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REPRESSION/1617: Rechtsgewalt - Ausmaße geleugnet ... (SB)



Wenn man Dunkelfelder ausleuchten will, muss man Betroffene fragen.
Kriminologe Christian Pfeiffer gegenüber dem ARD-faktenfinder [1]

Wie viele Menschen fallen in Deutschland rechten Gewalttaten zum Opfer? Wie viele werden aus politisch motivierten Gründen erschlagen, erstochen, erschossen, verbrannt, ertränkt oder zu Tode gehetzt? Wie viele Einschüchterungen, Bedrohungen, Beleidigungen, Verletzungen werden nicht zur Sprache, geschweige denn zur Anzeige gebracht? Als Spitze des Eisbergs belegte die späte und unvollendete Aufklärung der NSU-Morde, daß in der polizeilichen Ermittlung vielfach Tötungsdelikte eher kriminellen oder persönlichen Motiven zugeschrieben wurden, anstatt den tatsächlichen rassistischen oder fremdenfeindlichen und damit politisch motivierten Hintergründen. Wenngleich in den Jahren seit dem Ende der DDR die wachsende Gewaltbereitschaft der rechten Szene durchaus wahrgenommen wurde und vielfach belegt werden konnte, fand dies keinen Eingang in eine systematisierte polizeiliche Erfassung und strafrechtliche Verfolgung. Der behördliche Umgang mit den Angehörigen der NSU-Opfer, die jahrelang bezichtigt, für unglaubwürdig erklärt, herabgewürdigt oder schlichtweg ignoriert wurden, ist symptomatisch für die Ausblendung und Leugnung offenkundiger Muster und Zusammenhänge.

So bedurfte es externer gesellschaftlicher Initiativen, um die Strafverfolgungsbehörden zum Jagen zu tragen, was sich als außerordentlich zäher und mühsamer Vorgang erwies. Die meisten Bundesländer zögerten lange, mutmaßlich rassistische und andere rechte Angriffe als politisch motivierte Taten einzustufen. Das Bundeskriminalamt setzte erst im vergangenen Jahr eine erweiterte Definition politisch motivierter Kriminalität in Kraft, die versucht, ein breites Spektrum von der politischen Orientierung bis zur sexuellen Identität und zum äußeren Erscheinungsbild der Opfer zu erfassen und damit auch entsprechend einzustufen.

Nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung aus dem Jahr 2011 gab es zwischen 1990 und 2009 mehr als 180 Todesopfer rechter Gewalt. Der Berliner Tagesspiegel versucht im Verbund mit Zeit Online in einer Langzeituntersuchung seit der Jahrtausendwende die Zahlen rechter Gewalt zu erfassen und spricht in einem aktuell vorgelegten Zwischenbericht von mindestens 169 Todesopfern rechter Gewalt seit dem 3. Oktober 1990. Hinzu kommen 61 weitere bislang ungeklärte Verdachtsfälle, in denen Menschen zu Tode kamen, wofür insbesondere die neue Definition des Bundeskriminalamts zugrunde gelegt wurde. Diese Zahlen liegen bezeichnenderweise weit über denen der Bundesregierung. In Beantwortung einer kleinen Anfrage der Linken-Politikerin Petra Pau sprach Innenstaatssekretär Stephan Maier im Juni von 83 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990. [2]

Wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums nun auf Anfrage erklärte, nehme "die Bundesregierung entsprechende Berichte nicht behördlicher Einrichtungen mit der gebotenen Aufmerksamkeit zur Kenntnis". Auf welcher Bewertungsgrundlage diese Zahlen erhoben worden seien, sei dem Ministerium aber nicht bekannt. Die Art und Weise, wie Daten zur politisch motivierten Kriminalität bundesweit erhoben würden, sei "stets Gegenstand der Überprüfung durch die polizeilichen Gremien von Bund und Ländern". Mögliche Ansätze zur Weiterentwicklung würden dort diskutiert und gegebenenfalls umgesetzt. [3]

Die Bundesregierung bezieht ihre Zahlen aus den Polizeistatistiken der Länder, die jedoch erhebliche Unterschiede aufweisen. In Sachsen-Anhalt (2012), Brandenburg (2015) und Berlin (2018) wurden in den vergangenen Jahren Korrekturen an der Polizeistatistik vorgenommen und danach weitere 19 Todesfälle als politisch motivierte Taten von Rechts deklariert. In Berlin hatte das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität im Auftrag des Landeskriminalamts mehrere Altfälle aufwendig geprüft und im Mai die Nachmeldung von sechs Verbrechen mit sieben Todesopfern als rechte Delikte empfohlen. Das LKA übernahm das Ergebnis und unterrichtete das Bundeskriminalamt, das die Regierung informierte. Auch im Thüringer Landtag soll jetzt ein entsprechender Beschluß gefaßt werden, die Altfälle mit wissenschaftlicher Hilfe erneut zu prüfen. In mehreren Bundesländern steht die Aufarbeitung alter Polizeistatistiken hingegen noch aus. Offenbar fehlt vielfach der politische Wille, die umstrittenen Altfälle erneut zu prüfen und dadurch ein realistisches Bild rechter Gewalt in Deutschland zu zeichnen. [4]

Der Tagesspiegel bietet im Rahmen seiner Langzeitrecherche im Netz eine interaktive Karte an, anhand derer man nachvollziehen kann, welche Verbrechen wann begangen wurden. Die dafür erhobenen Daten wurden in Gesprächen mit Sicherheitsbehörden, Justiz, Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt sowie mit Angehörigen der Getöteten gewonnen. Doch die Statistik ist selbst in der jüngsten Vergangenheit lückenhaft. So meldet die Bundesregierung für die vergangenen drei Jahre ein einziges Todesopfer rechter Gewalt, nämlich den Polizisten Daniel E., der 2016 von einem Anhänger der Reichsbürger erschossen wurde. Nach den Medienrecherchen sind jedoch seit 2015 mindestens elf weitere Personen durch rechte Gewalt zu Tode gekommen. Zudem weichen Statistiken der Polizei und der Beratungsstellen erheblich voneinander ab. Fast immer registrieren Opferberatungsstellen deutlich mehr Fälle als die Polizei, wenn es um politisch motivierte Gewalt geht.

Woher diese erhebliche Abweichung rührt, läßt sich anhand der aktuellen Entwicklung zumindest ansatzweise illustrieren. In den ersten vier Monaten 2018 haben Neonazis und andere Rechtsextreme nach vorläufigen Erkenntnissen der Polizei 3714 Straftaten begangen, darunter 174 Gewaltdelikte. Diese Bilanz dürfte noch deutlich wachsen, da üblicherweise viele Verbrechen nachgemeldet werden. Bei den Gewalttaten seien 132 Menschen verletzt worden. Die Polizei habe insgesamt 1526 Tatverdächtige festgestellt, 27 seien vorläufig festgenommen worden, zwei in Untersuchungshaft gekommen. Gemessen an der Vielzahl von Straftaten und Gewaltdelikten schrumpft die letztendliche Inhaftierung auf einen geringen Bruchteil zusammen. Die Täter laufen also weiter frei herum und bedrohen die schutzlosen Opfer, die nun auch noch Racheakte fürchten müssen.

Laut Robert Kusche vom Verband der Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt gibt es Regionen, in denen Betroffene kaum noch Anzeige erstatten. Sie hätten zu oft erlebt, daß die Ermittlungsverfahren im Sande verlaufen, weil sie von Polizei und Medien für die erfahrene Gewalt mitverantwortlich gemacht werden und weil sie Angst haben, daß sich Anzeigen negativ auf ihre Asylverfahren auswirken. Zudem gibt es Orte, an denen rechtsradikale Täter für ein Szenario ständiger Einschüchterung und Drangsalierung sorgen, dem die ansässige Bevölkerung ausgeliefert ist. Opferberatungsstellen sprechen mit den Betroffenen und registrieren auch massive Bedrohungen, heftige Sachbeschädigungen oder permanente Beleidigungen als Gewalttaten, die jedoch kaum Eingang in die Polizeistatistik finden.

Grundsätzlich gilt natürlich, daß die Statistik der Polizei über die politisch motivierte Gewalt kaum oder gar nicht geeignet ist, die tatsächliche Kriminalität abzubilden. Die meisten Angaben hängen von Strafanzeigen ab, deren Häufigkeit keineswegs mit der tatsächlichen Kriminalität einhergeht. Das Anzeigeverhalten hängt in hohem Maße von den Erfahrungen der Betroffen im Umgang mit der Polizei ab, wobei sich nach Auskunft von Beratungsstellen viele Opfer nicht ernstgenommen fühlen. So gibt es nur selten wie bei der Berliner Polizei eine Ansprechperson für Lesben, Schwule, Bisexuelle sowie trans- und intergeschlechtliche Menschen. Die Beratungsstellen bilden also offenkundig einen erheblichen Teil des Dunkelfelds ab, das von den Statistiken der Polizei nicht beleuchtet wird.

Um die Bereitschaft, dieses Dunkelfeld zu erhellen, ist es schlecht bestellt. 2001 und 2006 hatte die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries bei Forschern und Experten den "Periodischen Sicherheitsbericht" in Auftrag gegeben. Noch heute gelten die Berichte unter Fachleuten als Meilensteine bei der Abbildung der tatsächlichen Kriminalität, doch eine Wiederauflage ist nicht geplant. Will man Dunkelfelder ausleuchten, muß man Betroffene fragen, was insbesondere für migrantische und andere Minderheiten gilt, die in besonderem Maße bedroht sind. Das liegt offenkundig nicht im Interesse von Regierungspolitik und Sicherheitsbehörden, die erst dann von einem Bedrohungsszenario sprechen, wenn der enthemmte rechte Mob sein Opferschema auf gutsituierte Vertreter des Bürgertums ausweitet.

Die Gewalttaten von Hoyerswerda (September 1991), Rostock-Lichtenhagen (August 1992), Mölln (November 1992), Solingen (Mai 1993) und Lübeck (Januar 1996), bei denen Menschen zu Tode kamen, lagen wie eine Blaupause zugrunde, als rassistische Pogrome ab 2015 eine flächendeckende Wirkung erreichten. Obgleich die Zahl eintreffender Asylsuchender Ende 2016 auf ein Drittel des Ansturms im Vorjahr gesunken war, wurden 2016 in der Bundesrepublik mehr als 900 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte verübt, statistisch gesehen also fast drei pro Tag. Daß sich die Angriffe zunehmend auch gegen Vertreter von Hilfsorganisationen, Politiker etablierter Parteien, Kirchenleute, Behördenmitarbeiter und Journalisten richteten, rief endlich doch das staatliche Gewaltmonopol auf den Plan. Das könne man nicht tolerieren, erklärte BKA-Präsident Holger Münch, der von einer Radikalisierung der Flüchtlingsgegner sprach. Eine Zivilisationsschranke sei gefallen, klammheimliche Zustimmung dürfe es nicht geben, warnte Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Am fehlenden Willen zur Aufklärung der Straftaten und einer geringen Aufklärungsquote änderte das freilich nichts. Die Schranke der Zivilisation trennt nach vorherrschender Auffassung offenbar die bevorzugten Opfern rechter Gewalt vom Rest der deutschen Gesellschaft.


Fußnoten:

[1] faktenfinder.tagesschau.de/inland/pmk-rechts-gewalttaten-101~_origin-ce5f32fe-fd4a-40b3-bee4-fc94d209366c.html

[2] www.deutschlandfunk.de/rechte-gewalt-luecken-in-offizieller-statistik-zu.1766.de.html

[3] www.focus.de/politik/deutschland/mindestens-169-menschen-seit-wiedervereinigung-bericht-mehr-als-doppelt-so-viele-tote-durch-rechtsmotivierte-gewalt-wie-offiziell-bekannt_id_9670408.html

[4] www.tagesschau.de/inland/rechte-gewalt-101.html

28. September 2018


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