Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KULTUR/0846: "Wir" und "die anderen" ... wer braucht die Nation? (SB)



Überdimensionale Deutschlandfahnen an öffentlichen Gebäuden, vor denen der Passant in Ehrfurcht erstarrt, Autos mit gleich mehreren schwarzrotgoldenen Standarten, mit denen der Fortschritt der Nation auf ganz gegenständliche Weise Raum greift, Massenversammlungen beim Public Viewing, mit denen demonstriert wird, daß "wir" wieder wer sind und daß Uniformität ganz bunt und locker daherkommen kann - es ist Fußball-WM, und alle gehen hin. Was 2006 als "Sommermärchen" mit dem wundersamen Glück neuen Sinns gefeiert wurde, bedarf desto dringender der Wiederholung, als es ansonsten wenig zu lachen gibt. Nun zahlt sich aus, daß vor vier Jahren endgültig erledigt wurde, womit sich die Bundesbürger angeblich unnötigerweise schwertaten. Unbeschwerten Herzens genießen, empfahl die alle in ihrer individuellen Gestalt zu gleichen Bürgern erklärende und als Partikel der großen Maschine an ihren jeweiligen Arbeitsplatz stellende Kampagne "Du bist Deutschland". Die neofeudale Ständegesellschaft feiert ihren Triumph mit dem einigenden Band des Jubels zur Fahne, zur Nation. Was als "positiver Patriotismus" angepriesen wurde, bedurfte des Schuldbeladenen nicht mehr, das die ungeliebten Bedenkenträger den Bundesbürgern jahrzehntelang auf die Schulter gehievt hatten.

Indem Jürgen Habermas vor einem Vierteljahrhundert im sogenannten Historikerstreit versuchte, sich mit dem Begriff des "Verfassungspatriotismus" gegen nationalkonservative Geschichtswissenschaftler abzugrenzen, trat er mit der Aufwertung nationaler Identifikation ein völlig unnötiges Rückzugsgefecht von der Position eines konsequenten Antinationalismus an. Sein Konzept, sich auf den herrschenden konstitutionellen Kodex zu berufen, um dem ein Volk in einem Land beschwörenden Nationalismus Paroli zu bieten, kam durch die Hintertür der Wertegemeinschaft auf der Vorderbühne der nationalen Erhebung an, wo jeder soziale Konflikt wirksam vernebelt und gegen die Feinde des Tages ausgerichtet wird. Daß der Nachfolger Horkheimers und Adornos 1999 den Überfall der NATO auf Jugoslawien rechtfertigte, war die logische Folge des Kokettierens mit nationalistischen Gefühlen unter dem Vorwand, ein auf die Verfassung bezogener Patriotismus sei nun wirklich gegen jede chauvinistische Verirrung gefeit.

Wie wenig das zutrifft, belegen die vom Bundesverfassungsgericht abgesegnete Kriege, in denen Menschen zu Schaden und ums Leben kommen, die die Bundesrepublik in keiner Weise angegriffen haben. Wie wertvoll die nationale Karte im internationalen Standortwettbewerb ist, zeigen gegen die griechische Bevölkerung gerichtete Schmähungen, mit denen wirksam davon abgelenkt wird, daß die Wurzel der Krise des Euro im Kapitalverhältnis und seiner Durchsetzung gegen die Interessen abhängig Beschäftigter in der Bundesrepublik liegt. Welche Kräfte im Namen der Nation auf den Plan gerufen werden, wenn "Wir sind Papst" gejubelt wird, belegt die Bilanz einer katholischen Restauration, die von der Verunglimpfung anderer Glaubensformen bis zur Hofierung der schwarzen Garden des Opus Dei nichts ausläßt, was die Unterwerfung des des Menschen durch Schuld und Moral voranbringt. Wie ungerührt von den möglichen Folgen verheerender Kriege heute wieder deutsche Geopolitik betrieben wird, dokumentiert die Lieferung atomwaffenfähiger U-Boote an Israel bei gleichzeitiger Sanktionierung des atomar unbewaffneten Iran. Daß die zwischen "uns" und "den anderen" gezogenen Grenzen längst wieder blutig sind, belegen die vielen Opfer eines gegen die Armut von Weltregionen gerichteten EU-Grenzregimes, die ihre Ressourcen dennoch bereitwillig zur Verfügung hiesiger Kapitalakkumulation zu stellen haben.

Die gegen in Deutschland lebende Menschen aus den Ländern des Südens gerichteten Ausfälle, sie seien "unproduktiv", setzten unverhältnismäßig viele Kinder in die Welt und bildeten mit ihren "Parallelgesellschaften" fruchtbaren Nährboden für home grown terrorists, wollen den sozialrassistischen Charakter dieses Angriffs auf alle überflüssig gemachten Menschen gar nicht verbergen. Mit der Androhung, von angemessenen Lebensumständen ausgeschlossen zu werden, erzeugen sie einen Anpassungsdruck, der in einem gegen den Freßfeind gerichteten Nationalismus sein naheliegendes Ventil findet. Es sind eben nicht nur die Vernichtungspolitik und Aggressionskriege der NS-Herrschaft, aufgrund derer der virulente Nationalchauvinismus lange Zeit im Zaum gehalten wurde. Die Unterstellung, Deutschland sei eine Nation auf Bewährung, die nach einer Karenzzeit von 55 Jahren endlich wieder ganz normalem Nationalstolz frönen dürfe, dient stets der Erfordernis, den Klassenantagonismus für diejenigen fruchtbar zu machen, die am meisten von ihm profitieren.

Affirmation ist alles, teilen die kollektiven Rituale und Emotionen auf den Rängen und in den Fanmeilen mit, warum also sollte man Kritik an herrschenden Verhältnissen üben? Dem zivilreligiösen Charakter des Nationalismus gemäß erwächst das Heil aus der Gemeinschaft Gleichgesinnter, aus der Verallgemeinerung des aus individuellem Mangel resultierenden Bedarfs an Schuldzuweisung und des politisch sorgsam gepflegten Ressentiments gegen alles Fremde. Die positive Bestimmung der Nation ergibt sich nach wie vor aus ihrer qualitativen Veredelung, sprich der Elimination unproduktiver, parasitärer, biologisch minderwertiger und ideologisch abweichender Elemente.

24. Juni 2010