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KULTUR/0832: "Postutopische" Sinnsuche bourgeoiser Geisteseliten (SB)



"Glauben und Zweifeln" - mit dieser neuen Seite im Feuilleton will die Wochenzeitung Die Zeit einer "dringenderen Sinnsuche" in der Gesellschaft Rechnung tragen, so die Leiterin des Projekts, Evelyn Finger. Die Herkunft dieses Bedürfnisses verortet die Redakteurin im Interview mit Deutschlandradio Kultur (01.04.2010) im ideologischen Paradigmenwechsel der 1990er Jahre. Mit dem damals ausgerufenen "Ende der Geschichte" hätten nicht nur religiöse Glaubensysteme, sondern auch die "säkularen Erlösungsutopien" einen Glaubwürdigkeitsverlust hinnehmen müssen, so daß man sich heute in einer "postreligiösen, postutopischen Epoche" befände.

Diese zur Unhinterfragbarkeit historisierte Befindlichkeit nimmt als Ausgangspunkt für die Frage, wie sich in dieser Epoche "Sinnstiftung für eine Gesellschaft" erwirtschaften ließe, die Antwort vorweg. Zwar wird eigenständiges Denken betont, aber bitte nicht über den Horizont einer Bedingtheit hinaus, die in Frage zu stellen mehr verlangte als das Bekenntnis zu einer aufklärerischen Geisteshaltung, die strikt auf dem Boden des empirisch Machbaren verbleibt. Der "Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen" und "die Möglichkeit, die Welt, wie sie ist, zu hinterfragen" verkommen bei Finger zum bloßen Reflex eines emanzipatorischen Anspruchs, der sich unter dem Diktat der Realitätstauglicheit letztlich wieder mit frommen Wünschen und Hoffnungen zu bescheiden hat.

Die produktive Enttäuschung, die aus dem Scheitern religiöser wie säkularer Eschatologien entsteht, führt keineswegs zwangsläufig zur Anerkennung des unwiderruflichen Scheiterns einmal in Angriff genommener gesellschaftlicher Utopien. Die von Finger aufgeworfene Frage, wie wir leben, "wenn am Horizont der Zukunft kein Gott und kein säkulares Heilsversprechen mehr ist", kann nur dann als weiterführender Schritt verstanden werden, wenn die für jeden gesellschaftlichen Fortschritt erforderliche Ernüchterung in die Ungebrochenheit streitbarer Nichtakzeptanz mündet.

Wird der ökonomische Mangel als unüberwindliche gesellschaftliche Realität akzeptiert, dann ist alles Reden von menschlicher Würde hohl und nichtig. Ohne die unterschiedslose materielle Bemittelung der Menschen mit den Dingen und Leistungen, die für ein würdiges Leben erforderlich sind, zur wichtigsten aller politischen Forderungen zu erheben bleibt das Räsonieren über die Sinnfrage intellektueller Zeitvertreib für den arrivierten bourgeoisen Geschmack. Der zentrale gesellschaftliche Konflikt zwischen arm und reich erscheint zu profan, als daß er wesentliches zum Lebenssinn beizutragen hätte, wird mit einer Wertedebatte suggeriert, die soziale Widersprüche konsequent ignoriert, indem sie sie zum Verwaltungs- und Verteilungsproblem erklärt. So wird einer ganz materiellen Herrschaftsethik gefrönt, der das Versprechen auf unbegrenzten Reichtum für alle Menschen durch finanzkapitalistische Akkumulation glaubwürdiger erscheint als die Einsicht, daß räuberische Interessen nicht von selbst verschwinden.

Utopisch am Kommunismus ist das vorherrschende Interesse an der Sicherung des Bestehenden und nicht die prinzipielle Unmöglichkeit einer Entwicklung, die nicht auf Raub basiert. Nicht das Versprechen auf Erlösung macht das Wesen kommunistischer Emanzipation aus, sondern die ganz praktische Würdigung des andern im persönlichen Handeln und Tun. Von egoistischer Vorteilsnahme und expansivem Territorialverhalten abzusehen ist keine Angelegenheit einer Ethik, die herrschende Verhältnisse zementiert, indem sie dagegen gerichteten Forderungen die Spitze nimmt, sondern direkte Folge der Unteilbarkeit biologisch determinierter Existenz. Das Verhängnis der gegenseitigen Assimilation zu überwinden gelingt ganz sicher nicht durch die Flucht in die sozialdarwinistische Atomisierung, die weniger bedrohlich erscheint als die Aufhebung des Eigentumsanspruchs durch den vermeintlichen Individuationsverlust gemeinschaftlichen Handelns.

Hoffnungen und Wünsche sind mit dem Scheitern sozialistischer Gesellschaftsexperimente nicht verschwunden, sondern florieren heftiger denn je. Allein ihr Horizont hat sich verengt, bescheidet man sich nun auf das Glück im Winkel, auf naheliegende Konsumversprechen und attraktive Aufstiegschancen, anstatt gesellschaftlichen Entwicklungen, die allen Menschen zugute kämen, streitbar das Wort zu reden. Versprechen erfüllen nach wie vor die Aufgabe, als schöner Schein die Unmöglichkeit zu unterstellen, das Machbare zu tun. Als utopisch hingegen werden mit fortgesetzter biologistischer Zurichtung des Menschen bald auch nützliche Postulate wie der freie Wille und die prinzipiell gewährte Menschenwürde verworfen werden. Die bürgerliche Geisteselite ist krampfhaft auf der Suche nach Erklärungsmodellen, die ihre Privilegien schützt, anstatt daß diese der Entwertung herrschaftskritischer Ideologie zum Opfer fallen. Erkenntnisse, die im Zusammenwirken von Theorie und Praxis reale Schritte hin zur Befreiung aller Menschen von Not und Zwang bewirken, ohne daß die Sinnfrage zuvor beantwortet werden müßte, können da nur stören.

5. April 2010