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KULTUR/0985: "Böhmermann-Affäre" - Die Freiheit der Staatsräson (SB)



"Im Rechtsstaat sei es 'nicht Sache der Regierung, sondern von Staatsanwaltschaften und Gerichten, das Persönlichkeitsrecht und andere Belange gegen die Presse- und Kunstfreiheit abzuwägen', so Merkel weiter. Wenn die Bundesregierung die Ermächtigung zur Strafverfolgung Böhmermanns erteile, so überantworte sie lediglich die rechtliche Prüfung der unabhängigen Justiz. Eine Vorverurteilung oder eine Entscheidung über Grenzen der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit sei dies nicht." [1]

Wenn die Bundeskanzlerin und mehrere Minister tagelang darüber beraten, wie sie auf die Forderung des türkischen Präsidenten Erdogan, der die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen den Verfasser eines "Schmähgedichtes" verlangt, reagieren, und auf der Webseite der Bundesregierung ausführlich Stellung zu dem Vorgang bezogen wird, dann ist eine veritable Staatsaffäre im Gange. Jan Böhmermann hat ins Schwarze getroffen, wie immer Form und Inhalt seiner Provokation zu bewerten sind. Bundeskanzlerin Merkel rechtfertigt diesen Schritt mit den engen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, die NATO-Partner sei und Beitrittsverhandlungen mit der EU führe. Sie fordert zwar auch von der Türkei Schutz und Achtung von Grundrechten wie der Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit ein, läßt sich aber zu keinerlei Kritik in Richtung Erdogan verleiten, der diese Freiheiten massiv einschränkt und darüberhinaus Krieg gegen einen Teil der eigenen Bevölkerung führt.

Zur Erinnerung: 1999 führte die NATO und mit ihr die Bundesrepublik Krieg gegen Jugoslawien. Dessen Präsident Slobodan Milosevic achtete die Pressefreiheit, wie die Vielfalt der damaligen jugoslawischen Oppositionsmedien belegt, die politische Justiz des Landes war weniger repressiv als die der Türkei heute und die Belgrader Regierung bekämpfte im Kosovo den Aufstand albanischer Separatisten nicht anders, als es die Spanier im Baskenland oder die Briten in Nordirland taten. Verunglimpfungen seiner Person etwa als Hitler von Belgrad oder Schlächter vom Amselfeld waren in deutschen Medien sakrosankt, allein die Mutmaßung, daß dies einen Straftatbestand darstellen könnte, hätte absurd gewirkt. Es gab allerdings auch keine Satiriker von Rang und Namen, die es gewagt hätten, den völkerrechtswidrigen Krieg der NATO und die Dämonisierung ihres Feindes an zu der ZDF-Sendung Neo Magazin Royale vergleichbar prominenter Stelle mit ähnlichen Mitteln wie denen Böhmermanns anzugreifen.

In den Chor der Schmähungen des jugoslawischen Präsidenten einzufallen fiel hingegen nicht schwer und war durchaus üblich, da durch die deutsche Mehrheitsmeinung gedeckt. Antiserbische und antijugoslawische Ressentiments haben eine lange Geschichte in einem Land, das am 6. April 1941 mit der Bombardierung der Hauptstadt Belgrad einen für die jugoslawische Bevölkerung überaus verlustreichen Aggressionskrieg führte. Bis heute machen deutsche Revanchisten den starken Widerstand der jugoslawischen Partisanen vor 75 Jahren für den verlorenen Krieg gegen die Sowjetunion verantwortlich, konnte dieser aufgrund der Bindung großer Verbände der Wehrmacht und SS auf dem Balkan doch nur mit erheblicher Verzögerung beginnen, so daß der Winter Hitlers Plänen einen Strich durch die Rechnung machte. Satire darf alles, wird Kurt Tucholsky zur Verteidigung Böhmermanns heranzitiert, doch vor 17 Jahren bedurfte es dieser Feststellung nicht, weil das Gros deutscher Intellektueller ins Horn der NATO stieß. Es war schon immer etwas unbequemer, gegen den Strom der Mehrheitsmeinung zu schwimmen, während sich das Segel massenmedialer Satire im Falle Erdogans zumindest hierzulande meist ohne Risiko, dabei zu kentern, im Rückenwind konsenskompatibler Kritik an seinen Machtgelüsten bläht.

Die blutige Kontinuität, in der die deutsche Beteiligung am Überfall der NATO auf Jugoslawien 1999 stand, konnte auch durch die Behauptung Joseph Fischers, es gehe darum, ein zweites Auschwitz zu verhindern, nicht dementiert werden. Wo ist der Geschäftspartner Madeleine Albrights, der eine halbe Million irakischer Kinder und Jugendlicher als US-Außenministerin kein zu hoher Preis war, um den Irak weiter auszuhungern, wenn man ihn so dringend braucht? Hat der sich gerne als elder statesman inzenierende Grünenpolitiker nun, da syrische Kriegsflüchtlinge und die türkische Opposition auf dem Altar der imperialen Ambitionen EU-Europas geopfert werden, sein antifaschistisches Selbstverständnis vergessen? Wo Politiker und Journalisten Freiheit und Demokratie mit dem Balkenkreuz vollstrecken, gäbe es für Böhmermann viel zu tun, wenn er nicht ohnehin die gegen ihn gerichteten Nachstellungen zum Anlaß nimmt, in die Offensive zu gehen und die politische Dimension der gegen ihn gerichteten Strafverfolgung auf die Spitze zu nehmen.

Schon die Tatsache, daß die Bundesregierung wesentlichen Anteil daran hat, daß die Gerichte mit seinem Fall betraut werden, ist eine Steilvorlage für das weitere Anziehen der satirischen Schraube. So bietet die Behauptung, die Maßgabe der Staatsräson sei nicht als "Vorverurteilung oder eine Entscheidung über Grenzen der Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit" zu verstehen, viel Angriffsfläche, werden diese Freiheiten doch in einem Fall in Frage gestellt, während vergleichbare Verunglimpfungen anderer Staatschefs keinerlei derartige Folgen zeitigen. Wie glaubwürdig ist ein Rechtstaat, dessen Justiz sich politischen Vorgaben beugt, was im übrigen nicht nur bei Böhmermann geschieht, sondern beim Staatsschutzstrafrecht nach Paragraph 129 b die Regel ist, wo das Außenministerium gegenüber der Bundesanwaltschaft Weisungsbefugnis innehat? [2]

Die 2002 erfolgte Ausweitung des sogenannten Vereinigungsstrafrechtes, das politisch aktive Menschen schon aufgrund einer ihnen angelasteten Assoziation mit einer als terroristisch verbotenen Organisation kriminalisieren kann, auf Mitglieder ausländischer Organisationen richtet sich auch gegen die linke Opposition in der Türkei. Bis heute wird auf die Informationen türkischer Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste zurückgegriffen, wenn in der Bundesrepublik aktive Gegner der AKP-Regierung kurdischer oder türkischer Herkunft zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Was ist die Freiheit der Kunst wert, wenn die Einreise der politischen Musikgruppe Grup Yorum, die mehrfach in der Bundesrepublik Konzerte gegeben hatte, plötzlich nicht mehr möglich ist, wie kurz nach der Anbahnung des deutsch-türkischen Flüchtlingsdeals im letzten Jahr geschehen? [3]

Schon lange vor dem zwischen Ankara und Berlin ausgehandelten Pakt zum Ausbau der EU-europäischen Flüchtlingsabwehr haben deutsche Regierungen dafür gesorgt, daß in der Türkei, die seit 1952 der NATO angehört, verfolgte Linke auch im europäischen Exil mit Repression zu rechnen hatten. Ob das Militär in Ankara putscht oder die AKP-Regierung demokratische Grundrechte aufhebt, an der Rolle der Türkei als südöstlicher Eckpfeiler des westlichen Militärbündnisses soll ebensowenig gerüttelt werden wie an seiner Einbindung in die EU-europäischen Hegemonialinteressen im Nahen und Mittleren Osten.

Insofern hat Jan Böhmermann nicht nur ein Faß ergötzlicher Unterhaltung aufgemacht, sondern mit der Möglichkeit, die Divergenz zwischen beanspruchten Werten und realpolitischem Handeln, die sich die Bundesregierung leistet, in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu stellen, geradewegs die Büchse der Pandora geöffnet. Sie wieder zu verschließen ist nun Sache all derjenigen, die den deutschen Imperialismus nicht als kritikwürdige und kriegsträchtige Erblast verstehen, sondern ihn als imperiale Ambition einer zu alter wie neuer Größe strebenden Nation auf ihre Fahnen heften.


Fußnoten:

[1] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/04/2016-04-15-bundesregierung-entscheidung-boehmermann.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1367.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0290.html

15. April 2016


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