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KULTUR/1036: Homo-, Trans- und Inter-Phobie - Machtspielfeld Sex ... (SB)



Seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 17. Mai 1990 beschloß, Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel für Krankheiten zu streichen, wird an diesem Tag in aller Welt gegen Homophobie und die Diskriminierung anderer geschlechtlicher Orientierungen protestiert. In der Bundesrepublik als Internationaler Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- & Trans*phobie (IDAHoBIT*) proklamiert soll mit Aktionen aller Art darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Feindseligkeit gegenüber nicht heterosexuell und nicht geschlechtlich binär orientierten Menschen nach wie vor groß ist. Nimmt man nicht die wenigen Gesellschaften zum Maßstab, in denen geschlechtliche Diversität weitgehend akzeptiert erscheint, dann steigt die Zahl der Fälle von Diskriminierung aller Menschen, die nicht auf heteronormative Weise leben, sogar weltweit an.

Das hat zweifellos mit dem Vormarsch der Neuen Rechten wie der Ausbreitung eines fundamentalistischen Islam zu tun, dessen Einfluß in einigen Staaten dafür gesorgt hat, daß Homosexuelle für ihr vermeintliches Vergehen mit dem Tode bestraft werden können. Der in der Neuen Rechten ausgeprägte Hang zu biologistischen und kulturalistischen Konzeptionen wie denen des "ethnischen Nationalismus" oder des "Volkskörpers" betrifft auch die zweigeschlechtliche Kleinfamilie, die als "natürliche" Norm gesellschaftlicher Reproduktion gegen Abweichungen aller Art zu verteidigen sei. Was im weitesten Sinn als Folge der Krise des Kapitals und der Unfähigkeit der demokratischen Systeme, daraus emanzipatorische Schlüsse zu ziehen, verstanden werden kann, wird in der Rückbesinnung auf patriarchale Formen gesellschaftlicher und sozialer Ordnung manifest.

So grassiert in der Neuen Rechten ein aggressiver Antifeminismus [1], der mit der Anprangerung des "Genderwahns" versucht, auf breiter Ebene in der Bevölkerung anschlußfähig zu werden. Das Emanzipationsstreben von Frauen ist für die Neue Rechte ohnehin ein zentrales Angriffsziel, um so vehementer wird - Ausnahmen in den eigenen Reihen bestätigen die Regel - gegen eine geschlechtliche Diversität vorgegangen, die das traditionelle Ehe- und Familienmodell als Keimzelle gesellschaftlicher Reproduktion in Frage stellt. Schwule und Lesben, Trans- und Inter-Menschen und natürlich Frauen sind in Ländern, die von faschistischen Politikern regiert und von christlich-fundamentalistischen wie islamistischen Moralprinzipien bestimmt werden, akut gefährdet, vergewaltigt, gefoltert und ermordet zu werden. Diese Entwicklung ist heute in vielen Teilen der Welt anzutreffen, wo es nach einer Phase relativer Liberalisierung krisenbedingt zu einem Rollback der extremen Rechten gekommen ist.

Lediglich für rechtliche Gleichstellung einzutreten und sich über einen schwulen Gesundheitsminister zu freuen, der das Abtreibungsverbot stärkt, oder die erste Trans-Befehlshaberin der Bundeswehr als Errungenschaft zu feiern, bleibt allerdings weit hinter den Möglichkeiten zurück, diese Form sozialer Feindseligkeit zum Anlaß einer universalen Emanzipationsbewegung zu nehmen. Die Überwindung anderer Unterdrückungsformen als derjenigen, die einen selbst betrifft, ist aus vielerlei Gründen von eminenter Bedeutung. Wenn die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer einen Witz auf Kosten von Inter-Menschen macht und sich gegen die Ehe für alle positioniert, dann korrespondiert diese Haltung ganz offen mit der Befürwortung autoritärer Staatlichkeit, der Abwehr von MigrantInnen und einer Wirtschaftsdoktrin, für die es Probleme wie den Klimawandel nicht zu geben scheint. Es ist kein Zufall, wenn in der Neuen Rechten Nationalchauvinismus, antimuslimischer Rassismus und Antifeminismus mit der Leugnung des Klimawandels, dem Kampf gegen den sogenannten Kulturmarxismus und der Abwehr diverser Geschlechterorientierungen Hand in Hand gehen.

Zentrales Bindeglied ist eine patriarchale Grundorientierung, für die Gott ein Mann ist, der Vater das Sagen in der Familie hat und die koloniale Eroberung der Welt wie die sexuelle Unterwerfung der Frau als Vorrecht weißer Maskulinität in Anspruch genommen wird. Männer, die sich dem Konsens maskuliner Dominanz versagen, werden mit homophob konnotiertem Vokabular als "Weicheier", "Warmduscher", "Sitzpinkler" oder "Schwanzlutscher" niedergemacht. Kleidung in der Farbe Rosa gilt als unmännlich, ihr zwangsweise verordnetes Tragen wurde in einem US-Knast sogar als Disziplinarstrafe vollzogen. Der ehemalige AfD-Politiker André Poggenburg beschimpfte 2018 parteiinterne Kritiker als "Jammerlappen" und "Distanzierungs-Muschi", der Führer des rechten Flügels in der AfD, Björn Höcke, klagt, Deutschland habe "seine Männlichkeit verloren", und spätestens seit Amtsantritt Donald Trumps und dem Aufstieg rechter Demagogen wie Steve Bannon kann in den USA von einer regelrechten "Pornifizierung" der Politik gesprochen werden [2]. Die AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber hat in ihrem Buch Inside AfD [3] ausführlich dargestellt, wie wichtig die Abwehr progressiver Geschlechterpolitiken für ihre ehemalige Partei ist. Mit einem Frauenanteil von etwa 20 Prozent, der Verankerung im männerbündischen Umfeld studentischer Burschenschaften und einem Verständnis von Frauenrechten, das auf die Bezichtigung muslimischer Männer als notorische Vergewaltiger weißer Frauen unter Ausblendung der Tatsache reduziert ist, daß sexuelle Gewalt vor allem in Ehe und Partnerschaft stattfindet, gehört patriarchale Dominanz praktisch zum ideologischen Kern der AfD.

In neurechten Kontexten wie der nach rechts gerückten bürgerlichen Mitte werden an und für sich wertfreie Begriffe wie "schwul", "Mädchen", "Opfer", "behindert" als auch der berüchtigte "Gutmensch" [4] heute als Schimpfwort verwendet oder zumindest empfunden. Angegriffen wird damit alles, was schwach erscheint oder sich für die Rechte von Schwachen stark macht. In der sozialdarwinistischen Hackordnung kommt nur nach oben und bleibt dort, wer vor Grausamkeit und Brutalität nicht zurückschreckt, was wiederum als maskulines Ideal verabsolutiert wird. Schwule, Lesben, Trans- und Inter-Personen, nonbinäre oder anderweitig nicht heteroorientierte Menschen haben es auf der Stufenleiter, auf der nur vorankommt, wer nach unten tritt und nach oben dienert, zumindest dann schwer, wenn sie sich patriarchaler Logik konsequent widersetzen.


Frühe Aufbrüche und späte Einsichten

"Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" hat Rosa von Praunheim 1971 seinen legendären Film zum Aufbruch der emanzipatorischen Schwulenbewegung getitelt. Zielsicher legte sein Drehbuchautor Martin Dannecker den Finger in die Wunde eines herrschaftsopportunen Anpassungstrebens unter den Männern, deren gleichgeschlechtliche Sexualität seit September 1969 entkriminalisiert war, die aber dennoch unter gesellschaftlicher Ächtung zu leiden hatten: "Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ als Dank dafür, daß sie nicht totgeschlagen werden" [5]. Heute können Schwule ein Eheverhältnis eingehen und damit das Versprechen bürgerlichen Glückes ganz legal für sich in Anspruch nehmen [6]. Um rückstandslos in der unterstellten Normalität der Gesellschaft aufzugehen, bedarf es jedoch weiterhin der Unterwerfung unter ihre patriarchale Ausrichtung, also der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen, die das Problem der Feindseligkeit gegenüber all denjenigen hervorbringen, die von dieser Normalität abweichen.

Der Vordenker der linken Schwulenbewegung in Frankreich, Guy Hocquenghem, war schon vor 50 Jahren der Ansicht, daß die Homosexualität nicht von Schwulen, sondern der homophoben Gesellschaft erfunden wurde. Als Mitglied der Front Homosexuel d'Action Révolutionnaire (FHAR), die 1971 erstmals mit einem eigenen schwul-lesbischen Block auf der Demonstration zum 1. Mai in Paris mitmarschierte, und Autor des 1972 veröffentlichten Klassikers Le Désir Homosexuel, auf deutsch 1974 als Das homosexuelle Verlangen erschienen, wurde Hocquenghem zu einem gefeierten wie geschmähten Star der schwulen Bewegung Frankreichs. Für beides war die gesellschaftlich hegemoniale Homophobie verantwortlich, deren Angriffsziel er selbst als Identitätsangebot ablehnte, weil er gar nicht davon ausging, daß gleichgeschlechtliches Verlangen ein exklusives Merkmal bestimmter Gruppen sei.

Für Hocquenghem erleben grundsätzlich alle Menschen, ob sie es bewußt wahrnehmen oder nicht, gleichgeschlechtliche wie heterosexuelle Gefühle. Sie werden auf vielerlei, geschlechtlich unspezifische Weise im Bedürfnis nach Nähe und Schutz, in der Anziehung durch bestimmte Körperteile und -formen, der Attraktivität bestimmter Gerüche und des Bedürfnisses nach Hautkontakt und Berührung manifest. Für den von Jean-Paul Sartre geschätzten, 1988 verstorbenen Autoren waren Begriffe wie Homo- oder Heterosexualität so abstrakt und verallgemeinernd, daß für ihn niemand pauschal homo- oder heterosexuell sein konnte. So unterschied er sexuelles Verlangen, das viele Ziele haben und durch spezifische Schlüsselreize ausgelöst werden kann, von Freundschaft und Liebe als ein Verhältnis zu ganz bestimmten Menschen. Letztlich galten ihm Homosexualität und Heterosexualität als imaginäre Kategorien, die im Strom des Verlangens untergehen ebenso wie die Schuldhaftigkeit einer Moral, die die Freiheit dieser Kraft zu regulieren versucht und nicht umsonst als Domäne der Religion und des Staates dazu verwendet wird, mißliebiges, die herrschende Ordnung unterminierendes Verhalten zu unterdrücken.


Im Wechselspiel von Sex und Gender Klassenverhältnisse vergessen

Für den Sexualwissenschaftler und Queer-Theoretiker Heinz-Jürgen Voß ist Guy Hocquenghem ein Vordenker der von ihm vertretenen Position, daß die Geschlechtlichkeit des Menschen nicht auf zwei komplementäre, als biologisch gegeben unterstellte Formen zu reduzieren sei, sondern in einer letztlich unendlichen Vielfalt manifest werde. Für den Herausgeber des Buches Die Idee der Homosexualität musikalisieren: Zur Aktualität von Guy Hocquenghem eröffnete dieser, wie Voß bei einer Buchvorstellung auf den 16. Linken Buchtagen Berlin im Juni 2018 ausführte, einen frühen Zugang zum Konzept der Intersektionalität, also der Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen etwa des Rassismus, Sexismus, der Behindertenfeindlichkeit oder des Antisemitismus. Das Streben des Schwulen nach gesellschaftlicher Anerkennung sieht Voß durchaus kritisch, kann der Status des respektablen Bürgers doch virulente Formen der Ausgrenzung und Feindseligkeit stärken, die in der gesellschaftlichen Delinquenz der Homosexualität keinen Platz finden, weil Randständige und Ausgestoßene mehr Gründe haben, solidarisch zu handeln, als die Kette der Erniedrigung ad infinitum fortzusetzen.

So, wie die gesellschaftliche Integration sogenannter Ausländer auch die Aufgabe einer schwer zu kontrollierenden Randständigkeit im Tausch gegen die Unterwerfung unter den disziplinierenden Zwang der Lohnabhängigkeit bezweckt, kann die Normalisierung des Schwul- oder Queerseins in Ausschließungsmanöver münden, aus denen als neues Feindbild der linksautonome Chaot, der islamistische Fanatiker, die nichtweiße MigrantIn oder eben der HIV-positive, weil promisk lebende Schwule ersteht. Der der Heteronormalisierung implizite Zwang, andere Lebensweisen nur dann anzuerkennen, wenn sie sich normativ angleichen und in eheähnlichen, ökonomisch abgesicherten Zweierbeziehungen resultieren, verstärkt die Ausgrenzung all jener, die wechselnde GeschlechtspartnerInnen bevorzugen, in sinistren Subkulturen zu Hause sind, illegale Drogen konsumieren und sich insgesamt einer Sozialkontrolle entziehen, die nicht zuletzt über das zugeordnete Geschlecht und den eingetragenen Familienstand vollzogen wird.

Aus dem staatlichen Anspruch auf umfassende Sozialkontrolle erklärt sich auch das Insistieren auf die medizinische Legitimation, ohne die sich kein Eintrag als drittes oder anderes Geschlecht ins Personenstandregister vornehmen läßt. Zu den offiziellen Gründen für die Notwendigkeit, dem Staat gegenüber überhaupt eine Angabe zum Geschlecht zu machen, werden in einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrates folgende Zwecke aufgelistet: "die genauere Identifizierbarkeit des Menschen, statistische Erhebungen für staatliche Planungen, die Einhaltung internationaler Standards, die Erkennbarkeit von Rechten und Pflichten der Staatsbürger wie die Wehrpflicht, die Identifizierung des Geschlechts für das Eingehen einer Ehe oder Lebenspartnerschaft, sicherheitspolizeiliche bzw. ordnungspolitische Interessen und die Chancengleichheit im Sport" [7].

So, wie Sex als biologisches Geschlecht für die Belange des administrativen Kommandos unverzichtbar zu sein scheint und der bestimmenden Gewalt medizinischer Urteilskraft unterstellt wird, so wird versucht, dem Konzept Gender als soziales Geschlecht so wenig Gültigkeit wie möglich zuzugestehen. Zu unbeherrschbar erscheint ein Anspruch auf geschlechtliche Autonomie, dem letztlich keine Grenzen gesetzt sind, so daß es konsequenterweise dem einzelnen Menschen überlassen bleiben sollte, diese kategorial zu benennen oder gänzlich zu negieren. Geschlechterfragen sind hochpolitischer Zündstoff für die Verwaltung der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, sie begründen den Anspruch auf Unterwerfung unter ihre Definitionsmacht ebenso wie die potentielle Überwindung der durch sie fungierenden Fremdbestimmung. Der Entgrenzung und Verflüssigung aller Kategorien, mit denen das einzelne Marktsubjekt dingfest gemacht werden soll, hält der staatliche Kontrollanspruch absehbar nicht stand, was auch die starke Abneigung der staatsautoritären Rechten gegen die Aufhebung vertrauter Geschlechterkategorien erklärt.

Für Voß gehen Homosexuelle ununterscheidbar in der heteronormativen Gesellschaft auf, nicht weil sie ihr Geheimnis besser verbergen, sondern weil sie in Körper und Seele uniform werden, weil sie das schmutzige Ghetto der im Sinne offensiven Schwulseins selbstbewußt in Anspruch genommenen Andersartigkeit gegen die saubere, distinktionssichere Bürgerlichkeit ihrer Klasse eintauschen. Dort finden sie, ganz wie im heterosexuellen Normalfall, einen festen Partner und befriedigen die Lust am gelegentliche Abenteuer mit sogenannten Seitensprüngen, die allerdings nicht mehr in die nun als abseitig verworfene Welt der dunklen Ecken und Klappen führt.

Entscheidend für die herrschaftstechnische Verläßlichkeit der offiziellen Homosexualität ist die Trennung von all jenen, die als Opfer kapitalistischer Ausbeutung, urbaner Gentrifizierung oder rassistischer Diskriminierung auf der Strecke gehobener Bürgerlichkeit bleiben. Erst wenn dies vollzogen ist, stehen höchste Ämter offen und findet eine Alice Weidel einen Platz an der Spitze der AfD. In der kapitalistischen Klassengesellschaft bleiben die besseren Kreise unter sich, das gilt für die darin zuguterletzt angekommenen Schwulen und Lesben nicht minder als die RepräsentantInnen einer Liberalität, die sich damit schmückt, divers zu sein, auch weil Klassenantagonismen damit noch unsichtbarer gemacht werden, als es unter dem Ansturm neurechter Ideologeme ohnehin der Fall ist.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/d-brille/report/dbrb0078.html

[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/essay-wie-trump-und-die-alt-right-bewegung-politik.976.de.html?dram:article_id=438427

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar697.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/prop1499.html

[5] https://www.jungewelt.de/artikel/146283.normalität-ist-eine-illusion.html

[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1021.html

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele1024.html

16. Mai 2019


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