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REPRESSION/1604: Erdogan - fortgesetztes Machtsicherungsstreben ... (SB)



Recep Tayyip Erdogan ist eine Quelle der Hoffnung für die Unterdrückten. Die Balance wird sich zugunsten der entrechteten Menschen verschieben. Seine Präsidentschaft gestaltet die Zukunft des Nahen Ostens.
Linientreue türkische Tageszeitung Yeni Safak [1]

Nachdem Recep Tayyip Erdogan mit seinem Sieg beim Urnengang in der Türkei das Präsidialregime, welches ihm autokratische Machtfülle verleiht, endgültig durchgesetzt hat, nimmt die Verfolgung jeglicher Opposition unvermindert ihren Lauf. Nach seiner Wiederwahl gab der türkische Staatspräsident bekannt, er werde seine harte Linie fortsetzen. Die mitunter geäußerte vage Hoffnung, er sei nun am Ziel und werde womöglich Milde walten lassen, ist schon wenige Tage später Makulatur. Das bekommt die dezimierte kritische Presse zu spüren, die sich der Gleichschaltung der Medien bislang verweigert oder entzogen hat. Auch Erdogans Bündnispartner Devlet Bahceli, der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, forciert den Kampf gegen oppositionelle Meinungsäußerungen. In einer Zeitungsanzeige stellte er 70 Journalisten namentlich an den Pranger, die über ihn und seine Partei kritisch berichtet hatten.

Wie jede Form repressiver Staatlichkeit okkupiert auch die Regierung in Ankara die Deutungsmacht, um die Opposition mundtot zu machen und ihre eigene Ideologie in den Rang der einzig gültigen Richtschnur öffentlich zugänglicher Information und Diskussion zu erheben. Seit dem kontrollierten Putschversuch vom 15. Juli 2016, der von Erdogan als "Geschenk Gottes" bezeichnet und zum Anlaß einer "Säuberung" ohne absehbares Ende genommen wurde, rollt eine Welle verschärfter Drangsalierung auch durch die Medienlandschaft. Hunderte Medien wurden geschlossen oder unter staatliche Zwangsaufsicht gestellt, zahlreiche Journalisten verhaftet. Über die regierungskonformen Fernsehsender und Zeitungen werden unablässig weitere Vorwürfe verbreitet, die Selbstzensur ist so massiv und zur Norm geworden, daß die Sendungen an eine moderne Inquisition erinnern. In der Türkei reicht es heute schon, über heikle Themen zu schreiben oder mit der falschen Quelle zu sprechen, um staatliche Verfolgung auf sich zu ziehen.

Die häufigsten Gründe für die Verhaftung von Journalisten sind Mitgliedschaft in einer "terroristischen" Gruppierung, "Terrorpropaganda", aber auch Beleidigung des Präsidenten. Die angebliche Nähe zu kurdischen Organisationen, linken türkischen Parteien oder der Gülen-Bewegung bedarf keiner Ermittlung und Beweisführung im rechtsstaatlichen Sinne, sondern entspringt einer Willkürjustiz, die exekutiven Vorgaben unterworfen ist. Die Arbeit für eine "verdächtige Redaktion", der Kontakt zu einer heiklen Quelle oder einfach die Nutzung eines Messengerdienstes reicht aus, um Journalisten festzunehmen und mitunter jahrelang in Untersuchungshaft festzuhalten, so Anne Renzenbrink von Reporter ohne Grenzen. [2]

Die türkische Regierung weist alle Vorwürfe, sie trete die Pressefreiheit mit Füßen, als unzulässige Einmischung in harscher Form zurück. Wenn es Hunderte von Journalisten in türkischen Gefängnissen gebe, dann nicht deswegen, weil sie ihre Tätigkeit ausgeübt, sondern weil sie Straftaten begangen hätten. Sie seien Sympathisanten, Anhänger oder Mitglieder verbotener Organisationen, die den Staat bedrohten, der wie jeder andere das Recht für sich in Anspruch nehme, sich seiner Feinde zu erwehren und seine Bürger zu schützen. Das Erdogan-Regime hat sich des Ausnahmezustands bedient und Zug um Zug die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, tatsächliche oder mutmaßliche Gegner zu verfolgen.

So wurden beispielsweise im Februar - demonstrativ am Tag der Freilassung Deniz Yüzels - mit Ahmet und Mehmet Altan sowie Nazli Ilicak drei prominente Journalisten und Schriftsteller zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Sie sollen einen Tag vor dem Putschversuch in einer Talkshow rhetorisch verdeckte Geheimbotschaften ausgesprochen haben, die den Staatsstreich ankündigten, was sie entschieden bestreiten. Sie müssen im Gefängnis 23 Stunden am Tag in Isolation verbringen, werden also der Folterhaft unterworfen und das Gefängnis angesichts ihres Alters wohl nicht mehr lebend verlassen. Im Januar hatte das türkische Verfassungsgericht die Haftentlassung Mehmet Altans angeordnet, der mit 65 Jahren der jüngste der drei ist. Diese Entscheidung wurde jedoch erstmals von einem einfachen Gericht revidiert, was belegt, daß es in der Türkei keine juristische Instanz mehr gibt, vor der die Menschen zumindest ihr Recht suchen können. Die Gewaltenteilung ist de facto aufgehoben, die Urteile erfolgen auf politische Weisung. Wenngleich nun ein Berufungsgericht überraschend seine Freilassung angeordnet hat, weil die monatelange Untersuchungshaft seine Rechte verletzt habe, ist eine allgemeine Entspannung der Lage nicht zu erwarten.

Weniger bekannte Journalistinnen und Journalisten verschwinden von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hinter Gittern, die Rede ist von mehr als 150 inhaftierten Medienvertretern. Prominente Akteure werden je nach Kalkül des Regimes, das sich davon taktische Vorteile verspricht, als Faustpfand festgehalten oder mitunter auch freigelassen. Mit Deniz Yüzel, der doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, war Ende Dezember 2016 zum ersten Mal ein deutscher Journalist in der Türkei festgenommen worden. Er hatte in der Haft unterstrichen, daß er nicht durch einen schmutzigen Deal freikommen wolle, und so wurde denn auch von türkischer wie deutscher Seite ein Tausch Geisel gegen Panzer entschieden dementiert, als Yüzel nach einem Jahr ohne Anklage in Untersuchungshaft das Gefängnis verlassen und noch am selben Tag ausreisen konnte.

In Abwesenheit des Angeklagten wurde nun in Istanbul der Prozeß gegen den Welt-Korrespondenten fortgesetzt, dem die türkische Justiz wegen seiner Artikel "Volksverhetzung" und "Terrorpropaganda" vorwirft, wofür ihm bis zu 18 Jahre Haft drohen. Den Antrag seines Anwalts Veysel Ok auf sofortigen Freispruch lehnte der Richter unter Verweis auf die "Schwere der Anklage" ab. Auch müßten erst noch Beweise geprüft werden. Yücels Anwalt hatte auf Mängel in der Anklageschrift hingewiesen, da sich das nur dreiseitige Papier auf deutsche Zeitungsartikel seines Mandanten stütze, deren Übersetzungen voller Fehler seien. Zudem zweifelte er die Rechtmäßigkeit des Verfahrens an, da Journalisten in der Türkei nur innerhalb der ersten vier Monate nach Erscheinen ihrer Artikel für diese juristisch belangt werden dürften. Der Richter forderte eine "schriftliche Aussage" Yücels, eine von Ok vorgeschlagene Videoaussage akzeptierte er nicht. Das Gericht vertagte sich nach einer gut halbstündigen Verhandlungsdauer auf den 20. Dezember. [3]

Weniger prominente Medien und Journalisten, die in der Türkei verfolgt werden, finden hierzulande wohl nur dann Beachtung, wenn wie derzeit unmittelbar nach den Wahlen dringend Stoff für die Berichterstattung gesucht wird. So war zu erfahren, daß die unabhängige Onlinezeitung Sendika.org zum wiederholten Mal in den Fokus türkischer Behörden geraten und von der Istanbuler Polizei heimgesucht worden ist. Wie die Plattform mitteilte, haben Sicherheitskräfte am frühen Morgen die Tür zu ihrem Büro im Stadtteil Sisli aufgebrochen und die Redaktion durchsucht, als noch keine Journalisten anwesend waren. Hintergrund der Polizeiaktion seien Ermittlungen gegen den Redakteur Ali Ergin Demirhan, der im April 2017 von den Behörden verhaftet worden war, weil er angeblich das Referendum zum Präsidialsystem nicht anerkannt hatte. Weitere Vorwürfe waren Volksverhetzung und der Aufruf zum Protest über soziale Medien. Im Jahr 2013 gehörte Sendika.org zu den wichtigsten Nachrichtenquellen über die damaligen Gezi-Proteste, und auch in der Folge fanden sich dort kritische Berichte zur Politik Erdogans. Seither haben die Behörden die Seite immer wieder gesperrt, meist ging sie jedoch unter neuer Adresse abermals online. Inzwischen ist Sendika.org wieder erreichbar, die Seite machte mit einem Kommentar von Ali Ergin Demirhan zur Präsidentschaftswahl vom Sonntag auf. [4]

Welche Versuche die türkische Regierung unternimmt, um die schwerer zu kontrollierenden Onlinezeitungen, Blogger und sozialen Medien zu zügeln, machten bereits Veröffentlichungen im Kontext des Haftbefehls gegen Deniz Yüzel publik. Ende Dezember 2016 wurden im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen das türkische Hacker-Kollektiv RedHack Haftbefehle gegen mehrere Personen verhängt. RedHack hatte sich Zugang zu den E-Mails von Berat Albayrak, dem Energieminister und Schwiegersohn Erdogans, verschafft und diese diversen Medien zugespielt. In den E-Mails, die bald darauf auf der Plattform WikiLeaks zugänglich gemacht wurden, ging es unter anderem um die Kontrolle türkischer Medienkonzerne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit durch fingierte Twitter-Nutzer. Yücels Artikel hatten denn auch unter anderem den Versuch der Regierung zum Inhalt, die Deutungsmacht in den sozialen Medien zu erringen.

An der Propagandafront arbeiten unterdessen linientreue Tageszeitungen wie Yeni Safak, die nach der Wiederwahl Erdogans den Pathos seiner Siegesrede aufgriff. Wie im Wahlkampf ein ums andere Mal beschworen, präsentierte er sich als demütiger Führer der türkischen Nation, der sich aller Benachteiligten und Rechtlosen annimmt. Recep Tayyip Erdogan sei eine "Quelle der Hoffnung für die Unterdrückten", schrieb die Zeitung theatralisch. "Die Balance wird sich zugunsten der entrechteten Menschen verschieben." Sogar "die Zukunft des Nahen Ostens" werde mit seiner Präsidentschaft gestaltet. Das schätzt die Organisation Reporter ohne Grenzen denn doch anders ein. Sie hat Erdogan schon vor geraumer Zeit auf ihre Liste der "Feinde der Pressefreiheit" gesetzt, die Journalisten und Andersdenkende durch Zensur und Unterdrückung bis hin zum Mord verfolgen.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article178282466/Tuerkei-Erdogan-auf-Grossmachtkurs-und-keiner-will-ihn-aufhalten.html

[2] www.deutschlandfunk.de/kritische-journalisten-in-der-tuerkei-der-druck-waechst.2907.de.html

[3] www.tagesschau.de/ausland/prozess-yuecel-103.html

[4] www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/razzia-in-redaktion-einer-online-plattform-in-der-tuerkei-a-1215533.html

29. Juni 2018


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