Opposition zu verfolgen und zu eliminieren. [4]

Wie weit Erdogans langer Arm greift, zeigt zudem die aktuell aufgebrochene Kontroverse um die "Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion" (DITIB) in Deutschland. Bei der letzten türkischen Parlamentswahl im November 2015 wählten 60 Prozent der Deutschtürken die AKP, in der Türkei selbst hingegen nur 49,5 Prozent. In der Schweiz, wo der Einfluß Ankaras geringer ist, wählten nur 27 Prozent die AKP, aber 50,52 Prozent die Erdogan-kritische HDP. Da die Stimmen aus Deutschland angesichts ihrer Größenordnung für das Regime von beträchtlicher Bedeutung sind, liegt eine Einflußnahme nahe.

Über den Islamverband DITIB, dessen Verbindung in die türkische Staatsspitze jetzt erstmals nachgewiesen wurde, bestimmt der türkische Staat mit, welche Inhalte in deutschen Schulen gelehrt und welche Botschaften in den Moscheen gepredigt werden. DITIB ist ein 1984 nach deutschem Vereinsrecht in Köln gegründeter Dachverband, dem rund 900 Gemeinden im Bundesgebiet unterstehen, denen ein Großteil der in Deutschland lebenden fast drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln angehören. Zudem haben einige Bundesländer mit der DITIB Staatsverträge geschlossen und kooperieren mit ihr bei der Gestaltung des Islamunterrichts.

In der Vergangenheit hatte DITIB unter Verweis auf seine Unabhängigkeit eine direkte Verbindung zum türkischen Staat stets dementiert. Jetzt hat das für die DITIB-Zulassung zuständige Amtsgericht Köln jedoch eine Kopie der Satzung vorgelegt. Darin heißt es in mehreren Paragraphen, daß Funktionäre des türkischen Religionsamtes Diyanet, das direkt dem türkischen Ministerpräsidenten unterstellt ist, den Ehrenvorsitz sowie den Vorsitz des einflußreichen Beirats im Dachverband innehaben. Da Diyanet auch die rund 970 Imame bezahlt und nach Deutschland entsendet, ist ein ideologischer Übertrag nicht auszuschließen. [5]

Natürlich ist bei der Einschätzung dieser Konstellation Vorsicht geboten, da die Vorwürfe Wasser auf die Mühlen hiesiger Islamgegner sind, die eine Unterwanderung der deutschen Leitkultur zur Beförderung ihrer eigenen rassistisch-nationalistischen Interessen an die Wand malen. Gegen eine Ausstattung und Unterstützung der DITIB seitens der Türkei wäre solange nichts einzuwenden, wie in Ankara eine demokratisch, liberal und säkular zu nennende Administration an der Regierung wäre. Das ist bekanntlich nicht der Fall. So dokumentierte die regierungskritische Cumhuriyet, daß DITIB-Imame im großen Stil Listen mit Erdogan-kritischen Gemeindemitgliedern an Konsulate in Köln und Düsseldorf weitergereicht hätten. Wie Ankara lief auch DITIB umgehend gegen die Armenien-Resolution des Bundestages Sturm. Zudem tauchten jüngst in den sozialen Netzwerken Haß-Postings gegen das von den "Kuffar" (Ungläubigen) gefeierte Weihnachten auf, die von einem DITIB-Jugendverband eingestellt worden sein sollen.

Der DITIB-Vorsitzende von Hamburg und Schleswig-Holstein, Sedat Simsek, wies die Vorwürfe als "nicht nachvollziehbar" zurück. Die Dialogarbeiten des Verbandes seien vom Gedanken des Miteinanders und Füreinanders und des gegenseitigen Respekts geleitet. Scharfe Äußerungen von DITIB-Mitarbeitern in den sozialen Netzwerken gegen Silvester oder Weihnachten seien Einzelfälle und würden überprüft: "Sollten Fälle von Verächtlichmachung vorliegen, so gehen wir gegen diese vor." Als eine in dieser Gesellschaft verwurzelte muslimische Dachorganisation sei DITIB "stets geleitet von dem Gedanken der Toleranz, der gegenseitigen Wertschätzung und der Akzeptanz". [6]

Diese Antwort sollte geeignet sein, die Verhältnisse geradezurücken: Nicht die DITIB ist das Problem, sondern das Regime in Ankara und dessen Versuch, den Dachverband in Deutschland zu beeinflussen. Nicht die Türkei oder die Türken sind das Problem, sondern die eingangs charakterisierten Interessen der AKP-Regierung, sich der Gesellschaft zu bemächtigen und sie auf einen Kurs zu steuern, der für die Mehrheit der Menschen im Land, insbesondere für Minderheiten, aber auch für die Nachbarländer verheerende Konsequenzen zeitigt.


Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/politik/nach-putschversuch-tuerkische-behoerden-erlassen-haftbefehl-gegen-unternehmer-1.3322099

[2] http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-nur-eine-sache-kann-erdogan-noch-stoppen.720.de.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/militaerputsch-in-der-tuerkei-regierung-kann-tuerken-im-ausland-kuenftig-staatsbuergerschaft-entziehen-1.3323770

[4] http://www.handelsblatt.com/politik/international/nach-putschversuch-erdogan-will-verdaechtige-im-ausland-ausbuergern/19222476.html

[5] http://www.deutschlandfunk.de/satzung-des-islamverbands-ditib-tuerkische-funktionaere.886.de.html

[6] http://www.businessinsider.de/erdoan-naher-islamverband-ditib-soll-gegen-weihnachten-und-silvester-hetzen-2017-1

8. Januar 2017


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