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KULTUR/1037: Alternativkultur - die Totenglocken von Woodstock ... (SB)



Diese neue Generation von ArbeiterInnen war nicht so sehr an den alten Traditionen der Arbeiterparteien interessiert. Ebensowenig hatte sie mit der sozialistischen Ideologie eines staatseigenen Systems zu tun. Diese jungen ArbeiterInnen hatten viel mehr mit der Hippiebewegung und der Geschichte der künstlerischen Avantgarde gemein. Die massive Zurückweisung der Traurigkeit der Arbeit war das zentrale Element ihres Protestes.
Franco Berardi über Arbeitskämpfe in Turin 1973 [1]

Viele KulturkritikerInnen ziehen eine direkte Linie vom Aufbruch der Hippies in den 1960er Jahren, der seinen Zenit in Woodstock vor 50 Jahren erreicht haben soll, zur kulturindustriellen Glorifizierung dieses Musikfestivals und ihrer Institutionalisierung als konsumistische Eventkultur, die von der rührseligen Innenschau der New-Age-Bewegung bis zum hedonistischen Abfeiern narzistischer Selbstbespiegelung keinen Fallstrick herrschaftskonformer Befriedung ausließ. Der schlechte Ruf der Hippies als einer zu unpolitischem Drogenkonsum und kindlich-naiver Verklärung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse neigenden Bewegung korrespondiert mit dem Bild des vom 15. bis 18. August 1969 währenden Massenauflaufes, der überraschenderweise nicht in Zerstörung und Gewalt entgleiste, obwohl es an möglichen Anlässen dazu nicht mangelte. Der in unmittelbarem Anschluß an das Festival entstandene, inzwischen legendäre Ruf der Manifestation der Woodstock Nation als kurzfristige Verwirklichung des Ideals von Love & Peace überhöht das Ereignis mithin ebensosehr, wie das ebenfalls sofort einsetzende Jammern über die chaotischen Umstände des Festivals und den vielen zurückgelassenen Müll bis heute sein Echo in der Verkürzung des Ereignisses auf eine egoistische, von Drogenkonsum befeuerte Lustbarkeit findet.

In der Rückschau fällt es nicht schwer, mit der Woodstock zugeschriebenen Ideologie radikaler Selbstverwirklichung fugenlos an die Selbstoptimierungslogik neoliberaler Marktsubjekte anzuschließen. Was für die Absicht der Veranstalter, ein für sie lukratives Popfestival abzuhalten, das inbesondere über die Verwertungsrechte für Film und Album viel Geld einspielen sollte, zweifellos zutrifft, beschreibt jedoch lediglich die äußere Wirkung des Events. Die Immunisierung der jungen Generation gegen die Militanz der gegen Imperialismus, Kapitalismus und Rassismus kämpfenden radikalen Linken bediente sich der in Woodstock zelebrierten Popkultur vor allem deshalb, weil die Bereitschaft zum politischen Kampf unter vielen Studierenden, aber auch unter ArbeiterInnen der schwarzen Minderheit 1969 eine echte Bedrohung der US-amerikanischen Klassengesellschaft darstellte. Die gegen die Führer der Black Panther Party initiierte Mordkampagne des FBI und die breit angelegte Kriminalisierung der radikalen Linken legen Zeugnis davon ab, daß der Staat mehr als bereit dazu war, Aufstandsbekämpfung mit allen legalen und illegalen Mitteln zu betreiben.

Auch die mit psychedelischer Rockmusik und halluzinogener Bewußtseinserweiterung assoziierte Hippie-Bewegung bestand zu einem Gutteil aus sozialrevolutionär gesonnenen Menschen. Turn On, Tune In, Drop Out - die soziale Konsequenz dieses drogeninduzierten Dreiklanges bestand in der Abkehr von der kapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft und der Bildung selbstorganisierter Gemeinschaften, die traditionelle Hierarchien und patriarchales Gehabe ebenso verabscheuten wie den liberal-bürgerlichen Individualismus weißer Suprematie. Die sogenannte Gegenkultur verfügte Mitte der 1960er Jahre über Millionen AnhängerInnen, die nicht mehr so wie ihre Eltern leben wollten, die das Glück nicht im Supermarkt und bei der Lohnarbeit suchten und denen der Krieg in Vietnam wie die Repression gegen nichtweiße Minderheiten in den USA konkreter Ausdruck der sie unterdrückenden Herrschaftsverhältnisse war.

Diese ideologisch stark im libertären Anarchismus verankerte, vom Anspruch auf radikale Kollektivität, aber auch sozialistisch gesonnene Bewegung war unter frühen Hippies sehr präsent und führte zur Gründung zahlloser Landkommunen und Gemeinschaftsexperimente in dieser Zeit. Innerhalb der Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung sind befreite Zonen jedoch von befristeteter Haltbarkeit, das mußten auch die Digger erleben, die versuchten, die programmatische Ablehnung jeglichen Privateigentums in San Francisco mit diversen Projekten selbstorganisierter Ökonomie wie Umsonstläden, kostenloser medizinischer Versorgung und Suppenküchen für Obdachlose zu verwirklichen. Im Oktober 1967 packten sie das Ladenschild ihres Zentrums in einen Sarg, trugen ihn feierlich durch das damalige Hippieviertel Haight Ashbury und begruben ihn anschließend in einem Park, um den Sieg der Drogendealer, Abzocker, Touristen und Cops über die Hippiebewegung offiziell zu verkünden.

So fand in Woodstock der Abgesang jener utopischen Idee revolutionärer Kollektivität statt, die die Hippiebewegung und die mit ihr assoziierte radikale Linke in den USA verwirklichen wollten. Über Privateigentum und Gemeinschaftsgüter mußte in der gefühlten Freiheit des dreitägigen Ausnahmezustands nicht mehr nachgedacht werden, insofern stimmt die kulturkritische Sicht auf das Ereignis. Was sie jedoch unterschlägt, ist das, was von den Aufwallungen zweckfreier Ekstase hinweggespült wurde und beim Abarbeiten zeitgeschichtlicher Pflichttermine in den Feuilletons erst recht keine Beachtung findet. Das betrifft auch die Musik, deren psychedelische Qualitäten den Ausstieg aus den herrschenden Verhältnissen zumindest imaginär beflügelten. Schon das ist aus der Sicht einer Unterhaltungskultur, die kein Außen und erst recht keinen Ausstieg mehr kennt, weil jeder noch so harmlose Anflug dissidenter Wahrnehmung zielsicher in die Biege affirmativer Totalität geleitet wird, kaum mehr vorstellbar.

Heute reicht der Schattenwurf der Epoche trotz der zahlreichen Musikfestivals, die von einer transnationalen Unterhaltungsindustrie jeden Sommer abgehalten werden, nicht einmal mehr dafür aus, wie bei früheren runden Jubiläen ein Woodstock-Gedenkfestival abzuhalten. Daß der matte Abglanz des Woodstock-Mythos derart ausgelaugt ist, legt die Diagnose moribunden Dahindämmerns für die Enkel der Hippie-Bewegung nahe. Widerständige Kollektivität muß nicht einmal mehr verneint werden, so umfassend fiel sie dem bequemen Vergessen all dessen zum Opfer, für das zu kämpfen bestenfalls die drohende Finalität gesellschaftlicher Naturverhältnisse neue streitbare Energie freisetzen könnte. Schon vor 50 Jahren hat die Lebensfreude der Hippies zu fundamentaler Kritik an den zerstörerischen Produktionsbedingungen, zur Verweigerung konsumistischen Naturverbrauches und zum Auszug aus Fabrik und Büro geführt. Der soziale Widerstand gegen Fremdbestimmung und Ausbeutung hält bis heute an, auch darin ist eine direkte Linie von den Hippies in die Gegenwart und Zukunft des Spätkapitalismus angelegt.


Fußnote:

[1] Franco Berardi: After the Future, AK Press, 2011, S. 48

19. August 2019


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