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REPRESSION/1709: Mordprozeß Lübcke - staatstragende Involvenzen ... (SB)



Da hat es sicherlich in der Vergangenheit Fehler gegeben, die sind auch eingeräumt worden, aber den Verfassungsschutz in Gänze jetzt in Frage zu stellen, das halte ich für falsch.
Andreas Grün (Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in Hessen) [1]

Kurz und bündig hat der hessische Polizeigewerkschafter Andreas Grün im Gespräch mit dem Deutschlandfunk auf den Punkt gebracht, worum es im Prozeß um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke geht. Der deutsche Staatsschutz hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, für die er nun einsteht, um wie der Phoenix aus der Asche geläutert und stärker denn je emporzusteigen. Behördenversagen hat es gegeben, so die angebliche Lehre aus der Geschichte, weshalb die Behörden generalüberholt werden müssen: Bessere Geheimdienste, aufgerüstete Polizeien und am besten eine organische Zusammenarbeit im Sicherheitsapparat, damit solche Pannen künftig vermieden werden. Viel zu viele Widersprüche im Umgang mit der extremen Rechten haben sich aufgetürmt, die das Vertrauen in die schützende Hand des Staates gravierend erschüttern könnten. Jetzt wird weißgewaschen, was das Zeug hält, und das eklatante Versagen von Verfassungsschutz & Co. an den Pranger gestellt. Daß er jedoch keineswegs versagt, sondern im Gegenteil höchst effizient mitgemischt haben könnte, um den Rechtsextremismus zu infiltrieren, zu steuern und im Dienste der Staatsräson zu instrumentalisieren, wird mit dem Verdikt der Meinungsmacht ausgeblendet und als Denkoption entsorgt.

Der Kehraus hat den gesamten Apparat erfaßt und unter begeisterter Schnitzeljagd der Medienmeute dazu geführt, daß plötzlich überall schwarze Schafe entdeckt und selbst konspirative Netzwerke nicht länger ausgeschlossen werden. Angeführt von der Bundesregierung, dem neuen Verfassungsschutzpräsidenten und dem BKA werden rechtsextreme Gruppierungen in Serie unter Beobachtung gestellt, verboten und verurteilt, Verstrickungen in der AfD, in Polizeien und der Bundeswehr identifiziert, sind sich Politik, Behörden und Presse auf einmal einig, daß die größte Bedrohung unserer Demokratie vom rechten Rand her drohe. Der Sicherheitsstaat fährt seine Krallen aus und lektioniert die extreme Rechte, wer Roß und wer Reiter im Zuge zugespitzter gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Kontrolle ist. Wurde die Rechte zuvor an der langen Leine geführt, so wird diese nun eingeholt, um den Fang aus dem Sumpf zu ziehen und der erschauernden Öffentlichkeit vorzuführen. Groß ist die Gefahr, doch noch stärker die Staatsgewalt, die allein Schutz und Rettung verspricht. So holt sich der Staat aus dem Riß im Gefüge sein Gewaltmonopol zurück und dessen aufpolierte Akzeptanz noch dazu, die in Zeiten entufernder Krisen und brüchiger Wohlstandsversprechen einen frischen Leim der Gesellschaft anrührt.

Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main muß den akrobatischen Spagat meistern, die Aufklärung eklatanter Widersprüche gefällig voranzutreiben, doch den Generalverdacht aus dem Feld zu schlagen. Nicht die behördliche Institution als solche sei das Problem, das es abzuschaffen gilt, sondern eine Anfälligkeit für interne Pannen, die mittels Effizienzsteigerung künftig vermieden werden können. Das überzeugend zu präsentieren wird jedoch nicht einfach sein, zumal dem Lübcke-Prozeß der NSU-Komplex im Nacken sitzt. Der Zusammenhang ist so naheliegend, daß das Gericht allerfeinstes Fingerspitzengefühl an den Tag legen müßte, um den Ruf nach Wiederaufnahme einer Untersuchung der unaufgeklärten Überlast zum Schweigen zu bringen oder zumindest ins Leere laufen zu lassen.

Parallelen drängen sich aus mehreren Gründen geradezu auf. Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) war nie wirklich abgetaucht, da das Kerntrio nicht ohne Unterstützer auskam und nachweislich immer wieder in der rechtsextremen Szene verkehrte. Da diese jedoch mit V-Leuten des Verfassungsschutzes durchsetzt war, konnte dem Inlandsgeheimdienst das Treiben des NSU nicht verborgen geblieben sein, zumal es in einschlägigen Kreisen wohlbekannt war und als Heldentum glorifiziert wurde. Ähnlich verhält es sich in Kassel, wo der harte Kern der Neonaziszene, der auch Stephan Ernst und Markus Hartmann angehören, nach Erkenntnissen der antifaschistischen Recherche-Website Exif aus nie mehr als 50 Personen bestand. Allein der hessische Verfassungsschutz, nämlich Andreas Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin, führten um das Jahr 2006 in dieser relativ kleinen Szene mindestens sieben V-Personen, wovon bis auf eine keine namentlich bekannt ist. Der als Haupttäter angeklagte Ernst und sein Komplize Hartmann galten später als "abgekühlt" und verschwanden angeblich vom Radar des Verfassungsschutzes, bis sie plötzlich den Mord an Lübcke verübten. Der Behörde müßte angesichts ihrer Durchdringung der Szene von innen jedoch bekannt gewesen sein, daß sich die beiden von einem bestimmten Zeitpunkt an eine bürgerliche Existenz zulegten, aber weiterhin in rechtsextremen Kreisen aktiv waren.

Hinzu kommt eine unmittelbare Überschneidung der beiden Szenarien, da die Mörder von Halit Yozgat, der 2006 in einem Kasseler Internetcafe erschossen wurde, und Walter Lübcke, der am 2. Juni 2019 mit einer Kugel im Kopf starb, denselben Unterstützerkreis gehabt haben könnten. Im Münchner NSU-Prozeß wurden Beweisanträge, in denen Nebenkläger eine mögliche Mitverantwortung von Sicherheitsbehörden thematisierten, von Bundesanwaltschaft und Gericht in der Regel als "nicht schuld- und strafrelevant" für die Angeklagten abgeschmettert. Am eklatantesten trat dieses Vertuschungsbemühen im Fall Halit Yozgat zutage, da der V-Mann-Führer Andreas Temme zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort war, aber nichts mitbekommen haben will. Unabhängige Recherchen legen nahe, daß er das hinter dem Tresen liegende Opfer gesehen haben muß. [2]

Da Temme als tatverdächtig galt, hörte man wochenlang seine Telefonanschlüsse ab und protokollierte die Gespräche, doch blieben die Ergebnisse unter Verschluß. Der damalige hessische Innenminister Volker Bouffier hielt seine schützende Hand über ihn und verhinderte mit einer Sperrerklärung sogar, daß Temmes V-Leute von der Polizei befragt werden konnten. Die Akten wurden für 120 Jahre gesperrt, was später auf 30 Jahre heruntergehandelt werden konnte, aber nach wie vor dafür spricht, daß höchst brisantes Material unter Verschluß gehalten wird, das auf keinen Fall öffentlich bekannt werden darf. Temme wurde 2007 ins Regierungspräsidium Kassel versetzt, ausgerechnet jene Behörde, der Walter Lübcke vorstand, den die rechte Szene haßte, weil er sich für die Aufnahme von Geflüchteten stark machte.

Geht man von einer Verstrickung des Verfassungsschutzes in rechtsextreme Umtriebe aus, wäre im nächsten Schritt zu klären, in welcher Form sie stattgefunden hat. Wenngleich es die Vorwurfslage nicht vom Grundsatz her ändert, macht es schon einen Unterschied, ob das infiltrierte Treiben lediglich beobachtet oder aber angestachelt und vorangetrieben wurde, wie das beim Einsatz von V-Leuten häufig der Fall ist. Bekanntlich war der Thüringer Heimatschutz, aus dessen Dunstkreis unter anderem der NSU hervorging, in erheblichem Maße ein Geschöpf des Verfassungsschutzes, der ihn aufbaute, finanzierte und über einen V-Mann leitete. Was Andreas Temmes betrifft, müßte nach heutigem Erkenntnisstand sogar der Verdacht im Raum stehen, daß der ehemalige Verfassungsschutzbeamte als Hauptverdächtiger im Mordfall Halit Yozgat anzusehen sei.

In der Vorgeschichte von Stephan Ernst und Markus Hartmann fällt auf, daß beide zum selben Zeitpunkt, nämlich nach dem Amgriff von rund 400 Neonazis auf die DGB-Kundgebung am 1. Mai 2009 in Dortmund, nach außen hin nicht mehr straffällig in Erscheinung traten. Damals durchbrachen die Angreifer eine Polizeikette und attackierten die Gewerkschafter mit Latten und Steinen. Obwohl Ernst mehrfach einschlägig vorbestraft war und nun wegen Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt wurde, kam er mit einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung davon, während Hartmann gänzlich ungeschoren blieb. Das legt den Verdacht nahe, daß es im Falle Ernsts zu einer wie auch immer gearteten Absprache mit dem Staatsschutz gekommen sein könnte.

Was Hartmann betrifft, wäre im Frankfurter Prozeß zu prüfen, ob er womöglich ein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen oder noch immer ist. Beweisen läßt sich diese These bislang nicht, doch gibt es gewisse Anhaltspunkte, die eine solche Erwägung nahelegen. Soweit bislang bekannt, war er insofern die treibende Kraft bei der lang angelegten Vorbereitung des Mordes an Walter Lübcke, als er Waffen beschaffte, Ernst beim Schießtraining anleitete und nach Aussage seiner früheren Lebensgefährtin eher der "Denker" und Ernst der "Macher" war. Ab Mitte 2016 entwickelten die beiden nach Bewertung der Bundesanwaltschaft den Plan, einen Anschlag auf Walter Lübcke zu verüben, wobei sie parallel zu den heimlichen Vorbereitungen des Mordes in der rechtsextremen Szene aktiv blieben.

In einer Sitzung des Ausschusses für Inneres und Heimat am 15. Januar 2020 antwortete Exif zufolge Cornelia Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft auf die Frage, ob Markus Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei, sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. Zuvor hatte ein Vertreter der GBA auf die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, ohne Umschweife erklärt, man könne dies seitens seiner Behörde ausschließen. Dieses Statement blieb bei Markus Hartmann aus.

Kürzlich wurde bekannt, daß der hessische Verfassungsschutz wichtige Erkenntnisse zu Hartmann nicht weitergeleitet hat, weshalb dieser legal Waffen besitzen konnte. Die Waffenbehörde der Stadt Kassel hatte ihm wegen seiner rechtsextremen Aktivitäten zunächst keine Waffenbesitzkarte erlaubt, die er sich aber 2015 vor dem Verwaltungsgericht erstritt. Laut Waffenrecht gilt eine Person unter anderem als unzuverlässig, wenn sie innerhalb der letzten fünf Jahre verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt hat. Der Verfassungsschutz berichtete jedoch nur über solche Aktivitäten Hartmanns bis 2009, obwohl nach Recherchen des NDR ein Eintrag aus dem Jahr 2011 vorlag. Der Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz in Hessen, Robert Schäfer, sagte dazu lapidar, er habe keine Erklärung, warum die Erkenntnisse aus dem Jahr 2011 nicht übermittelt wurden. Ob es ein Fehler war, könne er heute nicht beurteilen, so Schäfer. "Richtig ist, dass wir das heute anders machen würden." [3]

Ließe sich der Verdacht erhärten, daß es eine behördliche Absprache mit Stephan Ernst gegeben hat oder Markus Hartmann sogar ein V-Mann des Verfassungsschutzes war, hätte dies verheerende Konsequenzen für die Bewertung des Mordes an Walter Lübcke. Daher steht zu vermuten, daß die Prozeßführung in Frankfurt eine diesbezügliche Klärung verhindern wird. Was auf dem Spiel steht, faßte der damalige Vize-Chef des Verfassungsschutzes Klaus-Dieter Fritsche als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuß in Berlin am 18. Oktober 2012 prägnant zusammen:

Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren. Es darf auch nicht so weit kommen, dass jeder Verfassungsfeind und Straftäter am Ende genau weiß, wie Sicherheitsbehörden operativ arbeiten und welche V-Leute und verdeckten Ermittler im Auftrag des Staates eingesetzt sind. Es gilt der Grundsatz "Kenntnis nur wenn nötig". Das gilt sogar innerhalb der Exekutive. Wenn die Bundesregierung oder eine Landesregierung daher in den von mir genannten Fallkonstellationen entscheidet, dass eine Unterlage nicht oder nur geschwärzt diesem Ausschuss vorgelegt werden kann, dann ist das kein Mangel an Kooperation, sondern entspricht den Vorgaben unserer Verfassung. Das muss in unser aller Interesse sein. [4]


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/trotz-pannen-im-fall-luebcke-polizeigewerkschafter.694.de.html

[2] www.jungewelt.de/artikel/380321.risse-in-die-mauer.html

[3] taz.de/Mord-an-CDU-Politiker-Walter-Luebcke/!5692217/

[4] www.heise.de/tp/features/Der-Luebcke-Prozess-in-Frankfurt-4778677.html

17. Juni 2020


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