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KULTUR/0905: Günther Jauch im ARD - Feierabendgeplauder über Essensverschwendung (SB)



Eine der beliebtesten menschlichen Methoden, unangenehmen Fragen auszuweichen, besteht im Vortäuschen von Interesse. In Fernsehtalkshows wird dies regelrecht zur Kultur erhoben. Sendung für Sendung bemüht sich eine Moderatorin oder ein Moderator um ein Thema, nur um es für sich und das Publikum leicht verdaulich zu halten und keine weitergehenden Fragen zu stellen. Eben solche Schonkost lieferte auch Günther Jauchs Talkshow am 9. Oktober im ARD-Sonntagabendprogramm. Unter dem Titel "Essen für die Tonne - Wie stoppen wir den Wegwerf-Wahnsinn?" wurde in Anlehnung an den Kinofilm "Taste the Waste" [1] über das Wegwerfen von Müll, die Lebensmittelverschwendung im Einzelhandel und vor allem über den vermeintlich unmündigen Verbraucher schwadroniert.

Eingeladen waren Bundesverbraucherschutzministerin Ilse Aigner (durch und durch souverän auftretend), der Filmemacher Valentin Thurn (hatte wohl nicht seinen besten Tag, blieb argumentativ hinter Film und Buch [1] zurück), die Köchin und Restaurantbetreiberin Sahra Wiener (sehr engagiert; verstand es, ihr Anliegen, den Fleischkonsum zu reduzieren, zu platzieren), der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, Stefan Genth (Schnellsprecher, wirkte rhetorisch geschult, ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen) und die politische Vollzeitaktivistin Hanna Poddig (fand mit ihrem politischen Anliegen kaum Gehör).

Das Thema Nahrungsproduktion, -verbrauch und -mangel böte vielerlei Anknüpfungspunkte, um einer von eklatanten inneren Widersprüchen geprägten Wohlstandsgesellschaft, die wiederum mit Klauen und Zähnen ihre Privilegien gegenüber dem Rest der Welt verteidigt, zumindest einen Spiegel vorzuhalten. Doch Jauch machte es sich leicht, wählte den bequemen Weg und verschwendete viel Zeit darauf, den einfachen Sachverhalt, daß das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) auf Lebensmittelverpackungen kein Verfallsdatum ist, zu erläutern. Ganz und gar fehlgeleitet erwies sich in diesem Zusammenhang der Vorwurf an den Vertreter des Einzelhandels, die Branche hätte ein Interesse daran, daß viele Lebensmittel weggeworfen werden, und würde die Waren mit abgelaufenem MHD zu früh aussortieren, um daran zu verdienen.

Da nicht der Handel das MHD aufdruckt, sondern der Hersteller, hätte Jauch, um den Vorwurf an die richtige Adresse zu bringen, einen Vertreter der Lebensmittelindustrie einladen müssen. Das wurde versäumt. Die Industrie würde tatsächlich gut daran verdienen, wenn das MHD vorverlegt und die Ware früher aus dem Supermarktregal entfernt wird, als sie es nach den ernährungstechnisch gebotenen Kriterien des MHD eigentlich müßte. Der Einzelhandel akzeptiert die Vorgaben seiner Lieferanten, richtet seine Logistik entsprechend aus und preist die verbleibenden Verluste ein - die Rechnung zahlen die Verbraucher.

Hätte sich Jauch besser auf die Sendung vorbereitet, hätte er wissen können, daß die Behauptung Genths, nicht der Einzelhandel, sondern die Verbraucherinnen und Verbraucher würden sehr viel mehr Lebensmittel in den Müll werfen (angeblich 80 kg pro Person und Jahr), auf eine Umfrage im Auftrag des Verpackungsunternehmens Cofresco zurückgeht. Dahinter steckt unter anderem die Marke Toppits, welche Frischhaltefolien und -beutel vertreibt, mit denen Lebensmittel haltbarer gemacht werden, und das eine europaweite "Save Food"-Kampagne initiiert hat. [2] Ein Eigeninteresse an dem Umfrageergebnis, das nach einer Lösung der privaten Verschwendung verlangt (nach dem Motto: wie wäre es mit unserer Frischhaltefolie?), kann der Save Food-Initiative nicht abgesprochen werden. In der Wissenschaft jedenfalls ist es mittlerweile üblich, daß mit einem solchen Interessenkonflikt nicht hinter dem Berg gehalten wird.

Eine Vorverlegung des MHD in der Lebensmittelproduktion könnte man als Äquivalent zum gezielten Einbau von Sollbruchstellen und verschleißträchtigen Teilen in Elektrogeräten, Handys, Autos, etc. betrachten. Von den auf diese Weise erzeugten und letztlich auf die Verbraucher umgewälzten Verlusten profitieren die Unternehmen, die mittels solcher Methoden ihren Umsatz steigern. Daß Günther Jauch nicht willens oder unfähig war, sich dem Thema Lebensmittelverschwendung näher zu befassen, wurde spätestens an der Stelle klar, an der er nicht begriff, daß Nutella im Supermarkt niemals sein MHD erreicht, da die Schokopaste vorher verkauft wird. Das überstieg anscheinend sein Vorstellungsvermögen, sonst hätte er nicht nachfragen müssen.

So hielt der Moderator das Thema Lebensmittelvernichtung brav an der Oberfläche. Bloß nicht in die Nähe von Überlegungen gelangen wie, daß sich der Mangel, wie er am Beispiel der Lebensmittelvernichtung gezeigt wurde, als unabweislicher Bestandteil der vorherrschenden Produktionsverhältnisse manifestiert. Im marktwirtschaftlichen System hat etwas nur dann einen Wert, wenn es knapp ist. Eine künstliche Mangelerzeugung ist somit ökonomisch sinnvoll. Das Grundnahrungsmittel Wasser zum Beispiel erhielt zivilisationsgeschichtlich erst dadurch einen rechenbaren Wert, als es in Besitz genommen und dadurch der allgemeinen, freien Verfügbarkeit entzogen wurde. Wer heute Wasser trinken will, muß dafür bezahlen, und damit er das kann, muß er Lohnarbeit leisten. Davon profitiert wiederum der Unternehmer, der die Löhne ausgibt, aber einen Teil der geleisteten Arbeit in Form des Mehrwert abgreift und ansammelt. Mit dem Geld kann er dann beispielsweise ein Versorgungsunternehmen erwerben und seinen Arbeitern das Wasser verkaufen, das sie brauchen, um weiterhin ihrer Lohnarbeit nachgehen und Mehrwert generieren zu können ...

Im Zuge der Vergesellschaftung des Menschen hat sich ein hochkomplexes, bereits von seinen Voraussetzungen her räuberisches System (hier: Vorenthalt von Wasser) entwickelt. Das bestimmt das Verhältnis der Menschen untereinander und damit auch den in der Sendung von Hanna Poddig angesprochenen Nord-Süd-Konflikt, was zur Folge hat, daß gegenwärtig rund eine Milliarde Menschen hungert und eine weitere Milliarde mangelhaft ernährt ist. Selbstverständlich ließe sich eine Welt denken, in der weder in Indien noch am Horn von Afrika noch irgendwo sonst in der Welt gehungert werden müßte. Aber sich solchen Fragen und Problemen auch nur geringfügig zu nähern setzt mehr voraus, als über das Mindesthaltbarkeitsdatum eines bekannten Schokoladenaufstrichs zu diskutieren.


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Fußnoten:

[1] Bericht zum Film "Taste the Waste" von Valentin Thurn unter:
http://schattenblick.com/infopool/politik/report/prbe0070.html

Zum gleichen Thema Interviews mit Valentin Thurn, Hanna Poddig und dem Greenpeace-Experten Jürgen Knirsch unter:
http://schattenblick.com/infopool/politik/report/prin0077.html
http://schattenblick.com/infopool/politik/report/prin0078.html
http://schattenblick.com/infopool/politik/report/prin0079.html

Rezension des Buchs "Die Essensvernichter" von Valentin Thurn und Stefan Kreutzberger unter:
http://schattenblick.com/infopool/buch/sachbuch/busar570.html

[2] Nachzulesen unter anderem bei folgenden Adressen:
http://www.cofresco.de/de/unternehmen/save-food/studie.htmly
http://www.ehi.org/news/detailanzeige/?no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=525&cHash=f72cb5620b328adb9761347dcdce64f8

11. Oktober 2011