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REPRESSION/1572: Vom Meer in die Wüste - Flüchtlingsabwehr in Afrika (SB)



Der afrikanische Kontinent und insbesondere die Subsaharastaaten gelten als Weltregion, die sich in Folge kolonialer und neokolonialer Abhängigkeit wie auch aufgrund des Klimawandels in ein Pandämonium millionenfach vernichteter Überlebensmöglichkeiten verwandelt. Blockierte Entwicklung, fortgesetzte Ausplünderung und interventionistische Kriege, gepaart mit Regimen, zahllosen Milizen, Dürrekatastrophen und explodierenden Bevölkerungszahlen befeuern ein Schreckensszenario von Hunger und Elend, Krankheit und Tod. Angst und Verzweiflung lösen eine Völkerwanderung aus, die auch Europa überrollen und mit in den Abgrund reißen könnte, wenn unzählige Menschen sich letztendlich der Reichtümer zu bemächtigen hoffen, die ihnen jahrhundertelang geraubt wurden.

Wenn sich deutsche Regierungspolitik längst die Forderung zu eigen gemacht hat, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen, ist damit natürlich am allerwenigsten gemeint, die Ausbeutung Afrikas als eine wesentliche Quelle hiesigen Wohlstands anzuerkennen und fortan darauf zu verzichten. Selbst Almosen werden knauserig und nie ohne den Hintergedanken gegeben, den Fuß um so besser in die Tür wirtschaftlicher, politischer und administrativer Okkupation zu setzen. Wo Bundesentwicklungsminister Gerd Müller einen Marshallplan für Afrika bewirbt, soll dafür kein einziger zusätzlicher Cent aufgewendet werden. Statt dessen setzt der CSU-Politiker vor allem auf Investitionen privater Unternehmen. Zusätzlich sollen 20 Prozent der Hilfsgelder zugunsten von Reformstaaten umgeschichtet werden, die dann zwangsläufig an anderer Stelle fehlen. Wohl stehen europäische Unternehmen Gewehr bei Fuß, sich Filetstücke unter den Nagel zu reißen, was jedoch gerade die ärmsten Staaten und Regionen mehr denn je ausschließt.

In der Übernahme und Neutralisierung zahnloser Formeln geübt, prangert Müller durchaus unfaire Handelsbedingungen für afrikanische Staaten an. Das kostet nichts und bleibt folgenlos, tritt Deutschland in der EU doch keineswegs dafür ein, die Handelsbeziehungen mit Afrika auf eine neue Grundlage zu stellen. Europäische Agrarexporte vernichten die Landwirtschaft im globalen Süden, Handelsabkommen schreiben die Abhängigkeit dauerhaft fest. Wenn die EU beispielsweise keinen Einfuhrzoll auf Kakao, wohl aber auf Schokolade erhebt, werden aus Afrika weiter billige Rohstoffe exportiert, während die Wertschöpfung in Europa stattfindet. Hungersnöte entlocken der Bundesregierung vergleichsweise magere Hilfszusagen, und ob diese jemals eingehalten werden steht auf einem ganz anderen Blatt. [1]

Wie viele Menschen bereits auf der Flucht sind oder künftig aufbrechen werden, wird mangels zuverlässiger Daten, aber auch aus Gründen politischen Kalküls höchst unterschiedlich eingeschätzt. So geht der Migrationsexperte Paul Collier davon aus, daß fast die Hälfte der heute bereits mehr als eine Milliarde Menschen im Süden der Sahara nach Norden ziehen könnten. Zehntausende Flüchtlinge, die gegenwärtig diesen Weg einschlagen, wären demnach nur der Anfang einer viel dramatischeren Entwicklung. [2] Krieg, Terror, ökologische Krisen und Armut trieben die Menschen aus Ländern südlich der Sahara in Richtung Norden, warnt der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani von der konservativen Forza Italia. Bis zu 30 Millionen Afrikaner könnten schon innerhalb der nächsten zehn Jahre in die EU kommen. Solchen Prognosen widersprechen manche Migrationsforscher mit dem Argument, die allermeisten Flüchtlinge wanderten gar nicht übers Meer nach Norden und Westen, sie bewegten sich vielmehr innerhalb des eigenen Kontinents. Laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen waren 2015 insgesamt 16 Millionen Menschen in Afrika auf der Flucht, wobei sich deutlich mehr als die Hälfte dieser Vertriebenen in andere Regionen ihres Herkunftslandes gerettet hätten. Würden nationale Grenzen überschritten, suchten die Menschen fast immer Zuflucht im nächstgelegenen Nachbarstaat. So nähmen gerade die ärmsten Länder die meisten Flüchtlinge auf, weit mehr als reiche europäische Aufnahmeländer wie Deutschland oder Schweden. [3]

Die Zahl afrikanischer Flüchtlinge, die nach Europa gelangen, steigt nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in diesem Jahr stark an. In den ersten drei Monaten seien schon 51 Prozent mehr Afrikaner als Anfang vergangenen Jahres in die EU gelangt. Der Bundesentwicklungsminister rechnet denn auch für 2017 mit rund 300.000 bis 400.000 Flüchtlingen vom Nachbarkontinent. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, Großadministrator nicht nur der deutschen, sondern längst auch der europäischen Flüchtlingspolitik, treibt den Ausbau der Abschottungspolitik immer tiefer ins Vorfeld hinaus. Er pocht darauf, daß Italien die illegalen Grenzübertritte unterbindet, und setzt zugleich gemeinsam mit der Regierung in Rom verstärkt auf die Blockade im Mittelmeer, Auffanglager in Nordafrika und Rücknahmeabkommen mit Herkunftsstaaten. Laut einem Geheimpapier deutscher Sicherheitsbehörden warten auf der anderen Seite des Mittelmeers sechs Millionen Flüchtlinge auf eine Möglichkeit, nach Europa zu gelangen. [4] Die Ausführung dieses Vorhabens soll nach dem Willen deutscher und europäischer Flüchtlingsbekämpfung mit allen Mitteln verhindert werden.

Zum Zehnpunkteplan des EU-Gipfels von Malta gehört auch eine Idee, die schon 2004 der damalige Innenminister Otto Schily ins Gespräch gebracht hatte: Auffanglager für Flüchtlinge auf afrikanischem Boden, wo eine Vorsortierung in wenige Asylberechtigte und viele Zurückgewiesene vorgenommen werden soll. Da die meisten der 181.000 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa gekommen sind, von der libyschen Küste in See gestochen waren, steht dieses Land im Fokus geplanter Abschottungsstrategien. Bekanntlich hat der Bombenkrieg der NATO vor sechs Jahren einen relativ stabilen Staat zerschlagen, der eine hochentwickelte Infrastruktur und das beste Sozialsystem Afrikas aufwies. Auf den Trümmern des Gaddafi-Staats breiteten sich Chaos und Bürgerkrieg aus, bewaffnete Milizen traten auf, und die Flüchtlingszahlen nahmen sprunghaft zu. Deutsche Diplomaten in Mali berichteten von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in libyschen Flüchtlingslagern, in denen Schlepperbanden die Menschen ausplündern, foltern, vergewaltigen und umbringen. Das hält die Bundesregierung nicht von Plänen ab, den für gescheitert erklärten Staat Libyen zu ertüchtigen, weitere Flüchtlinge in Lagern aufzunehmen. Auch will sie mit anderen, stabileren nordafrikanischen Staaten wie Marokko oder Tunesien enger zusammenarbeiten, obgleich diese über gar kein Asylsystem verfügen und den Aufbau eines Verfahrens nach EU-Standards in absehbarer Zeit unmöglich erreichen können. Aufnahmelager in solchen Ländern zu errichten, liefe auf die menschenverachtende und völkerrechtswidrige Strategie hinaus, Geflüchtete dorthin abzuschieben und ihnen ordentliche Asylverfahren zu verwehren.

Unterdessen greift Thomas de Maizière weit über die libysche Küste hinaus und fordert gemeinsam mit seinem italienischen Amtskollegen Marco Minniti die EU-Kommission auf, eine EU-Mission an die Grenze zwischen Libyen und Niger zu entsenden. Vorgeblich geht es den Innenministern darum zu verhindern, "dass hunderttausende Menschen, die sich in den Händen von Schmugglern befinden, erneut ihr Leben in Libyen und im Mittelmeer riskieren". Der zynische Plan schlägt statt dessen vor, die Flüchtlinge in die Wüste Sahara zurückzutreiben, wo die Todeszahlen schon heute die der im Meer Ertrunkenen übertreffen dürften. Der dänische Flüchtlingsrat geht auf Grund einer eigenen Studie, in deren Rahmen Flüchtlinge befragt wurden, davon aus, daß die häufigsten Todesursachen in der Wüste Erkrankung, Verhungern und Verdursten sowie Schießereien und Folter seien. Man könne wohl sicher annehmen, daß die Zahl der Menschen, die sterben, ehe sie die Küsten Ägyptens oder Libyens erreichen, sogar noch höher als die Zahl der Toten auf See ist. Der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka, der das Vorhaben ausdrücklich unterstützt, redet insofern Klartext, als er eine massive Dezimierung der auslaufenden Flüchtlingsboote in Richtung Europa als Ziel der Initiative ausweist.

Warum nur von der Grenze zu Niger die Rede ist, nicht aber von jener zu den beiden anderen südlichen Nachbarländern Tschad und Sudan, obgleich die meisten Flüchtlinge von Südosten her nach Libyen kommen, verweist auf weitere Gründe für eine bevorzugte Präsenz im südwestlichen Landesteil, die nicht genannt werden. Es geht auch um Öl und Erdgas, die vor allem in dieser Region lagern, wie auch einen strategischen Zugang zu Zentralafrika, das ebenfalls reich an Bodenschätzen ist. In Libyen tobe "ein Kampf um die Verteilung von Öl, von Geld, von Macht im Lande", wie der UN-Sonderbeauftragte Martin Kobler es ausdrückte. Beim heimlichen bis offenen Aufmarsch will die Bundesregierung offenbar den Truppen der alten Kolonialherren das Feld nicht überlassen. Die Bundeswehr ist seit über zwei Jahren in Mali präsent, in Libyen betreibt die größte deutschen Energieholding Wintershall acht Ölfelder. Seit dem Krieg 2011 mußte Wintershall die Förderung wiederholt reduzieren oder einstellen, derzeit liegt sie im Streit mit der libyschen Nationalen Ölgesellschaft. [5]

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat vor einer Eskalation der Kämpfe im Süden Libyens gewarnt, die europäischen Innenminister haben sich aktuell mit diesem Thema befaßt. Der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler hält es für durchaus möglich und sinnvoll, Beamte aus Europa zum Schutz der libyschen Südgrenze zu entsenden und diese Mission angesichts der dort herrschenden Gefahrenlage auch mit bewaffnetem Schutz absichern. Die Sahara sei lang und breit, und überall gebe es Stammesaktivitäten, die sehr an dem Geschäft mit "den armen Menschen" interessiert seien. Die "armen Menschen", so scheint es, liefern deutscher Regierungspolitik den Vorwand, im südwestlichen Libyen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.


Fußnoten:

[1] http://www.tagesspiegel.de/politik/steigende-zahlen-in-italien-mehr-fluechtlinge-aus-afrika/19603948.html

[2] http://www.handelsblatt.com/politik/international/fluechtlinge-afrika-ein-entschlossener-afrikaner-wuerde-alles-tun/12235856-2.html

[3] http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-03/afrika-migration-europa-eu-fluechtlinge-hunger.html

[4] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article162776509/Der-Exodus-aus-Afrika-ist-nicht-zu-stoppen.html

[5] https://www.wsws.org/de/articles/2017/05/23/liby-m23.html

23. Mai 2017


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