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KULTUR/0791: Benedikts Sozialenzyklika ... Unio mystica aus Markt und Moral (SB)



Von dem obersten Vertreter der katholischen Kirche zu erwarten, in sozialen Fragen eine andere Position einzunehmen als die derjenigen, die sich seit jeher auf die herrschaftsichernde Funktion des Glaubens stützen, wäre selbst in der Weltwirtschaftskrise vermessen. Die erste Sozialenzyklika dieses Papstes kommt denn auch, legt man die Redundanz der Ausflüchte zugrunde, mit der Benedikt XVI. die einfache Metapher vom vermeintlichen Wunder der Speisung der Zehntausend als streitbarer Angriff auf den Primat materieller Not und seine Aufhebung durch praktische, niemanden ausschließende Solidarität zu negieren versucht, als geradezu geschwätziges Konvolut der Bestätigung herrschender Verhältnisse daher. In dem zwischen Marktideologie und Glaubensethik changierenden Wortschwall bleibt alles auf der Strecke, was nicht zuletzt die von diesem Papst erbittert bekämpfte Befreiungstheologie vertritt - tätiges Handeln zugunsten notleidender Menschen im Zweifelsfall auch wider die Verbote, mit denen die Herrschenden ihre Privilegien sichern.

"Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll, und vermag nicht einmal zu begreifen, wer er ist", zitiert die Tageszeitung Die Welt (08.07.2009) aus der Enzyklika "Caritas in Veritate" und diktiert: "Es verbietet sich, einen Text von solcher Unbedingtheit zu nutzen, um in aktuellen Kämpfen Terrain zu gewinnen - für welche Position auch immer: Sei es für die globalisierungseuphorische, sei es für die globalisierungsskeptische. Ein Papst ist nicht in Dienst zu nehmen". Das Springer-Blatt greift Benedikts Angebot, konkrete Fragen kreatürlicher Not in den Himmel der Ungreifbarkeit zu verschieben, dankbar auf, um sich von vornherein jede Kritik an der päpstlichen Botschaft zu verbieten. Das tut die Zeitung aus gutem Grund, denn schaut man auch nur passagenweise in dem umfangreichen Dokument etwas genauer hin, dann entdeckt man schnell, daß Josef Ratzinger konkrete Politik betreibt, und sicherlich keine, die der Kritik von Globalisierungsgegnern entgegenkommt.

Dabei rüstet er den zivilreligiösen Charakter des Marktmythos als eines Selbstregulativs, das man nur walten lassen müsse, um die preisgünstigsten Ergebnisse zu erzielen, mit moralischen und ethischen Kriterien aus dem Katechismus von Glaube, Liebe, Hoffnung zu einer Bestätigung der herrschenden Gesellschafts- und Weltordnung auf, mit der die davon Profitierenden bestens leben können. Um sich gegen eine Totalität der Marktlogik zu verwahren, die am Ende auch noch Legitimationsproduzenten wie seine Kirche verzichtbar machte, bedient sich Benedikt in dem Text der Relativierung marktwirtschaftlicher Funktionslogik durch die sinnstiftenden Qualitäten, die aus der Verankerung dieser Ordnung in der Wahrheit seines Glaubens hervorgehen. Dabei entstehen Rezitative von beinahe beschwörendem Charakter, denen man die Nähe ihres Autoren zum Ritual des Betens anmerkt.

"Markt ist, wenn gegenseitiges und allgemeines Vertrauen herrscht, die wirtschaftliche Institution, die die Begegnung zwischen den Menschen ermöglicht, welche als Wirtschaftstreibende ihre Beziehungen durch einen Vertrag regeln und die gegeneinander aufrechenbaren Güter und Dienstleistungen austauschen, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen. Der Markt unterliegt den Prinzipien der sogenannten ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Beziehungen des Gebens und Empfangens zwischen gleichwertigen Subjekten regelt. Aber die Soziallehre der Kirche hat stets die Wichtigkeit der distributiven Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit für die Marktwirtschaft selbst betont, nicht nur weil diese in das Netz eines größeren sozialen und politischen Umfelds eingebunden ist, sondern auch aufgrund des Beziehungsgeflechts, in dem sie abläuft. Denn wenn der Markt nur dem Prinzip der Gleichwertigkeit der getauschten Güter überlassen wird, ist er nicht in der Lage, für den sozialen Zusammenhalt zu sorgen, den er jedoch braucht, um gut zu funktionieren. Ohne solidarische und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Handlungsweisen in seinem Inneren kann der Markt die ihm eigene wirtschaftliche Funktion nicht vollkommen erfüllen. Heute ist dieses Vertrauen verlorengegangen, und der Vertrauensverlust ist ein schwerer Verlust."

Man braucht den hier verwendeten Begriff der "ausgleichenden Gerechtigkeit" zwischen den Marktteilnehmern nur auf die zur Kapitalakkumulation erforderliche Mehrwertabschöpfung sowie die durch den Welthandel auszubeutenden Unterschiede im Lohnniveau anzuwenden, um zu wissen, daß sich im Tauschverhältnis nichts abgleicht, was nicht zum überwiegenden Vorteil eines Handelspartners ausfiele. Wäre es anders, dann könnte es auf der Welt keinerlei Unterschiede im Versorgungsniveau geben, die für Millionen einen vorzeitigen mangelbedingten Tod bedeuten. Um sich diesem Problem nicht stellen zu müssen, greift der Papst zur Instanz des Vertrauens, einer letztlich völlig passiven Strategie der Überantwortung an die herrschenden Verhältnisse, der das Attribut "blind" nicht eigens beigefügt werden muß.

Benedikt weiß allemal, welche Geister er ruft, wenn er eine Gleichheitsideologie predigt, die ihr inneres Credo in der verwertungsaffinen Vergleichbarkeit des Kapitals, der Waren und der Arbeit findet.

"Die Armen dürfen nicht als eine »Last« angesehen werden, sondern als eine Ressource, auch unter streng wirtschaftlichem Gesichtspunkt. Es muß jedoch die Sichtweise jener als unrichtig verworfen werden, nach denen die Marktwirtschaft strukturell auf eine Quote von Armut und Unterentwicklung angewiesen sei, um bestmöglich funktionieren zu können. Es ist im Interesse des Marktes, Emanzipierung zu fördern, aber um dies zu erreichen, darf er sich nicht nur auf sich selbst verlassen, denn er ist nicht in der Lage, von sich aus das zu erreichen, was seine Möglichkeiten übersteigt. Er muß vielmehr auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen, die diese hervorbringen können."

Armut als Ressource zu begreifen, noch dazu in einem explizit wirtschaftlichen Sinn, affirmiert die Produktion des Mangels als Triebkraft jeglicher Ökonomie. Ohne Not entsteht keine von Gewinnstreben angetriebene Verteilungsordnung, in der sich die einzelnen Akteure als freie und gleiche Teilnehmer gegenübertreten, um die Früchte einer Produktivität zu ernten, die mit Blut, Schweiß und Tränen ihrer Urheber längst überbezahlt wurde. Daß etwas "im Interesse des Marktes" sei, kann nur Ergebnis einer Abstraktion sein, die eigens dafür konzipiert wird, den Sachverhalt der Ausbeutung zu verschleiern. Wenn Benedikt den Markt als Akteur mit eigenem Möglichkeitshorizont konzipiert, der "auf die moralischen Kräfte anderer Subjekte zurückgreifen" müsse, um sich zu emanzipieren, dann weist er diesem theoretischen Konstrukt eine Subjektqualität zu, die im Rahmen seiner eigenen Glaubensdoktrin als heidnischer Götzenkult verurteilt werden müßte.

Nur mit derart widersprüchlichen Manövern kann der Papst legitimieren, was aus seiner Botschaft der Menschenliebe niemals zu rechtfertigen wäre, wenn er sie denn ernst meinte. Die Produktion millionenfachen Sterbens durch ein System der Akkumulation, das auf der Ausbeutung anderer Menschen und der natürlichen Lebensvoraussetzungen aufbaut, ist nur zu rechtfertigen mit der Irrationalität eines Glaubens, der auf nichts fußt als dem demonstrativen Gültigkeitsanspruch der ihn propagierenden Institution Kirche. Diese wiederum muß seit der Trennung von Thron und Altar säkularen Kräften zuarbeiten, um die eigene Existenz zu sichern, und das tut sie in diesem Fall durch die Unio mystica von kapitalistischer Marktwirtschaft und christlicher Moral.

"Die Kirche vertritt seit jeher, daß die Wirtschaftstätigkeit nicht als antisozial angesehen werden darf. Der Markt ist an sich nicht ein Ort der Unterdrückung des Armen durch den Reichen und darf daher auch nicht dazu werden. Die Gesellschaft muß sich nicht vor dem Markt schützen, als ob seine Entwicklung ipso facto zur Zerstörung wahrhaft menschlicher Beziehungen führen würde."

Die Heiligung menschlicher Produktivität muß nicht kapitalistische Verwertungsformen meinen, doch indem Ratzinger gerade dies tut, fördert er die Destruktivität, die er einfach wegbehauptet. Wenn nur Beziehungen zwischen Menschen, die von der entfremdenden Wirkung der Warenform nicht zu korrumpieren sind, "wahrhaft" wären, müßte der Papst ein radikaler Antikapitalist sein. Wieso sonst sollte er ein Gesellschaftssystem gutheißen, das mit menschlichem Miteinander nicht vereinbar ist, weil dem Markt keine emanzipatorische Qualität innewohnt? Die Antwort liegt auf der Hand - die Kirche nährt sich am Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital, den zu harmonisieren unter Aufrechterhaltung seiner ausbeuterischen Wirkung ihre Hauptaufgabe ist.

Aus diesem die eigene Unentbehrlichkeit festschreibenden Nutzungsverhältnis resultieren die opportunistischen Thesen des Papstes, die dem Eintreten seines Religionsstifters Jesus Christus gegen die auf Not und Zwang basierende Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht fremder sein könnten. Es widerspricht dem sozialrevolutionären Tun jenes Juden, der sich nicht zu schade war, sich mit den Elendsten und Verworfensten gemein zu machen, zutiefst, auf seinem Rücken eine sakrale Ordnung des oben und unten zu errichten, die mit der Unterstellung der notgedrungenen Bedingtheit solidarischen Handelns das Jammertal ausbaut, anstatt es zu überwinden:

"Die Formen solidarischen Wirtschaftslebens hingegen, die ihren fruchtbarsten Boden im Bereich der Zivilgesellschaft finden, ohne sich auf diese zu beschränken, schaffen Solidarität. Es gibt keinen Markt der Unentgeltlichkeit, und eine Haltung der Unentgeltlichkeit kann nicht per Gesetz verordnet werden. Dennoch brauchen sowohl der Markt als auch die Politik Menschen, die zur Hingabe aneinander bereit sind."

Der Mensch nach dem Bild Benedikts handelt nicht aus der Einsicht heraus, daß der Schmerz des anderen immer auch der eigene ist, solidarisch, sondern in Abhängigkeit von einer ökonomischen Bedingtheit, die noch dazu mit plattestem Positivismus unter den Primat einer ausnahmslosen Verwertungslogik gestellt wird. Diese Überantwortung des gesellschaftlichen Lebens an seine kapitalistische Form wird mit der Forderung des Karitativen auf eine Weise schöngeredet, wie es die Apologeten der Almosengesellschaft, in der den Armen nur zusteht, was vom Tisch der Reichen fällt, nicht besser hätten tun können. Was Benedikt zum Leitprinzip der Liebe verabsolutiert, wird durch einen Mangel in die Welt gesetzt, dessen konstitutiver Charakter keinesfalls in Frage gestellt werden soll. Daß eine solche Religiosität auf jenseitige Versprechen angewiesen ist, geht schon daraus hervor, daß sie auf diesseitige Streitbarkeit verzichtet. Zu Bescheidenheit und Unterwürfigkeit aufzufordern tut angesichts der wachsenden Armut allemal Not. Akzeptanz dieses in der religiösen Quintessenz gottgegebenen Zustands schaffen und jedes Aufbegehren gegen diese Ordnung zu verhindern ist der Kern der Botschaft dieser Sozialenzyklika.

Das fordert der Papst ganz offen, indem er angeblich "blinden Widerstand" gegen die Globalisierung als "falsche Haltung" und "ein Vorurteil" brandmarkt, "das schließlich dazu führen würde, einen Prozeß zu verkennen, der auch viele positive Seiten hat", so daß man Gefahr laufen könnte, "eine große Chance zu verpassen, an den vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten teilzuhaben, die dieser bietet." Anstatt unten aufzustehen und die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße zu stellen, plädiert der deutsche Papst für die globale Qualifizierung der Verfügungsverhältnisse unter einer "Weltautorität". Diese soll unter anderem "einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten" vorbeugen, als sei das Kind nicht schon in den Brunnen gefallen, sie soll die "Migrationsströme (...) regulieren", anstatt Flüchtlingen wie der heiligen Familie Asyl zu geben, wo immer sie dies benötigen, und sie soll natürlich über ein Gewaltmonopol verfügen soll, mit dem sie nicht "vom Kräftegleichgewicht der Stärkeren bestimmt" werden kann.

Jeder weiß, daß in dieser Weltordnung kein Gleichgewicht der Kräfte existiert, sondern die unipolare Machtentfaltung der NATO-Staaten deren Werte und Normen bestimmt und dies auch in Zukunft tun soll. Getreu des Führungsanspruchs der "internationalen Gemeinschaft", deren Interessen stets denen der westlichen Industriestaaten entsprechen, votiert der deutsche Papst für ein Regulationsmodell, das der politischen und kulturellen Zugehörigkeit seiner Kirche am meisten entgegenkommt. Wo Unionschristen und Liberale tönen "Sozial ist, was Arbeit schafft", um der inversen Schmähung "Unsozial ist, was Geld für Sozialtransfers kostet" gemäß auf Hartz IV-Empfänger einzudreschen, baut der Papst daran, den Wahrheitsanspruch der herrschenden Ordnung durch moralische Blenderei noch unhinterfragbarer als bisher schon zu machen. Es wäre müßig, von diesem Chef einer der ältesten Institutionen der Welt etwas anderes zu erwarten als das zu tun, wodurch sich Popen zu jeder Zeit ausgezeichnet haben. Es wäre allerdings auch leichtfertig, seine Legitimationsmethodik zu ignorieren, entspringt sie doch den gleichen Diskursen, derer sich auch weltliche Herrscher bedienen, um ihre machiavellistischen Praktiken hinter dem PR-Schirm wohlmeinender Menschenfreundlichkeit zu verbergen.

(Zitate aus CARITAS IN VERITATE, 29.06.2009, www.vatican.va)

8. Juli 2009