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KULTUR/0868: Am Beispiel der Dämonisierung des Rauchens ... Mangelordnung bekämpfen (SB)



Als der stellvertretende britische Premierminister und Parteichef der Liberaldemokraten Nick Clegg in der beliebten BBC-Radiosendung Desert Island Discs auf die Frage, was er neben seiner Lieblingsmusik auf eine einsame Insel mitnähme, antwortete, daß dazu auch ein Vorrat an Zigaretten gehörte, tat er dies unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, sich des verwerflichen Charakters seines Tuns bewußt zu sein. "Ich stelle mir vor, beim Sonnenuntergang mit einem Bart, der mir bis zu den Knien reicht, dort zu sitzen und einfach eine Zigarette zu rauchen", entwarf Clegg sein einsames Inselidyll, nicht ohne pflichtschuldigst nachzulegen, daß er dies eigentlich nicht sagen dürfe und das Rauchen wirklich eine schreckliche Sache sei. Seinen Versuch, in diesem Schaufenster der geheimen Obsessionen prominenter Briten ein klein wenig rebellisch zu erscheinen, verwässerte er zudem durch die Erklärung, niemals in der Öffentlichkeit zur Zigarette zu greifen und dieses gelegentliche Laster vor seinen Kindern strikt geheimzuhalten.

Die öffentliche Beschwerde, daß Clegg mit diesem Bekenntnis ein schlechtes Beispiel abgebe, ließ nicht lange auf sich warten. Der Literaturkritiker des Guardian, Nicholas Lezard, warf gleichen Tags angesichts der Tatsache, daß Norman Mailer zu anderen Zeiten ungestraft Marihuana mit auf seine Insel nehmen wollte, die Frage auf, wie es wohl dazu gekommen sei, daß das Rauchen von Tabak zum schlimmsten Vergehen aller Zeiten wurde. Seiner Ansicht nach liege es daran, daß diese Angewohnheit als legitime Möglichkeit genutzt werde, selbstgerecht auf andere Menschen herabzublicken. Es gebe kaum leichtere Zielscheiben als Personen, die sich zum Tabakkonsum bekannten, weil sie damit zugäben, schwach und abhängig zu sein. Zudem widersetzten sie sich dem Willen der Mehrheit, dafür gebe es keine Entschuldigung, insbesondere dann nicht, wenn man ein positives Verhältnis zum Rauchen habe, anstatt sich als Opfer einer übermächtigen Sucht zu entschuldigen [1].

Lezards Vermutung, daß der medienbewußte PR-Profi Clegg Nonkonformismus signalisieren wollte, um beim liberalen Wahlvolk nicht über die Maßen angepaßt zu erscheinen, mag zutreffen. Das Bekenntnis zum Rauchen allein darauf zurückzuführen, in einer weitgehend verhaltensnormierten Welt auf demonstrative Weise anders zu erscheinen, erklärt jedoch nicht, wie es im ersten Schritt zu einer Diskriminierung des Tabakkonsums kam, die über den Vorwurf, nichtrauchende Mitmenschen mit sogenanntem Passivrauchen zu schädigen, längst hinausreicht. So haben Geoffrey Kabat und James Enstrom im British Medical Journal (BMJ) eine Studie veröffentlicht, in der sie nicht nur hinsichtlich der unterstellten Gesundheitsgefährdungen des Passivrauchens zu einem weit weniger drastischen Ergebnis als die dazu üblicherweise zitierten Untersuchungen gelangen, sondern auch den fragwürdigen wissenschaftlichen Wert der Studien dokumentieren, mit denen Antiraucherkampagnen aufmunitioniert werden. Dies führte zu einer regelrechten Kampagne gegen die beiden Epidemiologen, was einmal mehr den eher weltanschaulich-doktrinären denn wissenschaftlich-neutralen Charakter des Feldzugs gegen den Tabakgenuß belegte, wie ihn Christopher Snowdon in seiner Geschichte der Antiraucherbewegung "Velvet Glove, Iron Fist" darstellt [2].

Wenn EU-Gesundheitskommissarin Androulla Vassiliou zur Begründung ihrer Forderung, Europa bis 2012 "rauchfrei" zu machen, den Schutz der EU-Bürger vor Tabakrauch anführt, dann ist in Anbetracht der immer weiterreichenden Verbotsverfügungen zu vermuten, daß sie damit auch den Raucher selbst meint. Der paternalistische Vorbehalt, besser als der Betroffene selbst zu wissen, was angeblich gut für ihn ist, macht nicht nur auf diesem Feld Schule. Er qualifiziert sich zu einem mit biologistischem und demographischen Utilitarismus aufgeladenen Nutzenkalkül, das dem individuellen Existenzrecht im Extremfall, wie bei der in den Niederlanden praktizierten Euthanasie an nichteinwilligungsfähigen Patienten, diametral entgegengesetzt ist. Auch die in Britannien erhobene Forderung, obligatorische chirurgische Eingriffe zur Darmverkürzung bei Übergewichtigen vorzunehmen, weist den Weg in einen medizinaltechnokratischen Autoritarismus, der dem Menschen die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper de facto entzieht.

Die Streichung des geringen für Tabak und Alkohol vorgesehenen Betrags im Hartz IV-Regelsatz und die kurz darauf verkündete schrittweise Erhöhung der Tabaksteuer zeigen, daß der Raucher zum Büttel des Maßnahmestaats geworden ist, weil man es mit vermeintlichen Sozialdelinquenten ohne Selbstachtung machen zu können glaubt. Wenn schon der Geruch von Tabak in der Kleidung eines Rauchers zum Anlaß von Eingriffen in seine persönliche Freiheit genommen wird, dann läuft der Schutz des Tabakkonsumenten vor sich selbst absehbar auf ein totales Rauchverbot hinaus. Die zur Abwehr sozialistischer Umverteilungsforderungen gerne zitierte Freiheit der liberalen demokratischen Gesellschaft erweist sich als im Kern aufhebbar durch einen anthropologischen Entwurf, in dem der Mensch als notwendigerweise gegen seinen Willen, der ihm im gleichen Atemzug unter Verweis auf die vulgärmaterialistischen Spekulationen der Neurowissenschaften aberkannt wird, zu optimierendes Mängelwesen erscheint.

Der Furor jener Raucherfeinde, die mit dem fundamentalistischen Eifer zivilreligiöser Glaubenskrieger zu Felde ziehen, entspringt keineswegs der Sorge um das Wohl der Menschen. Dieser könnte auf vielerlei Weise entsprochen werden, wenn man nur an die krasse Notlage der Milliarden denkt, denen kaum essentielle Versorgungsleistungen zur Verfügung stehen. Um so dramatischer wird die Legende des von hemmungslosem Konsum geplagten Homo oeconomicus inszeniert, dessen angebliches Luxusproblem in ein Argument für weitere Sozialkürzungen mündet, so daß der neoliberale Mythos, "wir" lebten über unsere Verhältnisse, auf seinen sozialrassistischen Begriff gebracht werden kann.

Die von Lezard ausgemachte moralische Selbstgerechtigkeit, sich als besserer Mensch über andere zu erheben, ist bloßes Symptom einer die Ordnung des größeren Ganzen affirmierenden Unterwerfung. Diese kann sich dem anderen Menschen gegenüber nur repressiv artikulieren, weil die Anerkennung eines Leben jenseits des Diktats totaler Ökonomisierung gleichbedeutend mit dem irrtümlichen Charakter des in Anspruch genommenen Vergesellschaftungsprimats wäre.

Wer sich die Freiheit zur Utopie nicht nimmt und die herrschenden Verhältnisse statt dessen als alternativlos akzeptiert, kann den Zwang totaler Determination nur durch die Elimination all dessen ertragen, das dagegen stehen könnte. Ein mit der Effizienzdoktrin der Selbstoptimierung nicht vereinbarer, der körperlichen Verfassung womöglich sogar abträglicher Akt wie der des Rauchens von Tabak wird bekämpft, weil er schon ex negativo an die Möglichkeit einer Selbstbestimmung erinnert, die sich der 24/7-Verfügbarkeit auch zum Preis dessen, im konventionellen Sinne erfolglos zu sein, widersetzt. Rauchen ist kein rebellischer Akt per se, doch in einer dem Diktat totaler Verdinglichung ausgesetzten Existenz könnte er als solcher erscheinen.

Nicht frei von Widersprüchen und Problemen zu sein, ja Fehler zu machen und Irrwege einzuschlagen, um daraus zu lernen und womöglich gestärkt hervorzugehen, ist unter der Doktrin, auf jede erdenkliche Weise nach Perfektion zu streben, ausgeschlossen. Sich einem einst unverdächtigen Genußmittel wie Tabak hinzugeben, ganz zu schweigen von anderen Räuschen und Lüsten, muß den Menschen nicht sklavisch binden, sondern birgt stets den Keim der Aufhebung der Fessel in sich. Schließlich zwingt nichts zur Wiederholung des ewig gleichen, wie das Schreckgespenst der Sucht suggeriert, während der vorgezeichnete Verbrauch eigener Lebenssubstanz durch die Produktivität der Gesellschaftsmaschine eben dies erfüllt. Sich von Widersprüchen zu befreien setzt voraus, sich mit ihnen auf ganz materielle Weise zu konfrontieren, anstatt sie mit der Moral des besseren, weil unschuldigen Menschen in unüberwindlicher, weil ideologisch zementierter Distanz zu halten.

Einen Zugriff auf die eigene Leiblichkeit zu erlangen, der sie fremden Kräfte und Wirkungen, also auch der instrumentellen Bedingtheit des Konsumismus, entzieht, Empathie für andere Lebewesen zu schaffen, die das Überleben zu ihren Lasten negiert, einen kritischen Geist zu entwickeln, der sich von der Blendwirkung des "kognitiven Kapitalismus" nicht beeindrucken läßt, all das bleibt unter dem Primat der Not und des Zwangs uneinlösbares Wunschdenken. Die am Beispiel der Dämonisierung des Rauchens vollzogene Repression meint mithin das emanzipatorische Potential, dessen unterbundene Verwirklichung im Ersatz der herrschaftsförmig und verwertungstauglich zugerichteten Gesundheitsdoktrin manifest wird.

Es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Perfektion, die der Erfolgsmensch unter Schmerzen anstrebt, wenn der Stahl des Chirurgen die Ware Schönheit modelliert oder der muskuläre Widerstand an den Apparaten der Fitnessfabrik ein industriell normiertes Leistungsrelief hervorbringt, und der Emanzipation, die aus dem streitbaren Umgang mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in Ohnmacht gehaltener Existenz erwächst. Ersteres bleibt durch die Anforderung, das eigene Leben vom Verkauf der Arbeitskraft bis zur Wiederverwertung körperlicher Gewebe als Bringschuld gegenüber der gesellschaftlichen Rentabilitätsdoktrin zu begreifen, fremdbestimmt. Letzteres mag als im erhofften Ergebnis nicht zu antizipierender Kampf um Autonomie wenig einladend erscheinen, birgt jedoch von Anbeginn an die Freiheit in sich, in Frage zu stellen, was den Menschen zwingt, nötigt und unterwirft.

Daß der Traum dieser Freiheit im Zerrbild einer Produktwerbung aufscheint, die an nichts anderes appelliert als die Akzeptanz kapitalistischer Fremdbestimmung, wurde bei Tabakannoncen als gefährliche Verführung zum Nachteil des Konsumenten ausgemacht. Indem Teilbereiche kapitalistischer Produktivität, die den unkontrollierten Individualkonsum befeuern, im Kosmos bürgerlicher Moral zum Bösen geraten, wird die unzureichende Verfügbarkeit reproduktiver Leistungen als persönlicher Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Mangelprodukt geheiligt. In einer Welt, in der der Reichtum auf immer weniger Menschen verteilt wird, während die Bewältigung der Armut zur tagesfüllenden Beschäftigung der Massen gerät, muß die Anerkennung des Mangels als unausweichliche Bedingung gesellschaftlicher Partizipation zur zweiten Natur praktizierter Befriedung werden. Ein Konsum, der nicht der Reproduktion der Arbeitskraft dient, sondern um seiner selbst willen, sprich zu unverfügbaren Zwecken, genossen wird, ist für diese Gesellschaft ebensowenig vorgesehen wie kulturelle Interessen, die zivilreligiöse Dogmen unterminieren, oder politischer Widerstand, der so unbescheiden ist, daß er die in ihrer positivistischen Letztbegründung unhinterfragbar gemachte Sachzwanglogik zur Utopie überwindet.

Fußnoten:

[1] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2010/oct/24/nick-clegg-smoking-cigarettes-gun

[2] http://www.novo-argumente.com/magazin.php/archiv/novo106_31

2. November 2010