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REPRESSION/1707: Türkei - kurz, Präsident Erdogan hat die Macht ... (SB)



"Ich werde festgenommen. Widerstand heißt Leben."
Kurdische HDP-Politikerin Leyla Güven per Twitter aus Diyarbakir [1]

Recep Tayyip Erdogan hat die parlamentarische Demokratie de facto beseitigt und die Türkei in einen protofaschistischen Staat umgeformt. Die formale Gewaltenteilung existiert nicht mehr, die Exekutive diktiert Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Medien sind nahezu gleichgeschaltet. Unablässige Wellen von Säuberungen haben Streitkräfte und Polizei auf Regierungskurs gebracht, der mächtige Geheimdienst und die Religionsbehörde gehen Erdogan zur Hand. Wenngleich sein Stern in Meinungsumfragen sinkt, will das nichts besagen. Das Präsidialregime läßt sich mit demokratischen Verfahren wie Wahlen oder Gerichtsurteilen nicht mehr abschaffen. Wo immer es eng zu werden droht, geht das Regime mit massivsten Mitteln wie der Inhaftierung oppositioneller Politiker zu Werke. Erdogan, der ideologisch der Muslimbruderschaft nahesteht, schwebt eine patriarchal-islamistische Gesellschaft vor, deren reaktionäre Ordnung er dem Land gegen alle Widerstände aufzuoktroyieren versucht.

Um die Opposition im Parlament einzuschüchtern, zu schwächen und zu dezimieren, wurden drei Abgeordneten durch die Mehrheit aus der Regierungspartei AKP und ihrer faschistischen Koalitionspartnerin MHP die Mandate und die damit verbundene Immunität entzogen. Begründet wurde dieses Vorgehen mit noch nicht vollstreckten gerichtlichen Verurteilungen der drei Abgeordneten. Obwohl die maßgeblichen Gerichtsurteile schon geraume Zeit zurückliegen, hatte die AKP das Thema bisher nicht ins Parlament gebracht. Nun aber nutzte die Regierungspartei die erste Sitzungswoche nach einer Corona-Pause, um die Urteile im Parlament verlesen zu lassen und den Oppositionsabgeordneten damit die Mandate abzuerkennen. [2]

Der Entzug der Mandate wurde in einer äußerst angespannten Sitzung des Parlaments beschlossen. Abgeordnete der Opposition schlugen mit den Fäusten auf ihre Tische und riefen zu einer geschlossenen Front gegen den "Faschismus" auf. Die Demokratische Partei der Völker (HDP) verurteilte die Maßnahme als "korrupten, unmoralischen und faschistischer Putsch" gegen den "freien Willen der Völker". Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu schrieb auf Twitter ebenfalls von einem "Putsch" und kritisierte die "Feindseligkeit" der regierenden AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan "gegenüber den Kurden".

Nur wenige Stunden später wurden die kurdische Politikerin Leyla Güven von der HDP und ihr Parteikollege Musa Farisogullari in Diyarbakir verhaftet. In Istanbul brachte die Polizei den gleichfalls verhafteten Enis Berberoglu von der kemalistischen CHP ins Gefängnis von Maltepe. Der Journalist Berberoglu war 2018 unter dem Vorwurf der Spionage zu fast sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er der Tageszeitung Cumhuriyet Filmmaterial über illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an dschihadistische Kampfverbände in Syrien zugespielt haben soll. Eine Vollstreckung der Strafe, die durch eine 16monatige Untersuchungshaft schon teilweise abgegolten war, hatte das Gericht mit Blick auf die Wiederwahl Berberoglus ins Parlament ausgesetzt.

Güven und Farisogullari waren im Jahr 2009 im Rahmen von Operationen festgenommen worden, die sich vor allem gegen kurdische Kommunalpolitiker richteten. Sie wurden im September 2019 wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung - gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) - zu Haftstrafen von sechs Jahren und drei Monaten beziehungsweise neun Jahren verurteilt. Da beide bereits fünf Jahre in Untersuchungshaft gesessen hatten, ist gegen Güven nur eine Reststrafe von zwei Monaten offen. Daher bezeichnete ihre Anwältin Reyhan Yalcindag die jetzige Verhaftung als völlig unbegründet. Zudem seien beide Verfahren noch beim Verfassungsgericht anhängig und der Mandatsentzug daher rechtswidrig.

Die 54jährige Güven engagiert sich seit Jahrzehnten in der Frauenbewegung. Sie wurde 2009 zur Bürgermeisterin der Stadt Viransehir gewählt und war als Kovorsitzende des als eine Art kurdisches Regionalparlament agierenden "Demokratischen Gesellschaftskongresses" (DTK) tätig. Leyla Güven gilt als Symbolfigur für die HDP, führte sie doch 2018 und 2019 einen rund 200 Tage andauernden Hungerstreik für die Aufhebung der Isolationshaft Abdullah Öcalans durch. Ihr Hungerstreik, dem sich zuletzt Tausende in der Türkei inhaftierte PKK-Mitglieder sowie Aktivisten in Europa angeschlossen hatten, endete im Mai 2019, nachdem sich Öcalan in einem Brief gegen eine Fortsetzung ausgesprochen hatte.

Der HDP-Vorsitzende und stellvertretende Parlamentspräsident Mithat Sancar erklärte, seine Partei werde sich nicht aus dem Parlament zurückziehen, sondern weiter in der Volksvertretung für die Demokratie kämpfen. "Alle Probleme müssen mit demokratischen Mitteln gelöst werden", unterstrich Sancar. Erdogan greift die CHP in vielen seiner Reden an. Der HDP, die eine legale Partei ist, wirft er vor, der verlängerte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Die HDP weist das zurück. Zuletzt wurden Mitte Mai fünf HDP-Bürgermeister wegen Terrorvorwürfen festgenommen und des Amtes enthoben. Einer Sprecherin der Partei, Bermali Demirdögen, zufolge sind seit den Kommunalwahlen Ende März 2019 insgesamt 45 HDP-Bürgermeister abgesetzt worden. Damals waren zahlreiche Bürgermeisterposten an HDP-Politiker gegangen. Nur noch zwölf von ihnen verblieben im Amt. Üblicherweise setzt die Regierung Zwangsverwalter aus den eigenen Reihen ein. [3]

Meinungsumfragen sehen Erdogan und seine seit mehr als 17 Jahren regierende AKP infolge der durch die Coronapandemie weiter verschärften wirtschaftlichen Krise in einem Zustimmungstief. Die "Volksallianz" aus AKP und MHP käme derzeit nur noch auf 43 bis 48 Prozent. Auf den ersten Blick erscheinen daher mögliche vorgezogene Neuwahlen vor dem regulären Abstimmungstermin 2023 für den Präsidenten nicht ratsam. Da sich die Wirtschaftslage jedoch aller Voraussicht nach weiter verschlechtern wird, rechnen Oppositionskreise damit, daß die Regierung einen früheren Zeitpunkt anstrebt. Dafür spricht, daß AKP und MHP Änderungen des Wahl- und Parteiengesetzes zu ihren Gunsten planen. So sollen Wahlallianzen, die kleinen Parteien das Überspringen der Zehn-Prozent-Hürde ermöglichen, ebenso abgeschafft werden wie die für Erdogan derzeit nicht ohne weiteres zu erreichende Mindestmenge von 50 Prozent plus einer Stimme für die Wahl zum Präsidenten. Auch soll die gegenseitige Unterstützung von Oppositionsparteien durch den Parteiwechsel von Abgeordneten verboten werden. Mit dem Abgeordnetentransfer können sich kleinere Parteien die Teilnahme an Wahlen sichern, ohne die sonst nötigen Voraussetzungen wie den Nachweis von Parteibüros in mindestens der Hälfte des Landes zu erfüllen. Derzeit bauen die ehemaligen Erdogan-Mitstreiter Ali Babacan und Ahmet Davutoglu eigene Parteien auf, die AKP-Wähler abwerben wollen.

Das Regime erweckt vordergründig den Eindruck, es fänden demokratische Wahlen statt, um einen Sieg der AKP und MHP zu legitimieren. In der Türkei haben jedoch seit Jahren keine Urnengänge mehr stattgefunden, die nicht von der Regierung massiv manipuliert worden wären. Stets wurde die Opposition durch Propaganda, Verbote, Inhaftierungen und offene Gewalt unter Druck gesetzt. Daß sie dennoch wie bei den letztjährigen Kommunalwahlen in allen großen Städten gewann, war zweifellos ein Alarmsignal für das Regime, die Fortschreibung des Präsidialsystems und der Regierungsmacht zu sichern, bevor der Widerstand gegen die reaktionäre und repressive Umgestaltung der Gesellschaft nicht mehr einzudämmen ist. So hat das Parlament vor wenigen Tagen mit Regierungsmehrheit beschlossen, eine Hilfspolizei zu bewaffnen, die als Miliz Erdogans fungieren wird. Die sogenannten Nachbarschaftswächter wecken nicht von ungefähr Befürchtungen vor einer Art Schariapolizei, die monierte Abweichungen aller Art bespitzelt, denunziert und sanktioniert.

Welche Verhältnisse der türkischen Gesellschaft kraft dieses Regimes zugedacht sind, zeigt der Kurs Erdogans seit 2014 in aller Deutlichkeit. Hatte er bis dahin Kreide gefressen, um westliche Werte zu demonstrieren, setzt er seither die Ablehnung und Verfolgung ethnischer Minderheiten, das Primat eines fundamentalistischen Islam und den Kampf gegen emanzipatorische Bestrebungen wie insbesondere die Frauenbewegung auf seine Agenda. Damit kehrte er seine Herkunft aus dem Weg der Muslimbruderschaft und eines autokratischen Staates wieder hervor. 2002 wurde in der Türkei ein Gesetz verabschiedet, wonach der Ehemann nicht mehr das Oberhaupt der Familie sei. Seit 2004 steht in der Verfassung: "Frauen und Männer sind gleichberechtigt; der Staat ist verpflichtet, die Gleichheit zu verwirklichen." Die türkische emanzipatorische Frauenbewegung kämpft dafür, daß das nicht nur auf dem Papier steht.

Dagegen baut die AKP die konservative Frauenorganisation Kadem auf, deren Vizepräsidentin und Mitbegründerin Erdogans Tochter Sümeyye ist. Um die Gleichstellung von Frauen geht es dabei nicht, denn wie Erdogan 2014 auf einem Kadem-Kongreß unter Beifall klarstellte, könne man Frauen und Männer nicht gleichstellen, da das gegen die Natur sei. Kadem vertritt die Auffassung, daß die beiden Geschlechter von der Schöpfung her unterschiedlich seien und daher auch nicht gleichgestellt sein könnten, sondern einander ergänzen müßten.

Für heftige Debatten sorgt derzeit ein Gesetzentwurf der AKP, wonach der Mißbrauch von Kindern nicht mehr unter Strafe stehen soll, wenn Opfer und Täter heiraten. Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Minderjährigen könnten rückwirkend für straffrei erklärt werden, wenn der Altersunterschied zwischen den beiden nicht mehr als fünfzehn Jahre beträgt, das Opfer den Täter nicht angezeigt hat und einer Ehe zustimmt. Verteidigt wird das Vorhaben damit, daß Tausende Männer im Gefängnis säßen, weil sie mit einer Minderjährigen verheiratet seien, da auch in der Türkei das gesetzliche Heiratsalter bei achtzehn Jahren liegt. Schon seit langem plant die Regierung ein weiteres Gesetz, das einem Vergewaltiger Strafmilderung zusichert, wenn dieser sein Opfer heirate, weil dadurch die "Ehre der Frau" wiederhergestellt sei. Das Gesetz scheiterte trotz mehrmaliger Versuche am Protest der Frauenorganisationen, steht nun aber wieder auf der Agenda.

Die Türkei ratifizierte 2012 ein umfassendes Abkommen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen, die sogenannte Istanbul-Konvention, deren Umsetzung jedoch bis heute auf sich warten läßt. Im Februar 2020 kündigte Erdogan an, die Konvention noch einmal zu überprüfen, da sie Familien untergrabe und Männer zu Sündenböcken mache. Dabei steigt die Zahl von Frauenmorden und häuslicher Gewalt in der Türkei an. Allein im Jahr 2018 wurden 440 Frauen von ihrem Partner oder einem Familienmitglied ermordet, fast viermal so viele wie in Deutschland, und 2019 fielen in der Türkei 474 Frauen tödlichen Übergriffen zum Opfer.

Frauen, die gegen Gewalt, Mißbrauch und sexuelle Belästigung protestieren, bezeichnete Erdogan als "unislamisch". Gewalt gegen Frauen wird durch die Regierungspolitik der AKP befeuert und legitimiert, Repressionen gegen die Frauenbewegung nehmen zu: Frauenorganisationen werden verboten, neue Frauenhäuser oder Krisenzentren für Vergewaltigungsfälle bei der Polizei sind nicht in Sicht, Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen ist unerwünscht. Schon 1998 nannte Erdogan, damals Bürgermeister von Istanbul, Verhütung einen "Verrat", der den Fortbestand der Nation gefährde. 2014 bezeichnete er Frauen, die lieber arbeiten und Karriere machen wollen, als "mangelhaft". Frauen sollten mindestens drei Kinder gebären, damit die Türken nicht zur Minderheit werden. Das türkische Religionsministerium Diyanet rät Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, "Ruhe zu bewahren", den Mann zu besänftigen und, statt die Polizei zu rufen, lieber "abends etwas Schönes zu machen". [4] Das sind die Zustände patriarchaler Ausbeutung, Unterwerfung und Gewalt, die das Erdogan-Regime allen Frauen im Land als gottgewollte Ordnung aufzwingen will.


Fußnoten:

[1] www.jungewelt.de/artikel/379685.repression-in-der-türkei-schlag-gegen-opposition.html

[2] www.tagesspiegel.de/politik/erdogan-entzieht-eigenmaechtig-mandate-putsch-gegen-das-parlament/25891744.html

[3] www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-parlament-entzieht-drei-oppositionspolitikern-das-mandat-a-aff2d11b-247c-452e-be62-47d14a029e87

[4] www.heise.de/tp/features/Tuerkei-Zerschlagung-der-Frauenbewegung-4776562.html

9. Juni 2020


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