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KULTUR/0819: Mehr "Achtsamkeit" ... zum größeren Vergessen (SB)



Mehr "Achtsamkeit" ... der Bundespräsident scheint ein Volk von Schläfern vor sich zu haben. Gewaltexzesse wie den Amoklauf von Winnenden oder die Ermordung eines Mannes auf einem S-Bahnhof in München, der engagiert versuchte, einen Streit zu schlichten, sind kaum die Folge zu geringer Aufmerksamkeit. Gleichgültigkeit, ein notorischer Mangel an Empathie, Egozentrik ... davon hat Horst Köhler nicht nachdrücklich gesprochen, weil allzu offensichtlich würde, daß es sich um Auswüchse eines ökonomisch gewollten Konkurrenzverhaltens handelte. Seine Forderung, mehr auf den andern zu achten, grenzt nicht von ungefähr an eine Form der Sozialkontrolle, die früher mit dem Begriff der Blockwartmentalität verächtlich gemacht und abgelehnt wurde. In Zeiten, in denen der Staat auf die Kompetenz eines Gewaltdienstleisters reduziert wird, um der Kapitalmacht Schutz zu bieten und ihr ansonsten nicht hineinzureden, erfreut sich die Überwachung des andern insbesondere deshalb neuer Attraktivität, weil sie sozial determiniert ist.

"Geld hat man, oder man hat es nicht", lautet die krude Maßregel, nach der die Gesellschaft der Bundesrepublik organisiert ist. Wer es nicht hat, obwohl er sich mit mehreren Niedriglohnjobs ins Zeug legt, wer es nicht hat, weil keine Lohnarbeit verfügbar ist, der kann sich über einen Mangel an Achtsamkeit nicht beklagen. Streng wird darauf geachtet, daß er nicht aus staatlichen Quellen schöpft, um über das Stadium eines Hungerleiders hinauszugelangen oder gar seinen Kindern etwas zu Weihnachten zu schenken, das diese bei ihren Ausflügen in die glitzernde Einkaufswelt erblickt haben und nun als unerfüllbaren Wunsch mit sich herumtragen. Sie wissen, daß sie nicht erhalten werden, was ihre Altersgenossen auf dem Gabentisch finden, weil die Aussichtslosigkeit ihrer subalternen Existenz von den Eltern an die Kinder weitergereicht wird.

"Achtsam leben, das heißt auch, sich für eine gerechte Ordnung einsetzen, bei uns und in der Welt". Da gebe es noch viel zu tun, führt Bundespräsident Horst Köhler mahnend aus und geißelt die "Maßlosigkeit bei Finanzakteuren und Mängel bei der staatlichen Aufsicht", die angeblich "die Welt in eine tiefe Krise gestürzt" hätten. Wenn das Problem des kapitalistischen Wirtschaftens so überschaubar gelagert wäre, daß es lediglich "Ehrbarkeit und bessere Regeln in der Finanzwirtschaft" bedürfte, um Krisen zu verhindern, dann hätte es gar nicht erst so weit kommen können.

Köhler geißelt die Finanzmanager, um sie zu entlasten. Er erweckt den Eindruck, daß die Krise des Kapitalismus beherrschbar wäre, wenn nur alle guten Willens sind. Daß dieses Problem der expansiven, Natur und menschliche Arbeit ausbeutenden Produktions- und Wirtschaftsweise immanent ist und mit dem Ethos des ehrbaren Kaufmanns nicht einmal an der Oberfläche angekratzt wird, belegt Köhlers pastoraler Appell, "wir brauchen das Verständnis dafür, dass Geld den Menschen dienen muss und sie nicht beherrschen darf". Das abstrakte Tauschäquivalent Geld tut gar nichts, es herrscht nicht, es arbeitet nicht, es produziert und verbraucht nicht. Als Substitut menschlicher Produktions- und Wirtschaftsweise vermittelt Geld die Interessen der dabei bevorteilten und benachteiligten Akteure. Daß dies stets auf so entschiedene Weise erfolgt, daß der Vorteil des einen der Nachteil des anderen ist, ist keine Eigenschaft des Geldes, sondern Ausdruck der seinen Gebrauch konstituierenden Verfügungsstruktur. Wer gegen das Recht auf Eigentum verstößt, das dem Recht auf Leben vorgeschaltet ist, da es ohne lebensbedrohlichen Mangel keinen bis zur Vernichtung des anderen belastbaren Hebel der Kapitalakkumulation geben kann, der wird in die Acht erklärt, sprich zum Preise seiner Freiheit geächtet.

Menschen werden immer von Menschen beherrscht, das gilt selbst für Naturzwänge wie Dürren oder Fluten, deren Opfer aus ökonomischen Gründen sich selbst überlassen bleiben. Das Credo der Globalisierung, daß alles mit allem verbunden wäre und es aufgrund dieser hochgradigen Interdependenz nicht nur nicht mehr möglich, sondern auch nicht wünschenswert wäre, das Rad weltwirtschaftlicher Integration zurückzudrehen, wird bezeichnenderweise immer dann vergessen, wenn die existentielle Not anderer Menschen entschiedenes Eingreifen von rein humanitärer anstelle zivilmilitärischer Art erforderte.

So fällt es dem Bundespräsidenten, gerade weil er selbst einmal Finanzmanager war, leichter, die Gier der eigenen Klasse zu verurteilen, als die Ohnmacht der überflüssig Gemachten zum Problem einer Gesellschaft zu erheben, die das sozialdelinquente Element schon lange vor dem offiziellen Ausbruch der Wirtschaftskrise auf Magerkost gesetzt und unter Aufsicht gestellt hat. Moralische Appelle haben den Vorteil, nachvollziehbar zu sein und damit den Eindruck zu erwecken, die Reichen hätten im Grunde genommen keine anderen Probleme als die Armen. Die Ordnung von Himmel und Erde wird gefestigt, indem man den Göttern menschliche Züge verleiht und dem Plebs ihre Irrungen und Wirrungen in telemedialen Seifenopern zum Gespött vorwirft. Da die Gier nach der nächsten Million und der Hunger nach einer warmen Mahlzeit wesensgleich menschlich sind, erfüllt sich das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes auf beabsichtigte Weise als Garant einer Stabilität, nach deren qualitativen Gehalt nicht gefragt wird, weil sie als Voraussetzung systemischer Bestandssicherung längst von selbstevidentem Nutzen ist.

Die Achtsamkeit des Staates soll all seinen Subjekten unterschiedslos gelten. Ihr Tun und Treiben wird erfaßt, gespeichert, analysiert und evaluiert, daß es den damit befaßten Behörden und Beamten nicht nur großzügig bemessene Etats beschert, sondern Informationen über den einzelnen Bürger freisetzt, die Dinge zutage fördern, von denen er selbst nicht weiß. Je umfassender die personenspezifischen Daten und je ausgefeilter die sie auswertenden Algorithmen sind, desto prognosesicherer fallen die erstellten Profile aus. Wo der eine Bürger den andern aufmerksam beäugt, daß dieser im Wettkampf um die besseren Lebensbedingungen ihm ja keinen Schritt voraus ist, da ist der Staat längst hinter dem Ereignishorizont auf alle Eventualitäten vorbereitet.

Die Abwehr potentieller Feinde ermächtigt ihn dazu, nicht zu warten, bis diese sich als solche zu erkennen geben, sondern sie mit Hilfe seines prognostischen Instrumentariums als Feinde zu markieren. Da die Kriterien der drohenden Gefahr seinen Wertmaßstäben entspringt, braucht der Feind keinen Vorsatz, um übler Absichten bezichtigt zu werden. Die von ihm ausgehende Bedrohung besteht im wesensmäßig anderen, im fremden, das die nationale Schicksalsgemeinschaft erst konstituiert. Dieser qua Geburt zugehörig, erscheint dem gutsituierten Bürger die Möglichkeit, selbst einmal zum Feind, zum fleischgewordenen anderen mutieren zu können, so undenkbar wie der Gedanke, er könne eines Tages das Schicksal der Milliarden Menschen teilen, deren Leben am seidenen Faden des ungewissen Erhalts einer nächsten Mahlzeit hängt. Damit ihm auch in Zukunft nichts übles schwant, soll er seine ganze Achtsamkeit auf die Sicherung dessen richten, was ihm längst genommen wurde. Nur so kann er daran gehindert werden, sich zu erinnern, daß eine menschliche Position überhaupt erst entstehen könnte, wenn die Gegenseitigkeit des Raubes überwunden wäre.

24. Dezember 2009