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KULTUR/0979: "Soziale Indikation" für ärztliche Sterbehilfe? (SB)



"Mein Tod gehört mir" lautete das Credo des ehemaligen MDR-Intendanten Udo Reiter. Er löste es im Oktober 2014 ein, indem er den Freitod wählte. Seit vielen Jahren im Rollstuhl sitzend, gab der vehemente Streiter für aktive Sterbehilfe stets an, nicht zum Pflegefall werden zu wollen, sondern in einem solchen Fall lieber den Weg in den Tod zu wählen. Daß er dazu nicht die Hand des Arztes in Anspruch nehmen mußte, sondern sich selbst tötete, bewies, daß es nicht unbedingt einer gesetzlichen Erlaubnis bedarf, um selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden. Dennoch dafür einzutreten, daß aktive Sterbehilfe gesetzlich legalisiert und gesellschaftlich institutionalisiert wird, ruft denn auch Interessen und Zwänge auf den Plan, die die beanspruchte Autonomie unterlaufen, mitunter sogar in ihrem Namen.

Dies belegt eine aktuelle Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) [1]. Während 75 Prozent der Befragten die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes als positives Argument für eine Legalisierung der ärztlichen Suizidbeihilfe bejahen und knapp 70 Prozent eine solche Maßnahme mit mehr Sicherheit für ein würdevolles Lebensende in Verbindung bringen, gehen knapp 61 Prozent davon aus, daß mehr Menschen ärztliche Hilfe beim Sterben in Anspruch nähmen, weil sie keine Belastung für die Familie oder Gesellschaft sein wollen. Im Ergebnis bedeutet dies, das auch Befürwortern der Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe bewußt sein muß, daß die Entscheidung zum vorzeitigen Ableben auch aufgrund einer Art sozialer Indikation erfolgen kann, also nicht allein durch unerträgliche Schmerzen oder die Angst davor, sie künftig zu erleiden, bedingt sein muß.

Tatsächlich schließt sich die Schere des in einem solchen Fall kaum mehr als selbstbestimmt zu bezeichnenden Sterbens von zwei Seiten. Dem Menschen, der seiner familiären Umgebung nicht als versorgungsintensiver Pflegefall zur Last fallen will oder der aufgrund einer kostenaufwendigen Behandlung Schuldbewußtsein gegenüber der Gesellschaft entwickelt, wird, wie Erfahrungen mit der institutionalisierten Sterbehilfe in Belgien und den Niederlanden zeigen, auch durch die soziale Umwelt signalisiert, daß es an der Zeit sei, abzutreten. Die bioethische Kategorie des "Benefit" - die Bevorzugung dieses Anglizismus im deutschsprachigen Raum dürfte der Tatsache geschuldet sein, daß der Begriff des "Lebenswerts" durch die NS-Euthanasie kontaminiert ist - kommt immer dann zur Geltung, wenn aus medizinethischer Sicht befunden wird, daß ein Weiterleben für diesen Patienten keinen Nutzen mehr habe, weil er ohnehin nur noch Schmerzen leidet, extrem dement ist oder sich die Fortsetzung eines moribunden Lebens aus anderen Gründen nicht mehr lohne.

So gehen subjektiv empfundene Schuld und objektive Nutzenerwägung eine unheilige Verbindung ein, ja sie sind genaugenommen nicht voneinander zu trennen. Stellt man den Begriff der Selbstbestimmung vom ethischen Kopf auf die materialistischen Füße, dann ist der Übergang zum Imperativ neoliberaler Eigenverantwortung zumindest unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen fließend. Selbst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, anstatt die Solidargemeinschaft zu beanspruchen, könnte eben auch bedeuten, einige Monate früher aus dem Leben zu scheiden und damit zu der auf allen Ebenen eingeforderten Kostensenkung beizutragen. Vorschläge für ein "sozialverträgliches Ableben" sind nicht nur provokant gemeint, sondern werden von Gesundheitsökonomen längst durchgerechnet [2].

So wie das sozialstrategische Bezichtigungskonstrukt der Eigenverantwortung alles menschliche Scheitern von den gesellschaftlichen Umständen zu entkoppeln trachtet, die es bedingen, um das aus Lohnarbeit erwirtschaftete Produkt von den Kosten freizuhalten, die bei der Reproduktion der Arbeitskraft durch gesundheitliche und psychische Belastungen entstehen, so erfordert das Gelingen des Anspruchs auf Selbstbestimmung, die Gewalt der fremdbestimmten Verhältnisse, die ihn hervorbringen, in Schach halten zu können. Dies im Zustand größter Schwäche und Verletzlichkeit zu tun erfordert mehr als eine Patientenverfügung über eine im Moment ihres Verfassens hypothetische Notlage. Es setzt die völlige Abwesenheit einer jeglichen Nutzenerwägung voraus, die anderen Interessen unterliegt als denen des sterbenden Menschen.

Im Kontext kapitalistischer Vergesellschaftung erweist sich sein Anspruch auf Entscheidungsfreiheit von so vielen Zwängen und Gewalten umlagert, daß sich die Frage, ob ein selbstbestimmter Tod nicht ein selbstbestimmtes Leben voraussetzt, von selbst beantwortet. Wenn ein materiell abgesicherter Mensch eine solche Angst vor Pflegebedürftigkeit entwickelt, daß ihm sogar der Tod lieber ist als in die Abhängigkeit anderer Menschen zu geraten, dann ist das auch Ausdruck des bourgeoisen Selbstverständnisses, in jeder Lage Herr seines Schicksals sein zu können. Für Menschen, die eher widerwillig Lohnarbeit verrichten, weil sie keinen Sinn in ihrer Tätigkeit sehen, für Erwerbslose, Behinderte, Flüchtlinge und anderweitig auf staatliche und fremde Unterstützung angewiesene Gruppen ist die Nicheinlösbarkeit des Anspruchs auf Selbstbestimmung hingegen tagtäglich schmerzhafte Realität.

So ist auch die bioethische Bewertung des individuellen Benefits von der Frage, inwiefern ein Mensch für die Gesellschaft von Nutzen ist oder nicht, kaum zu lösen. Behinderten, die lieber sterben wollen als unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben, wird sehr viel schneller der Todeswunsch erfüllt, als es bei Menschen der Fall ist, die weder als behindert gelten noch an einer tödlich verlaufenden Krankheit leiden, wie Diane Coleman von der US-Behindertenorganisation Not Dead Yet schildert [3]. Sie verweist auch darauf, daß in den meisten Fällen, in denen im US-Bundesstaat Oregon ärztliche Sterbehilfe in Anspruch genommen wird, nicht unerträgliche Schmerzen oder Angst vor dem Erleiden solcher angegeben werden, sondern psychologische Faktoren wie der Verlust von Autonomie und Würde oder die Belastung anderer den Ausschlag geben.

Selbst wenn kein individueller Todeswunsch vorliegt, können gesellschaftliche Zwangslagen eine Sterbeempfehlung hervorbringen. So wandte sich die an Lungenkrebs erkrankte Barbara Wagener 2008 an die öffentliche Krankenversicherung des Bundesstaates Oregon, um ein von ihrem Onkologen verschriebenes Medikament finanziert zu bekommen, daß das Wachstum ihres Tumors verlangsamen und damit ihr Leben verlängern würde. Ihr wurde mitgeteilt, daß die Finanzierung der Therapie einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium nicht vorgesehen sei, man ihr aber die Bezahlung einer Palliativversorgung anbiete, die auch die Möglichkeit beinhalte, aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen [4].

Wenn das repräsentative Ergebnis der EKD-Studie darin besteht, daß die Legalisierung der ärztlichen Sterbehilfe mehrheitlich als Fortschritt zugunsten individueller Selbstbestimmung verstanden wird, während zugleich die Belastung der sozialen Umgebung eines Sterbenden als veritabler Grund zum Ergreifen dieser Maßnahme anerkannt wird, muß das kein Widerspruch sein. Ein solcher läge nur dann vor, wenn dieses Schuldverhältnis als Ausdruck bürgerlicher Erwerbsmoral und gesellschaftlicher Fremdbestimmung verworfen würde. Dies ist in Zeiten des liberalen Paternalismus [5], wo auf der Kommandohöhe neoliberaler Governance Verhaltensnormen definiert werden, denen sich die Menschen, die ja nicht wissen, was gut und was schlecht für sie ist, "freiwillig" unterwerfen, keineswegs selbstverständlich.

Linke, die den Widerstand gegen die Legalisierung der ärztlichen Sterbehilfe als reaktionäre Verkennung christlicher Lebensschützer oder Ausdruck klerikalen Hegemonialstrebens verwerfen, ignorieren, daß die Praxis der NS-Euthanasie nicht nur Ergebnis völkischen Rassismus, sondern auch medizinwissenschaftlicher Eugenik war und daher kein historisches Unikat bleiben muß. Sie verfallen darüber hinaus einem bürgerlichen Liberalismus, dem Freiheit und Selbstbestimmung ein exklusives Klassenprivileg ist. Wenn ein sterbender Menschen Angst davor hat, sich durch die Kosten und den Aufwand einer vermeintlich zu lang andauernden Intensivpflege an seiner Familie oder der Gesellschaft schuldig zu machen, dann kann kein körperlicher Mißstand so unwürdig sein wie dieses Ergebnis der herrschenden Eigentumsordnung und Arbeitsmoral.


Fußnoten:

[1] www.ekd.de/download/150512_Ergebnisse_Umfrage_zum_Sterben.pdf

[2] KULTUR/0963: Tödliche Lebensbilanz ... nach Verbrauch Euthanasie (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0963.html

[3] http://www.syracuse.com/opinion/index.ssf/2015/05/why_disability_rights_advocates_oppose_assisted_suicide_commentary.html

[4] RAUB/1076: Nicht den Tod planen, sondern zu leben beginnen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1076.html

[5] HERRSCHAFT/1710: Liberaler Paternalismus - kein Widerspruch in sich ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1710.html

13. Mai 2015


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