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KULTUR/1050: Coronavirus - ein Grund zum Anlaß ... (SB)



Wer will noch etwas von der Klimakrise hören, wenn der Coronavirus vor der Tür steht? Mit der Ankündigung einer möglicherweise nicht mehr aufzuhaltenden Pandemie, bei der die Verbreitung des hochinfektiösen Virus SARS-CoV-2 mit einer rund 10mal so hohen Sterblichkeitsrate wie die der alljährlichen Grippesaison [1] einhergeht, verdrängt die unmittelbare Bedrohung die von vielen Menschen immer noch als sehr abstrakt wahrgenommene Klimakrise aus den Schlagzeilen. Dabei weisen beide Entwicklungen einige Gemeinsamkeiten auf und sind zudem auf mehreren Ebenen miteinander verknüpft.

Augenfällig ist vor allem der alle Menschen weltweit betreffende Charakter von Pandemie und Klimakrise. Zwar gab es immer schon geographisch weit ausgreifende Epidemien, doch niemals hatten sie eine solche Verbreitungsgeschwindigkeit wie in den letzten 100 Jahren. Die 1918 ausgebrochene Virusgrippe gilt als erste weltweite Pandemie und raffte, je nach Quelle, zwischen 50 und 100 Millionen Menschen hin. Ihre Verbreitung wurde durch den von immer mehr Menschen genutzten Schiffsverkehr zwischen den Kontinenten begünstigt, ihr epidemischer Charakter war jedoch vor allem durch die von Armut, Hunger, Enge und chronischen Krankheiten bestimmten Lebensbedingungen in den Metropolen der neuen Industriegesellschaften bedingt. Insbesondere die durch Fabrikabgase, Kohlestaub, Mangelerscheinungen, kalte und feuchte Wohnbedingungen um sich greifenden Lungenerkrankungen schufen ideale Verbreitungsbedingungen für den Erreger der Spanischen Grippe, die während des Ersten Weltkrieges ausbrach und bis 1920 anhielt.

1957 und 1958 starben an der sogenannten Asiatischen Grippe 1 bis 2 Millionen Menschen weltweit, und die von 1968 bis 1970 um sich greifende Pandemie der sogenannten Hongkong-Grippe kostete über 1 Million Menschen das Leben. Seitdem gab es mehrere Fälle neuartiger Influenza- und Corona-Viren, die das Potential einer pandemischen Entuferung aufwiesen. Befürchtet wird insbesondere der Ausbruch einer Pandemie, deren Sterblichkeitsrate so hoch liegt, daß viele Millionen Menschen sterben werden und die gesellschaftliche Ordnung zutiefst erschüttert wird. Als medikamentöse Gegenmaßnahme wird vor allem zu sogenannten Virostatika gegriffen, die in den Stoffwechsel der Viren eingreifen und ihre Vermehrung verlangsamen, was in der Therapie von HIV-positiven Menschen erfolgreich Anwendung findet. Problematischer ist die Bereitstellung gegen den jeweiligen Virus gerichteter Impfstoffe, die, wenn kein bereits erprobtes Mittel verfügbar ist, erst in einem langwierigen Prozeß entwickelt und hergestellt werden müssen.

Auffällig am Aufkommen neuer Influenza- und Corona-Erreger ist genetische Variabilität der Viren, die in einer anwachsenden Durchlässigkeit der Artenschranke und dem schwindenden Schutz des menschlichen Organismus vor Infektionen, die zuvor auf bestimmte Tiere beschränkt waren, einhergeht. Begünstigt wird die Mutation dieser Viren durch die hohe Dichte der Bevölkerungen in Megacities, die sich zum Teil über weite Regionen erstrecken und von ländlichen Gebieten durchzogen sind. Die großen Agglomerationen im chinesischen Perlflußdelta, die schon mehrmals Ausgangspunkt bedrohlicher Epidemien waren, zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Bevölkerungsdichte aus, sondern weisen aufgrund der dort weit verbreiteten Haltung kleiner Nutztierbestände und des Handels wie Verzehrs seltener Wildtierarten eine hohe Intensität des Kontakts zwischen verschiedenen Spezies aus.

Wenn zum engen Zusammenleben von Mensch und Tier noch chronische Atemwegserkrankungen hinzukommen, die durch die Belastung der Luft mit Feinstäuben und Umweltgiften bedingt sind, die aus der hohen Konzentration industrieller Anlagen und Verkehrsinfrastrukturen resultieren, scheinen die Voraussetzungen für die Entstehung neuartiger Infektionen besonders gut zu sein. Das gilt überall, wo die Vertreibung der Menschen vom Land in den Megaslums der Städte endete, wo die Rodung der Urwälder und agroindustriell bedingter Gentransfer zur Einebnung biologischer Grenzen geführt hat, wo die intensive Tierhaltung die Ausbildung von Resistenzen bei Antibiotika begünstigte, auf die man bei der Behandlung bakterieller Koerkrankungen von Virusinfektionen dringend angewiesen ist. Gleichzeitig ist die Welt durch den Ferntourismus und die ökonomische Globalisierung so eng zusammengerückt, daß Wuhan und Hamburg nicht mehr auf verschiedenen Kontinenten liegen, sondern im Waren- wie Reiseverkehr fast Nachbarn sind.


Aus den Krisen lernen

Nicht nur die Klimakrise, sondern auch die Entstehung neuer Pandemien ist mit den Produktionsverhältnissen und der Wachstumsorientierung des kapitalistischen Weltsystems eng verknüpft. Der Coronavirus stellt den Erhalt der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen zwar nicht direkt in Frage, aber die prinzipielle Angreifbarkeit moderner Industriegesellschaften wird von unerwarteter Seite her sichtbar gemacht. Im Falle Chinas, das mit der Herstellung eines Viertels aller global konsumierten Industrieprodukte als Fabrik der Welt gilt, hat dies bereits zu einem massiven Einbruch in der Produktion und dem dadurch bedingten Rückgang der CO2-Emissionen um 25 Prozent geführt [2]. Was angeblich als Maßnahme zur Begrenzung des Klimawandels angestrebt wird, gilt nun als gefährliche Krise der Weltwirtschaft, drohen die weitgestreckten Lieferketten von Vorprodukten industrieller Fertigung und die sogenannten Wertschöpfungsketten, also die durch die Ausnutzung von Produktivitätsunterschieden zwischen verschiedenen Wirtschaftsräumen ermöglichte Kapitalakkumulation, doch regelrecht zusammenzubrechen.

Während auf der einen Seite die Zerstörungskraft des zum Erhalt der natürlichen Lebensvoraussetzungen zu produktiv gewordenen Kapitalismus zurückgefahren werden soll, wird die Unterbrechung des globalen Wirtschaftswachstums als Gefahr für Kapitaleigner und -investoren und mittelbar aller von ihnen abhängig gemachten Menschen verstanden. Tatsächlich steht und fällt die konkrete Bedrohung, die von Pandemien ausgeht, mit der sozialen Lage der betroffenen Bevölkerungen. Wo das Gesundheitswesen nicht so gut ausgebaut wie in der Bundesrepublik ist, wo aufgrund der schlechten Lebensmittelversorgung ein chronischer Mangel an essentiellen Nährstoffen grassiert und die physische Abwehrbereitschaft dementsprechend geschwächt ist, sinken die Überlebenschancen möglicherweise drastisch. Wie in der Klimakrise, die Millionen Menschen zur Flucht aus zum Lebenserhalt nicht mehr tauglicher Regionen nötigt, verteilen sich die Chancen auch hier entlang des Produktivitätsgefälles zwischen dem Globalen Norden und Süden.

Selbstverständlich ist ein krisenhafter Einbruch in die Weltökonomie nicht das gleiche wie die planmäßig und systematisch vollzogene Aufhebung der Wachstums- und Wettbewerbsorientierung zugunsten einer gesellschaftlichen Produktionsweise, mit der sich der Klimawandel eindämmen ließe. Die Reaktionen auf die ökonomischen Probleme, die durch die Coronavirus-Pandemie bedingt sind, zeigen jedoch vor allem dies - keinesfalls, auch nicht unter sich permanent verschlechternden Klimabedingungen und der synchron anwachsenden Zerstörung der natürlichen Lebensvoraussetzungen ist man gewillt, neu über das System der globalisierten Marktwirtschaft und des sie antreibenden kapitalistischen Akkumulationsregimes nachzudenken. Bei der internationalen Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tritt im übrigen eine Bereitschaft zur weltweiten Kooperation zutage, die bei der Rettung flüchtender und hungernder Menschen oder der Verhinderung von Kriegen kaum noch vorhanden zu sein scheint - warum wohl? Wo die medizinische Krise den destruktiven Charakter herrschender Produktionsbedingungen deutlich vor Augen führt, könnte das Anlaß zu der Frage sein, ob dieser Anstoß nicht produktiv zur Ermöglichung dessen genutzt werden sollte, was im Rahmen der internationalen Klimaschutzpolitik als unausweichlich erachtet wird und zur weltweiten Überwindung sozialer Ungleichheit ohnehin getan werden muß.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/lungenkrankheit-covid-19-virologe-behoerden-in-europa.694.de.html?dram:article_id=471021

[2] https://www.carbonbrief.org/analysis-coronavirus-has-temporarily-reduced-chinas-co2-emissions-by-a-quarter

29. Februar 2020


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