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REPRESSION/1575: Türkische Asylsuchende sind keine deutschen Touristen (SB)



Wer die Frage aufwirft, ob die Türkei unter Führung Recep Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung noch ein demokratischer Rechtsstaat, eher schon ein repressives Regime oder gar eine Präsidialdiktatur sei, wird in Deutschland viele verschiedene und zumeist vehement vertretene Antworten erhalten. Daß es sich um keine akademische Frage handelt und die Antwort keine bloße Geschmackssache ist, liegt auf der Hand: Die Konsequenzen der türkischen Verhältnisse sind für viele Millionen Menschen folgenschwer, wie verwüstete kurdische Städte, zahllose Todesopfer und Binnenflüchtlinge, mehrfach überbelegte Gefängnisse, Massenverhaftungen und Folter, Verfolgung der Opposition und zahlreiche weitere Parameter exekutierter Staatsgewalt belegen. Ob Bundesregierung und Bundesbehörden mit der türkischen Administration kooperieren und kollaborieren oder auf Abstand gehen und Sanktionen ins Spiel bringen, hängt ganz von der jeweiligen Interessenlage ab.

So hat die Bundesregierung in Reaktion auf die Verhaftung des Menschenrechtlers Peter Steudtner und anderer Deutscher eine "Neuausrichtung" ihrer Türkeipolitik angekündigt. Das Auswärtige Amt hat die Reisehinweise für das vormals beliebte Urlaubsland verschärft und rät deutschen Türkeireisenden zu "erhöhter Vorsicht". Wenngleich das noch keine regelrechte Reisewarnung ist, die dringend vor einem Besuch des Landes abrät und dem Reisenden die Verantwortung für mögliche Schadensfolgen gewissermaßen präventiv aufbürdet, steht doch das Signal einer Gefahrenlage unübersehbar im Raum.

Das nimmt die Linkspartei zum Anlaß, eine Aussetzung von Abschiebungen in die Türkei zu fordern. Warne das Bundesaußenministerium davor, in der Türkei Urlaub zu machen, müsse es auch einen Abschiebestopp für türkische Staatsangehörige geben, argumentiert der Parteivorsitzende Bernd Riexinger. Dies gelte um so mehr, als der türkische Geheimdienst auch gegen nach Deutschland geflohene Türkinnen und Türken vorgehe. Derzeit könne in der Türkei offenbar niemand vor einer Verhaftung sicher sein, sofern er nicht dem Erdogan-Regime nahestehe oder es dezidiert gutheiße.

Das sieht das Bundesinnenministerium offenbar ganz anders, hält es doch erklärtermaßen an der Rückführung abgelehnter türkischer Asylbewerber fest. Wie es zur amtsdeutschen Begründung heißt, komme Deutschland seiner Verpflichtung nach und nehme diejenigen türkischen Asylsuchenden auf, die tatsächlich schutzberechtigt seien. Dies bedeute umgekehrt aber auch, daß diejenigen, deren Asylanträge nach einer individuellen und gegebenenfalls gerichtlich bestätigten Prüfung abgelehnt werden, grundsätzlich in ihr Heimatland zurückkehren müssen.

Mit dieser Auffassung steht das Ministerium nicht allein, lehnt doch die Union insgesamt einen Stopp von Abschiebungen entschieden ab. Für eine generelle Aussetzung gebe es derzeit keinen Anlaß, erklärt der CSU-Politiker Stephan Mayer, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Jeder Abschiebung gehe ohnehin eine eingehende Prüfung des Einzelfalls voraus. Dabei werde selbstverständlich auch geprüft, ob der betroffenen Person in ihrem Heimatstaat eine politische Verfolgung oder unmenschliche Behandlung droht. [1]

Wie das funktionieren soll, zeigen aktuelle Berichte, wonach das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei seinen Asylentscheidungen die internen Zielvorgaben verfehlt. Die meisten der bundesweit 66 Außenstellen, Ankunftszentren sowie Entscheidungszentren schafften derzeit nicht ihr Soll. Während als Ziel drei Anhörungen beziehungsweise 3,5 Entscheidungen pro Tag vorgegeben seien, komme jeder Mitarbeiter im Schnitt nur auf zwei Anhörungen beziehungsweise 2,5 Entscheidungen pro Tag. Ganz offensichtlich üben starre Zielvorgaben enormen Druck auf die Asylentscheider aus, die zu mangelnder Sorgfalt führen, um den mißlichen Sachverhalt einmal euphemistisch zu beschreiben. Der Personalrat hatte denn auch in einem internen Schreiben beklagt, daß die Vorgaben eine "oberflächliche Arbeitsweise begünstigen" könnten. [2]

Die Innenexpertin der Linkspartei, Ulla Jelpke, kritisiert diese Zustände, da die Zahlen zeigten, daß die politisch motivierten Zielvorgaben für das Bamf nicht zu schaffen seien. Deshalb müßten sie aufgegeben werden, fordert Jelpke. Interne Mengenvorgaben verhinderten, daß Asylprüfungen fair abliefen. Was Unionspolitiker wie Mayer als eingehende Prüfung des Einzelfalls bezeichnen, ist in der Tat ein haarsträubendes Abfertigungsverfahren, bei dem sich mehr oder minder gut angelernte Schreibtischtäter anmaßen, binnen kürzester Fristen über das Leben und Schicksal aus anderen Ländern geflohener Menschen zu entscheiden.

Daß dieses Verfahren kein Resultat unglücklicher Umstände, sondern vom Prinzip her durchaus gewollt ist, unterstreichen die Stellungnahmen aus den für die Durchsetzung der Abschiebungen zuständigen Bundesländern. Derzeit gebe es keine Hinweise auf völkerrechtliche oder humanitäre Gründe, die eine Forderung nach einem Abschiebungsstopp für türkische Staatsangehörige in die Türkei rechtfertigen würden, erklärt das CDU-geführte schleswig-holsteinische Innenministerium. Auch der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) bestätigt, daß derzeit keine generelle Aussetzung der Abschiebung für alle Ausreisepflichtigen im Raum stehe. Ähnlich äußerten sich die zuständigen Ministerien in Berlin, Brandenburg, Sachsen und dem Saarland.

In ihrer Einmütigkeit können sich die Ministerialbürokratien der Länder auf die wunderbare Errungenschaft hierarchisch durchstruktierter Administration berufen. Während nämlich über die Ablehnung von Asylanträgen grundsätzlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entscheidet, prüfen die Länder vor einer Abschiebung, ob konkrete Hindernisse vorliegen. Wie geht diese Prüfung vor sich? Da sich gesunder Menschenverstand oder eine Türkeireise zur eigenständigen Klärung des Sachverhalts als Entscheidungsgrundlage verbieten, greift man auf Lagebeurteilungen des Außenministeriums zurück. So teilt das sächsische Innenministerium denn auch mit: "Nach der Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes ist bislang kein Fall bekannt, dass abgeschobene türkische Staatsangehörige in menschenunwürdiger Weise behandelt wurden."

Nun stellt sich natürlich die Frage, woher das Außenministerium das wissen will. Bekanntlich wurde noch immer nach Afghanistan abgeschoben, als dort bereits die deutsche Botschaft in Kabul nach einem massiven Anschlag evakuiert und ihre Mitarbeiter fluchtartig außer Landes gebracht wurden. Als dann die Abschiebepraxis vorerst gestoppt wurde, räumte die Bundesregierung noch immer nicht ein, daß Afghanistan ein insgesamt unsicheres Kriegs- oder Krisengebiet sei. Statt dessen hieß es lapidar, die diplomatische Vertretung in Kabul sei vorerst nicht in der Lage, die abgeschobenen Flüchtlinge in Empfang zu nehmen, weshalb derzeit keine Flüge durchgeführt würden.

In der Vergangenheit haben einzelne Bundesländer Abschiebungen etwa nach Afghanistan auch eigenständig ausgesetzt. Das könnten sei auch im Fall der Türkei tun, wovon bislang jedoch keine Rede ist. Das legt die Annahme nahe, daß die repressive Verschärfung gerade wegen ihrer Folgen für die hiesige Asylproblematik gezielt ausgeblendet wird. Nach dem Umsturzversuch am 15. Juli 2016 war die Zahl der türkischen Asylbewerber deutlich gestiegen. So hatten im vergangenen Jahr 5742 Menschen türkischer Herkunft Asyl in Deutschland beantragt, wozu im ersten Halbjahr 2017 rund 3200 weitere Personen kamen. Laut Bundesinnenministerium waren am Stichtag 31. Mai insgesamt 6514 türkische Staatsangehörige mit Aufenthalt in Deutschland ausreisepflichtig. Dabei handelt es sich sowohl um straffällig gewordene türkische Staatsbürger als auch um abgelehnte Asylbewerber. Deren Schutzquote ist auffallend gering: Sie lag im Jahr 2016 in Deutschland bei 8,2 Prozent und in der ersten Jahreshälfte 2017 infolge der Säuberungswellen in der Türkei bei 23,2 Prozent, was immer noch nicht allzu viel ist.

Offenbar legen es auch die Bundesländer darauf an, möglichst viele Asylbewerber türkischer Herkunft loszuwerden, ehe die Kritik an dieser Abschiebepraxis in ein nach Einschätzung des Bundesaußenministers unsicheres Land hierzulande virulent wird. Wie soeben in München geschehen, werden kurdische und türkische Linke weiterhin von deutschen Gerichten nach Paragraph 129 b verurteilt. Bei Verhaftungen von Oppositionellen in der Türkei fällt die Reaktion der Bundesregierung höchst selektiv aus. Daß deutsche Unternehmen von der Erdogan-Regierung unter Terrorverdacht gestellt werden oder deutsche Urlauber Ungemach erleiden könnten, wird angeprangert, doch behaupten deutsche Regierungskreise zugleich, daß abgeschobenen türkischen Staatsangehörigen nach ihrer Rückkehr in die Türkei kein Schaden drohe.

Der Anfangsverdacht, hier werde mit zweierlei Maß gemessen, erweist sich bei näherer Prüfung denn doch als ein und dasselbe Maß deutscher Staatsräson, die naturgemäß die Guten ins Töpfchen wandern läßt, die Schlechten verschlingt und sich mit Erdogan allenfalls darüber streitet, wer bei dieser Prozedur das Sagen hat.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/politik/deutschland/article166904144/Linke-fordert-Stopp-von-Abschiebungen-in-die-Tuerkei.html

[2] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/asylbewerber-bundesamt-fluechtlinge-ziele-verfahren

22. Juli 2017


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