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KULTUR/1005: Wahrheitsdebatte um "Fake News" (SB)



Zumindest dem Ansehen der Enten ist damit gedient, daß irreführende Pressemeldungen neudeutsch als "Fake News" Furore machen. Das ist aber auch der einzige Fortschritt in einer Schlacht um die Wahrheit, die stets als Stoßseufzer der vorletzten Lüge daherkommt. Diese binäre Logik dreht sich im Kreis, und kommt es zur Machtprobe, dann mündet sie womöglich in einen blutigen Schlagabtausch. Wird bei Wahrheitsfragen Unterwerfung eingefordert, was die Regel ist, dann marschiert die Inquisition, die wie stets keinen Gott neben dem ihren duldet.

So ist denjenigen, die der russischen Regierung unterstellen, Wahlen in den USA und der EU mit dem Mittel derartiger Falschmeldungen zu manipulieren, ohne weiteres die tendenziöse Manipulation ihrer eigenen Wahrheit nachzuweisen. Das fängt mit ohne den Hauch eines Zweifels propagierten, obwohl schon im Anfangsstadium auf dünnen Beinen stehenden Kriegsgründen, die die US-Regierung 1991 und 2003 anführte, um einen gewaltsamen Regimewechsel im Irak herbeizuführen, wie erwiesenermaßen aus der Luft gegriffenen Greueltaten, mit denen Verteidigungsminister Rudolf Scharping 1999 Stimmung für die deutsche Beteiligung am Jugoslawienkrieg machte, an, geht mit einer Rußland seit Jahren einseitig der Aggression in Europa bezichtigenden Stimmungsmache, die das eigene geostrategische Kalkül systematisch unterschlägt, weiter und hört bei aktuellen Fragen wie etwa der Sprachregelung, bei den Verstrickungen der Verfassungsschutzämter in die NSU-Affäre habe es sich um "Pannen" gehandelt, oder der Berichterstattung über das Verfassungsreferendum in Italien, das den demokratischen Widerstand der Bevölkerung gegen eine Senatsreform, die vor allem das Durchregieren gestärkt hätte, ins schlechte Licht rechtspopulistischer Avancen rückte, noch lange nicht auf.

Dabei haben die Verfechter von Freiheit und Demokratie leichtes Spiel, sind sie doch nicht verpflichtet, sich in gleichem Atemzug, mit dem sie die eigenen Werte in Angriffsstellung bringen, für die im kapitalistischen Weltsystem vollzogenene Zerstörung der Lebensgrundlagen und -chancen von Milliarden zu rechtfertigen. Normativer Anspruch und ökonomische Realität sind schließlich zweierlei. Als Begründungskonstrukt zusammengedacht wird das Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit, wenn es der Unterstellung angeblich alternativloser Sachzwänge dient, um sogleich wieder auseinanderdividiert zu werden etwa mit dem klassischen Argument, hier dürfe nur verantwortungs- und nicht gesinnungsethisch entschieden werden. Die Kultur argumentativer Ausflüchte ist mindestens so reichhaltig wie die Zahl der Sozialwissenschaftler und Philosophen, die sie produzieren.

Wer "die Wahrheit" für sich in Anspruch nimmt, kann dies auf gesellschaftlich wirksame Weise nur tun, wenn er die Definitionsmacht reklamiert, mit der sie inhaltlich bestimmt und politisch durchgesetzt wird. Daß diese Wahrheit mit ihrer finanziellen und instrumentellen Bemittelung steht und fällt, ist der Erfordernis, sie durchzusetzen, immanent. Was zählt, ist Selbstevidenz, also die Erwirtschaftung einer Aussagekraft, die keiner Nachfrage bedarf. Kommt es dennoch dazu, bezeugen Experten ihre Gültigkeit, die sich auf akademische Weihen berufen können, ohne daß die Zwänge ihrer beruflichen Existenzsicherung und die Angst vor gesellschaftlichem Statusverlust auf angemessene Weise in Rechnung gestellt werden.

So werden als Lösung für die säkulare Krise des Kapitals Schuldenbremsen und Ausgabensperren in Anspruch genommen, die die Verwertungskrise weiter vertiefen. Obwohl spätestens 2008 gründlich blamiert, ist die neoliberale Marktdoktrin in den Wirtschaftswissenschaften nach wie vor hegemonial und erfreut sich einer personellen Kontinuität, die an die dynastischen Verhältnisse eines klerikalen Ordens erinnert. Wer demgegenüber mit aller Sachkompetenz die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Alternative vorschlüge, käme gar nicht erst zu Wort und hätte sich der Verharmlosung des angeblichen Unrechtsstaates der DDR schuldig gemacht, selbst wenn ganz andere Vorstellungen gesellschaftlicher Organisation im Spiel sind.

Alle Welt spricht über den Klimawandel und dessen absehbar katastrophale Folgen, doch wenn junge Aktivistinnen und Aktivisten mit legitimen, aber illegalen Mitteln Braunkohlebagger stoppen, werden sie als utopische Spinner diffamiert, wenn nicht als radikalökologische Terroristen verfolgt. Eklatante Widersprüche zwischen sozialer Realität und hehren Werteansprüchen auf den Punkt zu bringen hilft nicht weiter, und liegen sie noch so sehr auf der Hand. Statt dessen wird auf die unzureichende Einlösung marktradikaler Theoreme verwiesen, also Benzin ins Feuer gegossen, oder auf die Gefährdung von Arbeitsplätzen verwiesen, was jedes Gegenargument aus dem Feld schlägt. Für diejenigen, die einzuwenden wagen, daß der Mensch keinem Lohnherren unterworfen sein sollte und andere Formen der Organisation gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu entwickeln wären, gilt die Kategorie "utopische Spinner".

Wer Präzedenzfälle völkerrechtlicher Art heranzitiert, dem wird etwa die Unvergleichlichkeit der angeblich völkerrechtskonformen Abtrennung des Kosovo von Serbien und der um so völkerrechtswidrigeren Eigenständigkeit der Krim attestiert. Werden internationale Verträge zitiert, dann heißt es, daß die Lehrmeinung sich im Wandel befindet, es also eine Ermessensfrage sei, wann der Fall einer völkerrechtswidrigen Aggression gegeben sei. Mitunter wird auch die Notwendigkeit doppelter Standards ganz offen als Ausdruck der pragmatischen Führung uneinsichtiger Bevölkerungen ins Feld geführt. Neomachiavellistische Strategien allerorten, aber wenn dem erklärten Feind - Putin, Gaddafi, Assad, Gewaltherrscher aller Couleur - Lügen angelastet werden, soll an die eigenen Strategien kapitalistischer Landnahme, militärischer Gewaltanwendung und ökologischer Verwüstung nicht erinnert werden.

Wie das gar nicht so scherzhaft gemeinte Wort vom "postfaktischen" Zeitalter kündet die Debatte um Fake News vor allem davon, daß sich die Herren der Wahrheit, sprich Regierungen, Verlagskonzerne, öffentlich-rechtliche Sender, PR-Agenturen, Ideenschmieden usw., in der Defensive befinden. Die Dauerkrisen provozieren soziale Proteste, die zu aufstandsartigen Flächenbränden eskalieren können, da muß gegengesteuert werden. Das "Falsche" wird herausgestellt und skandalisiert, um Handlungsbedarf zu reklamieren. Sich auf der Kommandohöhe der Definitions- und Klassenmacht vergewissern zu müssen, daß diese nicht von den Barbaren erobert wird, die darauf ihre heidnischen Götter anbeten, verlangt nach schärferen, exekutiven Mitteln.

Die von einzelnen Politikern ventilierte Forderung, mit Maßnahmen wie Löschungen in sozialen Netzwerken oder dem Strafrecht gegen die Verbreitung von Falschnachrichten vorzugehen, legt vor allem die legitimatorischen Defizite herrschender Politik frei. Wo die Menschen entdecken könnten, daß sie gar nicht auf Stellvertreterpolitik angewiesen sind und basisdemokratische Rechte beanspruchen könnten, werden sie zur Bedrohung eines Krisenmanagements, dessen klassengesellschaftliche Voraussetzungen nicht zur Disposition stehen sollen. Die Gefahr, daß die Bevölkerungen sich von nationalistischer Indoktrination befreien und entdecken könnten, wo ihre Feinde tatsächlich stehen, ist auf jeden Fall zu unterbinden, und sei es zum Preis offener Zensur. Insofern handelt es sich bei Falschnachrichten nicht um ein Symptom in die Krise geratener Medien, sondern der Legitimität von Staaten, die sich ihrer bedienen, so wie angeblich unabhängige Medien auf den staatlichen Schutz der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung angewiesen sind.

18. Dezember 2016


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