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KULTUR/0946: Unabgegoltenes - Im Gedenken an die Zukunft (SB)




Keine Erinnerung, die nicht von den Befindlichkeiten und Neigungen des sich Erinnernden beeinflußt wäre. Keine Geschichte, die nicht von den Bedingungen und Konflikten der Gesellschaft bestimmt wäre, in der sie geschrieben wird. Die Frage nach der objektiven historischen Wahrheit produziert durch die Auswahl in ihrer Faktizität belegbarer Ereignisse wie deren Auslegung im Rahmen übergeordneter Deutungsinteressen diejenigen Antworten, die dem subjektiven Interesse des hegemonialen Blocks am ehesten entsprechen. Bisweilen einander in ausschließender Weise gegenüberstehende Auslegungen historischer Ereignisse zeugen davon, daß die Historie bei allem Anspruch an die empirische Gründlichkeit der Geschichtswissenschaften einer ideologischen Produktivität zuarbeitet, in der es vor allem um die Legitimation politischer Handlungsgrundlagen und Richtungsentscheidungen geht.

Wem der häufig heranzitierte "Lauf der Geschichte" in seiner vermeintlichen Entwicklungslogik und Eigendynamik am meisten nützt, wer die geschichtsphilosophisch begründeten Formationswechsel auf seiner Seite hat, ist eine Frage der Deutungshoheit, die von politischer Macht nicht zu trennen ist. Sich nicht mit dem Primat kausal determinierter Zwangsverläufe abzufinden, sondern der unterstellten Verfügtheit des Menschen durch seine eigene Geschichte entschieden entgegenzutreten, ist schon im Ansinnen der Befreiung von ohnmächtig erlittenen Wirkungen und Kräften ein revolutionäres Unterfangen.

Es ist den Eliten der kapitalistischen Gesellschaft nicht zu verdenken, daß sie nichts mehr fürchten als eine revolutionäre Subjektivität, die durch das Arsenal sozialtechnokratischer Zwangsverhältnisse und kulturindustrieller Indoktrination nicht mehr kontrolliert werden kann. Wo antagonistische Bewegungen dem Griff der Agenturen staatlicher und ökonomischer Herrschaftsicherung zu entgleiten drohen, bietet sich neben der stets präsenten Androhung repressiver Gewalt das Mittel einer ideologischen Unterwanderung an, das die Parameter des Widerstreits zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Unterwerfungsdruck und Emanzipationstreben selbst verändert.

Wo die Gleichsetzung des Scheiterns des realsozialistischen Gesellschaftsmodells mit jeglichem Ansinnen, eine egalitäre, humanistische und klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen, ihr zerstörerisches Werk noch nicht vollziehen konnte, da wird auf einen ideologischen Paradigmenwechsel gesetzt, der sich unter anderem des Mittels der geschichtspolitischen Entsorgung kommunistischer Prinzipien bedient. Die totalitarismustheoretische Gleichsetzung von Hitlerfaschismus und Stalinismus ist das zentrale Werkzeug dieses Angriffs, der sich in den Karrieren aus der Neuen Linken der 60er und 70er Jahre stammender Vordenker und Funktionsträger des deutschen Imperialismus emblematisch nachzeichnen läßt. Der neokonservative Formwandel des klassischen Antikommunismus der Blockkonfrontation macht es möglich, weiterhin den Anspruch auf eine emanzipatorische Entwicklung vor sich herzutragen, ohne auf die Durchführung imperialistischer Kriege und die Ausbeutung neokolonialistischer Produktivitätsgefälle verzichten zu müssen.

Der Schritt der Berliner Jusos, von Teilen der linksjugend ['solid] wie diverser sozialdemokratisch orientierter Jugendorganisationen, sich von der in der heutigen Form seit 1996 stattfindenden Demonstration zum Gedenken an die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar 1919 zu distanzieren und zu einer eigenen Kundgebung aufzurufen, ist Ausdruck dieses kaum mehr besonderer Körperbeherrschung verlangenden Spagats. Mit dem Argument, nicht mehr gemeinsam mit Stalinisten, Maoisten und Anhängern des Realsozialismus marschieren zu wollen, wird Anspruch auf eine Bereinigung revolutionärer Tradition erhoben, die mit deren Problemen und Widersprüchen gleich das gesamte Anliegen negiert, den Kommunismus im konkreten gesellschaftlichen Streit zu verwirklichen, anstatt ihn ideologiekritisch auf einen identitätspolitischen und menschenrechtskonformen Schatten seiner selbst zu reduzieren.

Linke Geschichte von den Schlacken innerlinker Kämpfe zu bereinigen und dabei der totalitarismustheoretischen Äquidistanz zumindest nahezukommen heißt auch, die moralische Distanzierung der kämpferischen Positionsbestimmung vorzuziehen. Fehler zu machen ist Ausdruck menschlicher Vielfalt und Entwicklungsmöglichkeit, während die beanspruchte Perfektion moralischen Handelns auf einen Endzustand der Subjekt- und Geschichtslosigkeit abzielt, in dem sich nichts mehr in den eigenen Händen befindet, weil alles der immanenten Ordnung für richtig und gut befundener Ziele unterworfen ist. Die Irrungen und Wirrungen im permanenten Kampf mit faschistischen und kapitalistischen Staaten stehender sozialistischer Gesellschaften aus moralischer Suprematie zu verwerfen, anstatt sie, ihrer jeweiligen Einbindung in die Machtpolitik und Produktivkraftentwicklung ihrer Epoche adäquat, als überaus schmerzhafte, gerade darum in ihrem Erkenntnispotential nicht zu negierende Beiträge zur Präzisierung der Frage nach dem nächsten Schritt anzuerkennen, zeugt durchaus davon, nicht alles für die Überwindung herrschender Verhältnisse einsetzen zu wollen.

Die Distanzierung als solche belegt, daß die defensive Orientierung an falsch und richtig dem Selbstverständnis dessen bevorzugt wird, daß niemand dursten und hungern, niemand ohnmächtig Schmerzen und Gewalt ausgesetzt sein will. Die Unmittelbarkeit des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung setzt das Unabgegoltene des revolutionären Aufbruchs im politischen Kampf um, ohne sich bei welchen Instanzen auch immer einer moralischen Rückendeckung zu versichern, die im Horizont vertrauter Orientierungspunkte verbleibt. Sich der eigenen Position über die Verurteilung des Tuns anderer Revolutionäre zu vergewissern heißt keine eigenen Fehler machen zu wollen und sich damit auch deren Korrektur zu entziehen. Aus der Geschichte zu lernen, wie so häufig beansprucht wird, ist dem Tauschwert ideologischer Abstraktion gegenüber eine ganz und gar praktische Angelegenheit, setzt es doch die antagonistische Position voraus, anstatt über moralische Wechselverhältnisse bloße Konsensoptimierung zu betreiben.

Es ist daher auch kein Zufall, daß die antifaschistische Tradition des LL-Gedenkens gleich mit entsorgt wird, wenn den auf der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde kondolierenden Genossinnen und Genossen das Stigma ewig gestriger Stalinverehrer aufgedrückt wird. Die dort vollzogene Ehrung der im Kampf gegen die bürgerliche Reaktion und das NS-Regime gefallenen Sozialistinnen und Sozialisten, Kommunistinnen und Kommunisten dokumentiert, worum es den am 15. Januar demonstrierenden oder auch nur auf diesem Friedhof trauernden Menschen in erster Linie geht. Die größte Demonstration, die ausdrücklich der so langen wie gebrochenen Tradition der deutschen Linken gewidmet ist, findet heute im Zentrum eines imperialistischen Staatenbündnisses statt, das derweil afrikanische Kleinstädte bombardiert, weil aus diesen angeblich Gefahren für den eigenen Vormachtanspruch erwachsen.

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden ermordet, weil sie sich den Aggressionen des deutschen Imperialismus konsequent verweigerten und nach dem Krieg, der die Voraussetzung für die NS-Herrschaft und den noch katastrophaleren Nachfolgekrieg schuf, für die soziale Revolution kämpften. Sie wurden zum Ziel einer kaltblütigen Mördertruppe jener Freikorps, in denen die Ermächtigungs- und Unterdrückungsgewalt der Nazis Form und Gestalt annahm, während die Mehrheitssozialdemokratie das Bündnis mit der bürgerlichen Konterrevolution suchte und fand. In der sich vor hundert Jahren anbahnenden Katastrophe eines Krieges, der die Unabdinglichkeit internationaler Solidarität nicht grausamer hätte belegen können, hat der Opportunismus sozialdemokratischer Politiker vorvollzogen, was mit der Durchsetzung der neoliberalen Rationalisierung des Kapitalismus und der ersten Beteiligung deutscher Soldaten nach 1945 an einem Aggressionskrieg unter Bundeskanzler Gerhard Schröder das herrschaftsqualifizierende Potential der Sozialdemokratie unter Beweis stellte.

Die Ausgrenzung traditionslinker Gruppen und Parteien aus dem Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, um die es dem Bündnis "Rosa & Karl" zu gehen scheint, kappte das Erinnerungsvermögen an Kämpfe, die nicht zu wiederholen verbietet, Herkunft und Geschichte der Idee und Utopie des Kommunismus selektiv in Gebrauch zu nehmen. Wozu sonst soll das Vermögen des Menschen, in der Zeit zu agieren, befähigen, als anhand seiner historischen Existenz konkrete Zukunft zu schaffen - nicht als zwangsläufige Folge eines kausaldeterminierten Entwurfs, sondern als Überschreitung aller Grenzen und Bedingungen, die die von Nöten und Schmerzen bedrängte Gegenwart einhegen.

14. Januar 2013