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REPRESSION/1692: Alte Bürger - Sortierungsvorwände ... (SB)



Eine Strategie der kontrollierten Infizierung schickt - anders als die Strategie des Zeitgewinnens - nicht jüngere und aktivere Personen in Quarantäne, um die Ansteckungsgefahren für Hochrisikogruppen zu eliminieren.
Stattdessen strebt sie direkt danach, die Hochrisikogruppen zu isolieren. Wer eine bestimmte Altersgrenze überschritten hat oder im Erkrankungsfall besonders an Leib und Leben gefährdet ist, darf Wohnung, Haus, Pflege- oder Altenheim nicht mehr ungeschützt verlassen.

Der Ökonom Thomas Straubhaar am 16. März in der Tageszeitung Welt [1]

Je mehr der Druck anwächst, zum business as usual zurückzukehren, desto dringlicher stellt sich die Frage, wie mit denjenigen Gruppen der Bevölkerung umzugehen sei, deren Krankheitsrisiko bei einer COVID-19-Infektion höher ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Um die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit schrittweise fallenzulassen, müßten diese Gruppen besonders vor Ansteckung geschützt werden, so der immer breiter diskutierte Ausweg aus der ansonsten absehbaren Aufrechterhaltung des faktischen Ausnahmezustandes über Monate. Was diese Form sogenannten Schutzes im Kern bedeutet, ist dazu geeignet, ältere Menschen mit Angst ob der sich vor ihnen auftuenden Möglichkeit zu erfüllen, auf unabsehbare Zeit in die eigenen vier Wände verbannt oder gar in ein Heim oder eine andere Einrichtung eingewiesen zu werden.

Niemand wolle das Wort "Wegsperren" verwenden, lautete etwa der unmißverständliche Fingerzeig eines Disputanten der Sendung kontrovers (Deutschlandfunk, 6. April), in der laut über das künftige Schicksal potentieller RisikopatientInnen nachgedacht wurde. Auch Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel ist dafür, "vulnerable Gruppen" so zu isolieren, daß die vermeintlich mit einem geringeren Erkrankungsrisiko versehene Mehrheit der Bevölkerung wieder arbeiten und konsumieren kann [2]. Auf der Petitionsplattform change.org werden UnterzeichnerInnen für die Forderung "Umkehrisolation statt Shutdown und Chaos" gesucht. Was das heißt, wurde unter Punkt 1 mitgeteilt: "strikte Ausgangssperre der definierten Risikogruppen: Menschen mit Vorerkrankungen und/oder Alter über 55 Jahren" [3].

Der Petitent macht nichts Geringeres als die "menschliche Natur" geltend. Sie verlangt, den bislang eingeschlagenen Weg der alle einschränkenden Krisenbewältigung zu verlassen und anstelle dessen eine ganz bestimmte Gruppe der Bevölkerung - "Alte und Vorerkrankte" - ins Visier strikter Maßnahmen zu nehmen. Andernfalls seien sie dafür verantwortlich zu machen, daß die Gesellschaft nicht mehr "stark und handlungsfähig bleiben" kann. Aus faschistischen Gesellschaften bekannte Bezichtigungsmuster stehen Pate bei der euphemistischen Verkehrung von Freiheitsberaubung in Schutz, wenn zwecks Erwirkung der Umkehrisolation ein Störfaktor im Getriebe von Staat und Nation ausgemacht wird. Die Stigmatisierung vermeintlicher InfektionsträgerInnen war immer ein wesentliches Merkmal gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse in epidemischen Krisen, und sie wird kaum harmloser dadurch, daß ältere und vorerkrankte Menschen der gesellschaftlichen Normalisierung im Wege stehen, gerade weil sie nicht infiziert sind.

Noch hat diese Petition wenig Zustimmung gefunden, haben doch viele Menschen eigene Angehörige, die von einer Umkehrisolierung betroffen wären, oder gehören selbst zur exponierten Risikogruppe. Allein das Führen einer öffentlichen Debatte über die Isolierung einer Gruppe der Gesellschaft, die auch in anderen Diskursen wie der sogenannten Übertherapierung in den letzten Lebensmonaten oder der ärztlichen Sterbehilfe Gefahr laufen, als Klotz am Bein von Markt und Wirtschaft empfunden zu werden, spricht angesichts einschlägiger zeitgeschichtlicher Beispiele für die folgenschwere Ausgrenzung verletzlicher Minderheiten Bände über den Mangel an politischem und historischem Bewußtsein. Nimmt der Druck, den die Dramatisierung ökonomischer Verluste erzeugt, weiter zu, ist daher keinesfalls auszuschließen, daß eine solche Maßnahme auf mehrheitliche Zustimmung stoßen könnte.

Die an das Konzept der "Herdenimmunisierung", das die desaströse Überforderung des Gesundheitswesens in Kauf nähme, um möglichst schnell eine weitreichende Immunisierung der Bevölkerung gegen den Erreger der aktuellen Pandemie zu erreichen, anknüpfende Maßnahme überführt nicht nur die vielbeschworene "Solidarität" als gegen sich selbst gekehrten Imperativ notgedrungener Unterwerfung unter die Ziele von Staat und Kapital. Sie ist auch aus medizinischen Gründen auf Sand gebaut, denn der Erreger SARS-CoV-2 ist in seiner Infektiosität und den durch ihn ausgelösten Krankheitsverläufen längst nicht so gut erforscht, daß die Gleichungsfunktion "je älter der Mensch, desto größer das von COVID-19 ausgehende Sterblichkeitsrisiko" schlicht verallgemeinert werden kann.

So liegt das Hauptgewicht der Altersverteilung von über 2000 intensivmedizinisch betreuten COVID-19-PatientInnen laut einer Aufstellung des britischen Intensive Care National Audit and Research Centre (ICNARC) vom 4. April in der Gruppe von 52 bis 70 Jahren. Sie umfaßt 50 Prozent aller erfaßten PatientInnen. 25 Prozent waren jünger als 52 Jahre, 25 Prozent älter als 70 Jahre, was ein Durchschnittsalter von 61 Jahren ergibt [4]. In einem Interview mit einem walisischen Intensivmediziner gab dieser an, daß seine durchweg von schweren Krankheitsverläufen betroffenen PatientInnen allesamt zwischen 50 und 60 Jahre oder jünger seien [5]. Aus einem Bericht der Zeitschrift The Atlantic über die stärkere Betroffenheit jüngerer Altersgruppen in den Südstaaten der USA geht zum Beispiel hervor, daß in Louisiana 22 Prozent der an COVID-19 gestorbenen PatientInnen aus der Altersgruppe zwischen 40 bis 59 Jahren stammen [6]. Die größere Zahl jüngerer COVID-19-Toter im Süden des Landes wird unter anderem darauf zurückgeführt, daß ein größerer Prozentsatz der Bevölkerung dieser besonders armen Region vorerkrankt ist und sozial benachteiligten ethnischen Minderheiten angehört.

Werden soziale Faktoren und die quer durch alle Altersgruppen gehenden Belastungen mit chronischen Erkrankungen in das Konzept der Umkehrisolierung einbezogen, dann ergibt sich ein viel differenzierteres Bild möglicher Risikofaktoren als auf den ersten Blick absehbar. Dies auf das Konzept der Umkehrisolation anzuwenden verlangte in der Konsequenz die medizinaladministrative Erfassung der gesamten Bevölkerung, um jede Person mit einem individuellen Risikoindex versehen zu können, anhand dessen über das Ausmaß der jeweiligen Bewegungs- und Kontaktfreiheit befunden würde. Ohne die Aufhebung jeglicher Anonymität wäre eine solche Form hochentwickelter Biopolitik nicht zu verwirklichen, zudem liefe sie auf ein System der individuellen Bezichtigung hinaus, das im neoliberalen Kapitalismus unter dem Stichwort "Eigenverantwortung" verhandelt wird. Dem liegt nichts anderes als die Übertragung gesellschaftlicher Widerspruchslagen auf den einzelnen Menschen zwecks Entlassung des Kapitals aus der Verantwortung für die Schäden, die bei der Verwertung der Ware Arbeitskraft in der Bevölkerung angerichtet werden, zugrunde.

Da die Durchsetzung des "Schutzes" von Risikogruppen durch Freiheitsentzug bei erlangter Immunität nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre, böte die Möglichkeit, sich gezielt anstecken zu lassen, einen Ausweg aus der auf unabsehbare Zeit währenden Umkehrisolierung. Wer immer von dieser Maßnahme betroffen sein könnte, würde mit dieser Überlegung konfrontiert. Das hätte schlimmstenfalls zur Folge, daß die Infizierung älterer Menschen mit COVID-19 bei Ankündigung ihrer Isolation sprunghaft zunehmen könnte. Dann wäre der Effekt des vorzeitigen Ablebens dieser Gruppe, der aus der sozialdarwinistischen Logik der "Herdenimmunität" hervorgeht, vielleicht schon im Vorwege erreicht.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/wirtschaft/article206586337/Coronavirus-Kontrollierte-Infizierung-ist-die-beste-Strategie.html

[2] https://www.deutschlandfunk.de/corona-massnahmen-welche-gefahren-hat-es-wenn-wir.694.de.html?dram:article_id=474198

[3] https://www.change.org/p/gesundheitsministerium-corona-umkehr-isolation-statt-shutdown-und-chaos

[4] https://www.youtube.com/watch?v=LL5qEluaBhc

[5] https://www.youtube.com/watch?v=ejlbCmRJMW4

[6] https://www.theatlantic.com/politics/archive/2020/04/coronavirus-unique-threat-south-young-people/609241/

8. April 2020


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