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KULTUR/0896: Ideologie der Aufstandsbekämpfung vertieft Kultur der Ohnmacht (SB)



Nähme man die Forderung nach mehr Eigenverantwortung beim Wort, dann hätten die jugendlichen Plünderer und Brandstifter, die Britannien für mehrere Tage in Ausnahmezustand versetzten, ein geradezu mustergültiges Beispiel für die Anwendung dieser neoliberalen Doktrin geboten. Die Ideologie leistungsgestählter Individuation und permanenter Selbstoptimierung erhebt die Konkurrenz um den größeren gesellschaftlichen Erfolg zur Maxime eines Funktionsprinzips, das die bessere, weil flexiblere und anspruchslosere Verfügbarkeit des Menschen für die Kapitalverwertung bezweckt. Heruntergebrochen auf den Kern des Verwertungsimperativs meint Eigenverantwortung die Zurichtung des einzelnen auf das Erwirtschaften eines Eigentums, das seinen Wert gerade durch den Ausschluß sozialer Solidarität und humanistischer Mitmenschlichkeit erhält. Die zivilisatorische Aufhebung des archaischen Faustrechts manifestiert sich in der von aller außerökonomischen Logik bereinigten Verlagerung des Gewaltprimats auf vertragsrechtliche und handelspolitische Strukturen, so daß eine Gesellschaft wie die britische vermeintlich gewaltfreie Formen des Umgangs miteinander propagieren kann, während die Aneignung vitaler Ressourcen mit offener ökonomischer und militärischer Gewalt andernorts betrieben wird.

Dem Bettler noch einen Fußtritt zu geben, um ihm klarzumachen, daß er sich nicht auf die faule Haut legen kann, sondern das Äußerste zum Gelingen des gesamtgesellschaftlichen, an den makroökonomischen Vergleichswerten des globalen Wettlaufs um Verwertungschancen ablesbaren Erfolgs beitragen soll, ist nicht moralisch verwerflich, sondern läßt dem Betroffenen herzenskalte Tough Love angedeihen. Gnadenlose Härte im Umgang mit dem delinquenten Element gilt, wenn auch nicht in dieser Offenheit gutgeheißen, als Leistungsmerkmal politischen Handelns und wird, wie etwa das Drängen der Rating-Agenturen auf immer härtere soziale Einschnitte zur Sanierung der Staatshaushalte belegt, von "den Märkten" dementsprechend honoriert.

Was die britischen Jugendlichen aus ganz egoistischen Motiven geraubt haben, wird diesem gesellschaftlichen Organisationsprinzip nicht weniger gerecht als die legale Aneignung umfangreicher Geldwerte durch unternehmerische Mehrwertabschöpfung oder die Kapitalakkumulation am Finanzmarkt. Die von ihnen praktizierte Einebnung des Verhältnisses von friedlicher Zivilgesellschaft und globaler Kriegführung durchbricht die zivilisatorische Ordnung strukturell in die Kapitalverwertung verschobener Gewalt selbstverständlich zu ihren Lasten. Sie haben den Preis nicht erbrachter Zahlung in Form von Zeitstrafen zu entrichten, die dem Ausmaß des begangenen Raubes angeblich adäquat sind. Doch so nüchtern und rational werden die mutmaßlich von eigenverantwortlichen Subjekten im Bewußtsein des damit eingegangenen Risikos begangenen Straftaten nicht beglichen. Darüberhinaus muß der Schaden an der gesellschaftlichen Zustimmung zum herrschenden Klassenwiderspruch abgegolten werden, soll doch der eingeschlagene Weg des Schuldendienstes auch in Zukunft ohne Widerspruch der davon am meisten Betroffenen beschritten werden.

Die dazu eröffnete Rechnung begleicht die in Anspruch genommene Freiheit des Regelbruchs über die gerichtliche Bestrafung hinaus mit der moralischen Verdammung der Jugendlichen durch die bessere Gesellschaft, zu der sie sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollten. Die Plünderungen zu verurteilen, während legale Formen des Raubes über internationale Handelsstrukturen in fernen Ländern Tausende von Toten zeitigen, erfüllt den Zweck, die grundsätzliche Vergleichbarkeit räuberischer Praktiken im Kapitalismus zu dementieren, um die legalistische Sicherung von Klassenprivilegien, die im Zweifelsfall über einen vollen oder leeren Magen, über angenehmes Wohlleben oder schmerzvolles Erfrieren befinden, gegen die Interessen der davon Betroffenen durchzusetzen.

Die allseits zelebrierte Verehrung des Warenfetischs schließt seine anarchische Aneignung aus, nicht nur weil Wirtschaften und arbeitsteilige Warenproduktion durch die Ausschaltung des abstrakten Zahlungsmittels Geld unmöglich würden. Die mittels Lohnarbeit organisierte Kapitalverwertung muß das Mehr des Gewinns im Weniger all dessen fundieren, was den Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen genommen wird. Die Erzeugung von Mangel begründet die Attraktivität des Konsumismus und nicht umgekehrt. Bedürfnisse brauchen nicht künstlich erzeugt zu werden, wo die Not längst so groß ist, daß sie an die Existenz greift. Das Versprechen auf Erlösung durch Konsum zu bestreiten führt im besten Fall zur Besinnung auf elementare Formen des sozialen Zusammenhalts. So legt die Erkenntnis, daß die dem anderen Menschen in Form des ihm zugefügten Mangels abgerungene Wertsubstanz ausschließlich negativ bestimmt ist, das soziale Verhältnis offen, den Fetischcharakter der Ware kulturindustriell zu überdeterminieren, um die menschengemachte Misere unbestimmbar und damit beherrschbar zu machen.

Es geht von Anbeginn an um das Primat der Gewalt, zu der sich jede noch so komplexe Verwertungsstruktur dekonstruieren läßt. Die Unterwerfung des Menschen unter den Warenkonsum, nach dem er sich zu strecken hat, bis die Flüchtigkeit seiner Physis an der Unendlichkeit unerfüllten Verlangens vergeht, schafft Kultur in all ihrer zwingenden und versklavenden Macht. So kann das Abfackeln exemplarischer Symbole kapitalistischer Warenwirtschaft als demonstrativer Bruch mit der alltäglichen Regel eines Gewaltverhältnisses verstanden werden, das im Wunsch des Hungernden nach dem erlösenden Stück Brot unverstellt hervortreten läßt, was in den glitzernden Kultobjekten der Informationstechnik den gegenteiligen Eindruck freier Verfügbarkeit überall und zu jeder Zeit erweckt. Die Immobilität des Hungernden, der auf seinem vertrockneten Land einen langsamen Tod erleidet, weil er nicht einmal an die Außengrenze der reichen Welt gelangt, wo sein Rettungsversuch absehbar endet, hebt sich mit der hochgradigen Mobilität des Netizens, der seine Akkumulationschancen mit datenelektronischer Echtzeit auslotet und ohne jede Reisebeschränkung weltweit wahrnimmt, dialektisch in der Klammer eines Gewaltprimats auf, das im Begriff des "Über"-Lebens, also des Lebens zu Lasten des anderen, seinen allseits akzeptierten marktwirtschaftlichen Ausdruck findet.

Die Ausblendung dieses sozialen Verhältnisses führt dazu, daß die revoltierenden Jugendlichen nicht nur abgestraft, sondern als besonders verachtenswerte Kreaturen stigmatisiert werden. Wo sich ihre Gewalt nicht gegen die Symbole kapitalistischer Macht richtete, sondern an ihrer eigenen Lebenswelt und an nicht weniger leidgeprüften Mitmenschen austobte, wird ihnen auch von Linken die Delinquenz des besinnungslosen Lumpenproletariats attestiert. Die in den Riots auf denkbar unmittelbare Weise zum Ausdruck gebrachte Gewalt kapitalistischer Vergesellschaftung, die, um nur ein eklatantes Beispiel von vielen zu nennen, so unmenschliche Praktiken wie das jahrzehntelange Wegsperren von jeglichem sozialen Kontakt isolierter Menschen in fensterlosen Betonsärgen hervorbringt und dies auch noch gerichtlich als eine keineswegs grausame Form der Bestrafung wertet, begründet so durch die Hintertür neuen administrativen Handlungsbedarf. Die antagonistischen Subjekte des herrschenden Akkumulationsregimes sollen an ihrer Widersprüchlichkeit ersticken, anstatt sie zum Ausgangspunkt ihrer Emanzipation und Befreiung zu machen.

15. August 2011