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KULTUR/1019: Milch der frommen Denkungsart - ein Etikettenschwindel? (SB)



Der Streit um die Produktbezeichnung "Milch" nebst daraus hergestellter Erzeugnisse wie "Molke", "Rahm", "Butter", "Buttermilch", "Käse" und "Joghurt" wurde nun am Europäischen Gerichtshof (EuGH) höchstinstanzlich entschieden [1]. Unlauterer Wettbewerb liegt damit vor, wenn sich die Herrsteller pflanzlicher Produkte dieser Begriffe bedienen, um etwas zu verkaufen, was nach Sprachregelung des Urteils nicht das Kritierium erfüllt, "der normalen Eutersekretion" zu entspringen. Dementsprechend gelten als "Milcherzeugnisse" im Sinne des Gerichtes "ausschließlich aus Milch gewonnene Erzeugnisse, wobei jedoch für die Herstellung erforderliche Stoffe zugesetzt werden können, sofern diese nicht verwendet werden, um einen der Milchbestandteile vollständig oder teilweise zu ersetzen." Labferment aus den Mägen geschlachteter Kälber kann also weiterhin zur Käseherstellung verwendet werden, ohne daß dies eigens auf der Packung angegeben werden müßte. Da die bei der Milchproduktion zur Welt gebrachten Kälber ohnehin geschlachtet würden, und das meist als eher unerwünschter, da zusätzlichen Aufwand bedeutender Nebeneffekt der für die Milcherzeugung erforderlichen Schwängerung und Trächtigkeit der Kuh eingestuft wird, ändert sich für diejenigen, denen das Wohl des "Nutzviehs" am Herzen liegt, dadurch nichts.

Wenn sich die Herstellerfirmen veganer Milchersatzprodukte über die monopolistische Begriffsokkupation der Milchindustrie empören - die den veganen Markt ihrerseits mit entsprechenden Erzeugnissen beliefert und vegane Produzentinnen und Produzenten so von zwei Seiten in die Zange nimmt -, dann mit dem Argument, daß der Wettbewerb fair und gerecht zu erfolgen habe. Im kapitalistischen Geschäftsbetrieb geht es allerdings darum, die Konkurrenz mit dem Mittel überlegener Marktmacht aus dem Feld zu schlagen. Dies resultiert typischerweise in Konzentrationsprozessen mit dem Ergebnis eines marktbeherrschenden Oligo- oder Monopols, was auch in einem Nischenmarkt wie dem für pflanzliche Lebensmittel der Fall ist, sobald sein Wachstum das Interesse der Kapitalinvestoren weckt.

Nicht auf die genannten Begriffe in Kombination mit den Bezeichnungen für Pflanzenprodukte verzichten zu wollen ist marktstrategisch verständlich wie semantisch berechtigt. Für die Sache der Tiere, so Interesse daran besteht, sie von ihrer Ausbeutung zu befreien, ist es allerdings eher kontraproduktiv, den schon in der Bibel an vielen Stellen genährten Mythos vom segensreichen Charakter der Milch durch das Anpreisen von fake milk, wie es auf neudeutsch heißen müßte, zu verstärken. Doch auch für Menschen ist wenig gewonnen, wenn ihnen die Auffassungsgabe eines Kleinkindes unterstellt wird, dem mit Bärchenwurst suggeriert wird, von totem Fleisch angelacht zu werden.

Sollen "die Verbraucher", wie das Gericht urteilt, "vor Verwechslungen in Bezug auf die Zusammensetzung der Produkte geschützt (werden), die sie zu erwerben beabsichtigen", dann wird ihnen im Fall von Milchprodukten eine besonders hochgradige Geistesabwesenheit unterstellt. Niemand käme auf den Gedanken, bei "Leberkäse", "Blutorangen", "Babyöl" oder "Kakaobutter" etwas anderes zu erwarten als genau das, wofür diese Bezeichnungen stehen. Warum das bei einer erklärtermaßen rein pflanzlichen Milch ganz anders sein soll, kann das Gericht nicht erklären und will es auch nicht. Obwohl alle konsistente Rechtsprechung, wie auch im Falle des Vorwurfes unlauteren Wettbewerbs, auf der Vergleichbarkeit der zur Verhandlung gebrachten Rechtsgüter beruht, wird dies hier explizit ausgeschlossen. Weil es bei Fleischersatzprodukten durchaus um die "Wurst" geht und der Kläger daher den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt sah, erklärt der EuGH schlicht, daß "der Vergleich der für die Regelung der verschiedenen Marktbereiche verwendeten technischen Mechanismen keine taugliche Grundlage für den Vorwurf der Diskriminierung zwischen ungleichen Erzeugnissen, die verschiedenen Vorschriften unterliegen, darstellen kann".

Selbstverständlich entkommen die Damen und Herren des Hohen Gerichtes nicht der formallogischen Fessel, daß sich Unvergleichbarkeit nur auf der Basis von Vergleichbarkeit konstatieren läßt. Allein die Begriffe "ungleich" und "verschieden" in der Zurückweisung des Argumentes lassen erkennen, daß das, was für pflanzlichen Fleischersatz recht ist, für pflanzlichen Milchersatz nur billig sein kann. Die von Veganerinnen und Veganern an dem Urteil geübte Kritik, hier werde auf recht durchsichtige Weise die mächtige Milchindustrie bevorzugt, wird im Urteil des EuGH kaum verhohlen bestätigt, wenn als klares Kriterium der Urteilsfindung unter anderem die "Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Erzeugung und Vermarktung sowie der Qualität der 'Milch' und der 'Milcherzeugnisse'" genannt wird.

Wieso können diejenigen Aktivistinnen und Aktivisten, denen es um die Befreiung nichtmenschlicher Tiere geht, dennoch gut mit dem Urteil leben? "Ersatz" für Fleisch und Milch zu schaffen unterstellt, daß es sich dabei um höherwertige, nur aus Gründen der Not oder des Verzichts durch pflanzliche Produkte zu ersetzende Nahrungsmittel handelt. Wer sich pflanzlich oder vegan ernährt, bedarf keines Ersatzes und keiner Alternative. Eine solche Ernährung ist nicht mehr oder weniger von Zwang getrieben als die aller Lebewesen, die über ihren Stoffwechsel in innigen Kontakt mit ihrer Umgebung treten. Das als ethisch ausgewiesene Vorhaben,Tiere so wenig wie möglich zu schädigen, durch eine Lebenspraxis der Askese oder Selbstkasteiung zu verwirklichen kann zur Befreiung des Menschen vom Diktat einer Schuld, die ihn im Stand eines fremdbestimmten und unterworfenen Wesens beläßt, nichts beitragen. Die Milch der frommen Denkungsart anstatt der Milch "der normalen Eutersekretion" zu konsumieren beläßt die Welt im Zustand einer Unmündigkeit, aus der nichtmenschliche Tiere nicht befreit werden können, wenn menschliche Tiere sie nicht als Voraussetzung und Ergebnis ihrer religiös oder anderweitig anthropozentrisch bestimmten Überantwortung an die Gewalten und Gesetze der Natur begreifen.


Fußnote:

[1] http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=191704&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=690987

16. Juni 2017


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