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KULTUR/0899: Zukunftssicherung für Schüler ... mehr Indoktrination, weniger Wissenschaft (SB)



Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat im Deutschlandfunk [1] noch einmal darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, ein negatives Geschichtsbild der DDR zu vermitteln. Der 1991 vom damaligen Bundesjustizminister Klaus Kinkel erhobenen Forderung, den untergegangenen Staat zu delegitimieren, indem man ihn als "zweite deutsche Diktatur" diffamiert, wurde offensichtlich nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Auch 20 Jahre später scheinen sich deutsche Regierungspolitiker noch Sorgen darüber zu machen, daß die DDR untot aus dem Grabe erstehen und eine weitere Runde im längst gewonnen geglaubten Wettstreit der Systeme einläuten könnte.

Neumanns Rüge, die Schulen hätten bei diesem Auftrag versagt, und die von ihm geäußerte Erwartung, das baldigst zu ändern und den Heranwachsenden ein gefälligst die DDR auf erwünschte Weise denunzierendes Geschichtsbild zu vermitteln, arbeiten sich nur vordergründig am Objekt der Schmähung ab. Seine Intervention in die Kultushoheit der Länder läßt vor allem darauf schließen, daß der demokratische Anspruch einer kapitalistischen Marktwirtschaft wie der Bundesrepublik seinerseits mit schwerwiegenden Legitimationsproblemen behaftet ist. Zweifellos wird es kein Lehrer wagen, so es denn seine Überzeugung wäre, die DDR zu verherrlichen oder auch nur mit der FDGO-Republik gleichstellen. Daß es dennoch von äußerster Wichtigkeit sei, die DDR im Schulunterricht als das "schlimme Unrechtssystem" zu brandmarken, das es laut Neumann war, ignoriert den wissenschaftlichen Anspruch eines nicht nur den Interessen der gesellschaftlich Erfolgreichen und Privilegierten gerecht werdenden Geschichtsverständnisses. Laut Neumann gibt es wichtigeres als einen Umgang mit der Historie, der die Geschichte der sozialen Kämpfe und ihrer Auswirkungen auf die Emanzipation von Ausbeutung und Unterdrückung zumindest im Ansatz abbildet.

"Wenn keine Aufklärung erfolgt, wenn das Wissen um Diktatur und ihre Folgen nicht präsent ist bei den jungen Leuten", dann wären sie "insbesondere in Krisenzeiten, gegen Rattenfänger von links und rechts" anfällig [1]. Neumanns zweckrationale Begründung für die Aufbereitung eines Geschichtsbilds, das die DDR fast vollständig auf die Ausübung repressiver Staatsgewalt durch ihre Regierung reduziert, während es das soziale Leben und die gesellschaftlichen Leistungen ihrer Bürger praktisch ausblendet, hat also weniger mit dem historischen Objekt der Betrachtung als der notwendigen Indoktrination der Jugend zu tun. Ihr glauben zu machen, sie lebe im besten aller - zugestandenermaßen unperfekten, sicher auch repressiven, ja mit sozialen Problemen belasteten, aber eben der Freiheit als solcher verpflichteten - Gesellschaftssysteme, bedarf unter den gegebenen Zukunftsaussichten junger Menschen schon einer gehörigen Dosis aus dem Arsenal berauschender Intoxikationen, um den beabsichtigten Erfolg zu zeitigen.

Das Schwergewicht geschichtspolitischer Vergleichsmanöver totalitarismustheoretischer Grundierung, die NS-Diktatur, wird im gleichen Atemzug, in dem sich die Priester des Endes der Geschichte im liberalen Kapitalismus an realsozialistischen Leichen vergehen, leicht gerechnet und als Erblast der Bundesrepublik exkulpiert. Anders ließe sich das Bild von der "zweiten deutschen Diktatur" nicht aufrechterhalten, war die DDR doch eine direkte Folge der imperialistischen Kriege, mit denen Deutschland Europa überzogen hat, und als solche die Antwort des nahtlos an den Hitlerschen Antibolschewismus anschließenden Antikommunismus des Kalten Krieges. Jede Gleichsetzung mit der Massenvernichtung und Kriegsaggression der Nazis muß Widerspruch provozieren, so daß es nicht erstaunen kann, wenn die andauernde Diffamierung dieses Erbes deutscher Geschichte wie persönlicher Biografien mit provokanten Ansagen gekontert wird.

Um so entschiedener drängt ein Kulturpolitiker wie Neumann darauf, einen nicht mehr existenten Staat zu dämonisieren. So widersprüchlich die DDR auch immer war, so viel Leid ihre Staatsorgane einzelnen Bürgern zugefügt haben, so kann damit die Beteiligung der Bundesrepublik an mehreren Kriegen, der aggressive Antikommunismus des Kalten Kriegs, die personellen und politischen Kontinuitäten zum NS-Staat, die Einführung neuer Formen der Zwangsarbeit, die Aneignung von Ressourcen und Arbeitsleistungen anderer Bevölkerungen für die HighTech-Produktivität der deutschen Industrie, nicht gerechtfertigt werden. Der Versuch allein, sich über die Denunziation eines anderen Staates zu legitimieren, erinnert an Leichen im eigenen Keller, die desto angestrengter verborgen werden müssen.

Vor allem jedoch belegt Neumann mit seinen Tiraden an die Adresse der DDR und ihrer heute in der BRD lebenden Bevölkerung die substantielle Entkernung bürgerlicher Werte und die anwachsende Unfähigkeit, die eigenen Formen der Vergesellschaftung noch auf irgendeine Weise aus sich selbst heraus positiv zu bestimmen. Wer es nötig hat, einen sozialistischen Staat, der diesen Anspruch nur bedingt einlösen konnte, der jedoch als Ausgangspunkt für eine befreitere und solidarischere Form des Sozialismus hätte fungieren können, auch dann noch niederzumachen, nachdem man seinen Niedergang bereits aktiv mit politischen und ökonomischen Mitteln wie ideologischer Aggressivität betrieben hat, der leidet an dem profunden Problem, die darüber zu erwirtschaftende Glaubwürdigkeit nicht anders als anhand eines Feindbilds darstellen zu können.

In dieser Debatte geht es nur im zweiten Rang um sogenannte historische Wahrheiten. Entscheidend für ihren Verlauf ist die Austragung des zentralen gesellschaftlichen Konflikts, des mit zunehmender Härte geführten sozialen Kriegs. Ihn zu gewinnen, ohne die eigene Achse des Bösen - Ausbeutung, Krieg, Demagogie - als solche erkennen zu lassen, bedarf potjemkischer Schreckensbilder, deren Statur desto mehr in den Himmel wächst, als das Interesse der Menschen, sich nicht mehr mit Fassaden und Masken vom besseren Leben zu begnügen, sondern diese Trugbilder zu durchschauen, auf unaufhaltsame Weise anwächst. Warum einen bestenfalls von einer kleinen Minderheit ernsthaft angestrebten Sozialismus, der die humanistischen Werte der bürgerlichen Aufklärung mit neuer, ihre bourgeoise Exklusivität aufhebende und internationale Solidarität stiftende Weise erfüllen könnte, mit diesem rückwärtsgewandten, dem Menschen immer nur das Schlechteste andichtenden Furor niedermachen? Weil die kulturelle Selbstvergewisserung des kapitalistischen Weltsystems bis ins Mark seines Anspruchs auf Menschlichkeit getroffen ist und etwas anderem Platz machen könnte.

Fußnote:

[1] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/idw_dlf/1533604/

21. August 2011