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KRIEG/1344: Globale Mangelverwaltung ... neues Einsatzfeld der NATO (SB)



Auf seiner ersten Pressekonferenz am 3. August in Brüssel legte der neue NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen eine Roadmap zur Erarbeitung des nächsten Strategischen Konzepts der Militärallianz vor. Eine aus zwölf Politikern und Diplomaten bestehende Expertengruppe, geleitet von der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright und dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Royal Dutch Shell Jeroen van der Veer, soll einen umfassenden Beratungsprozeß koordinieren, an dem Rasmussen Regierungen, Think Tanks, NGOs und andere internationale Organisationen beteiligen will.

Die auf dem NATO-Gipfel in Kehl und Strasbourg von den dort anwesenden Staats- und Regierungschefs beschlossene Neuformulierung des Strategischen Konzepts der NATO wurde am 7. Juli auf einem Seminar der Militärallianz in Brüssel von Rasmussens Vorgänger Jaap de Hoop Scheffer mit den Worten erläutert, es sei nun an der Zeit, die Mutmaßung, es gebe einen Unterschied zwischen innerer und äußerer Sicherheit, endgültig zu verabschieden. Die Beistandspflicht der NATO nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags könne ebenso innerhalb wie außerhalb des Bündnisgebiets gelten. Heute gehe es nicht mehr darum, "unser Territorium oder unsere Bevölkerungen zu verteidigen", sondern die Aufgabe bestehe darin, daß "unsere Bevölkerungen nicht nur sicher sind, sondern sich auch sicher fühlen".

Mit diesem kleinen, aber wesentlichen Unterschied beanspruchte Scheffer die Zuständigkeit der NATO für Bereiche des zivilen Lebens und der öffentlichen Organisation, die etwa auch die mediale Indoktrination der Bevölkerung betreffen können. Zwar erklärte er, die Bedrohungen, gegen die sich die NATO wappnen müsse, lägen hauptsächlich außerhalb Europas und beständen in einer Form von "Extremismus", wie er von Afghanistan und anderen Ländern ausgehe. Doch das große Gewicht, das Scheffer auf die Zusammenarbeit zwischen NATO und EU legte, sowie die Redebeiträge von Vertretern ziviler Institutionen wie der EU-Kommission, des Welternährungsprogramms, des italienischen Energiekonzerns ENI und des britischen Versicherungskonzerns Lloyds belegten, daß die NATO sich anschickt, ihren Einfluß weit über den Horizont, den man vor zehn Jahren abgesteckt hat, auszudehnen.

Während die Bomber der NATO ihre tödliche Fracht über Jugoslawien entluden, beschlossen die im April 1999 in der US-Hauptstadt Washington versammelten Staats- und Regierungschefs, den bereits mit diesem Krieg faktisch realisierten Schritt, die nominelle Verteidigungsallianz in ein reales Angriffsbündnis zu verwandeln, offiziell in dem damals verabschiedeten Strategischen Konzept zu verankern. Die Begrenzung des Bündnisgebiets, wie sie im Nordatlantikvertrag von 1949 festgelegt war, wich einer indifferenten Definition von der "Sicherheit des euro-atlantischen Raums", die es notfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen gelte. Zudem wurden "Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen" wie auch die "unkontrollierte Bewegung einer großen Anzahl von Menschen" als Anlässe ausgemacht, die NATO möglichst frühzeitig als Kriseninterventionskraft einzusetzen.

Wenn die Direktorin des Welternährungsprogramms (WFP), Josette Sheeran, heute darauf drängt, daß die Schaffung von Ernährungssicherheit in das Strategische Konzept der NATO aufgenommen werden soll, weil Hunger Wanderungsbewegungen und Revolten auslöse wie tote Menschen zur Folge habe (Defense News, 07.07.2009), dann scheint sie die Hoffnung auf das Gelingen konventioneller Methoden der Hungerbekämpfung aufgegeben zu haben. Kurz nach ihrem Auftritt bei der NATO in Brüssel beklagte Sheeran die mehrere Milliarden Dollar betragende Unterfinanzierung des WFP. Daß die Nothilfe für über eine Milliarde hungernder Menschen an im Verhältnis zu den gigantischen Rüstungsbudgets geringen Summen scheitert, legt nahe, daß die globale Mangelverwaltung hinter die Substitution der Not zurückfällt. Anstatt weitere Preissteigerungen durch den Zugriff auf knapper werdende Lebensmittel zu provozieren und damit deutlich zu machen, daß die weltweit erzeugte Menge Getreide unter den herrschenden Produktions- und Verwertungsbedingungen nicht für alle Menschen reicht, geht man zu bewaffneten Formen der Sicherung essentieller Überlebensressourcen über.

Wenn die NATO, wie von Sheeran vorgeschlagen, mit präemptiven Aktionen zur Bekämpfung des Hungers beitragen soll, dann verrät der Verweis ihrer Sprecherin Emilia Casella auf die große Zahl von Hungeraufständen nach dem drastischen Ansteigen der Nahrungsmittelpreise 2008, daß neben der präventiven Entwaffnung möglicher Aufständischer auch deren aktive Bekämpfung zum Einsatzprofil von NATO-Interventionen in die Hungergebiete der Welt gehören könnte. Auch die Intervention in Staaten wie etwa Nordkorea, denen man vorwirft, die eigene Bevölkerung auszuhungern, die militärische Flankierung von Nahrungsmitteltransporten oder die strategische Sicherung landwirtschaftlicher Produktionsvoraussetzungen sind denkbare Szenarios der krisenbedingt verschärften Mangelverwaltung. Daß NATO-Staaten ihrerseits mit der Beteiligung am UN-Wirtschaftsembargo gegen den Irak oder an der Blockade Gazas aktiv für die Aushungerung ganzer Bevölkerungen verantwortlich waren und sind, steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist genuiner Ausdruck einer nach politischen und geostrategischen Gesichtspunkten formierten Weltordnung.

Offensichtlich wittert man bei der NATO hinsichtlich der durch den Klimawandel, die Verknappung fossiler Energien und die Weltwirtschaftskrise sich auftürmenden Probleme Morgenluft. Sicherheit definiert sich, wenn nicht ohnehin als Vorwand zum Erreichen geostrategischer Ziele ins Feld geführt, als Verteidigung der wohlhabenderen Weltregionen gegen die Hungerleider in den Ländern des Südens. Angesichts zu erwartender Fluchtbewegungen fühlt man sich in den Metropolengesellschaften Nordamerikas und Westeuropas nicht mehr sicher. Dieses Problem soll die NATO mit weitreichenden administrativen Vollmachten für den letztendlich immer gewalttechnisch strukturierten Ausnahmezustand herrschender Krisenregulation beheben.

6. August 2009