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KRIEG/1412: Stadtälteste von Marjah reden Klartext mit Karzai (SB)



Der afghanische Statthalter der Besatzungsmächte im durch massiven Wahlbetrug okkupierten Präsidentenamt, Hamid Karzai, wird mitunter verächtlich als "Bürgermeister von Kabul" verspottet, da sein Einfluß kaum über die Stadtgrenzen hinausreicht. Die gemeinsame Offensive der ISAF und der einheimischen Streitkräfte, die am 13. Februar mit rund 15.000 Soldaten in der Provinz Helmand begonnen hatte und in der Vertreibung des Widerstands aus der einstigen Taliban-Hochburg Marjah gipfelte, ermöglichte es dem Staatschef von Gnaden des westlichen Kriegsregimes jedoch, dieser Stadt einen Überraschungsbesuch abzustatten. Zwar mußte Karzai damit rechnen, daß man ihn dort nicht mit offenen Armen empfangen würde, doch konnte er schlechterdings diese günstige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen, Seite an Seite mit dem obersten Kriegsherrn General Stanley McChrystal den proklamierten Erfolg ihrer Strategie abzufeiern.

Niemand zweifelte je daran, daß sich der Gegner angesichts dieser militärischen Übermacht zurückziehen würde, um seine Angriffe an andere Schauplätze im Land zu verlagern. Da die alliierten Truppen in absehbarer Zeit nach Kandahar weiterziehen werden, um auch diese Stadt von den Taliban zu "befreien", stellt sich allerdings die Frage, was dann aus Marjah werden soll. Um dieses im Grunde seit mehr als acht Jahren ausgeblendete Kernproblem des Afghanistankriegs zu kaschieren, der dem vielbeschworenen Wiederaufbau keineswegs den Boden bereitet hat, sprang ausnahmsweise auch Karzai fern der Hauptstadt in die Bresche, um Präsenz der Zentralregierung zu simulieren.

Bei einer Zusammenkunft mit 300 Stadtältesten in einer Moschee flogen Karzai und McChrystal lautstark vorgebrachte Brocken tiefsitzenden Unmuts nur so um die Ohren. Die afghanischen und internationalen Truppen, so war allenthalben zu hören, seien bei ihrer Offensive in Helmand ohne Rücksicht auf Zivilpersonen vorgegangen. Während der dreiwöchigen Offensive habe man wiederholt Unschuldige festgenommen, zahlreiche Wohnungen geplündert und die Hausdurchsuchungen in Marjah bar jeder Sensibilität erzwungen. Daher forderten die Wortführer des Protests, künftig dürften keine ausländischen Soldaten mehr afghanische Wohnungen betreten.

Beklagt wurde die Unfähigkeit der Zentralregierung, kommunale Dienstleistungen sicherzustellen, da man seit Jahren aus Kabul nichts als Versprechen gehört habe, die nie eingehalten worden seien. Nun sei man mit der Geduld am Ende, erklärten Wortführer der Ältesten, die aus ihrer Verachtung für die korrupte und gewalttätige Stadtverwaltung keinen Hehl machten, die Marjah vor der Ankunft der Taliban ausgeplündert hatte. Kriegsherrn, deren Hände rot vom Blut der drangsalierten Bevölkerung waren, hätten die Menschen zu Hunderten getötet und herrschten immer noch im Land. Man habe Kinder auf offener Straße verschleppt, vergewaltigt und ins Gefängnis geworfen. Die Amerikaner hätten Häuser verwüstet, Bewässerungsanlagen zerstört, Bauern festgenommen und Schulen für ihre Truppen requiriert. Wie solle man die Kinder unterrichten, wenn Schulen als Militärstützpunkte mißbraucht werden? So etwas sei unter den Taliban nie geschehen. (New York Times 08.03.10)

Da Marjah als Test dafür gilt, ob es nach Vertreibung der Taliban gelingt, eine effiziente und für die Bewohner akzeptable Stadtverwaltung einzusetzen, richtete sich der Blick zwangsläufig auf die Person des neuen Statthalters Hajji Abdul Zahir. Dieser soll Ende der neunziger Jahre wegen versuchten Totschlags an einem seiner Söhne in Deutschland im Gefängnis gesessen haben, was ihn nicht gerade als Symbol des Aufbruchs in eine Zeit des Friedens ausweisen würde. Er selbst wies die gegen ihn erhobenen Vorwürfe vehement zurück und berief sich darauf, daß er schließlich vom Gouverneur der Provinz Helmand, Gulab Mangal, höchstpersönlich für sein neues Amt ausgewählt worden sei. US-Verteidigungsminister Robert M. Gates, der dieser Tage unangekündigt nach Afghanistan gereist ist, zog sich auf die vage Erklärung zurück, er wisse nicht, was er von derartigen Berichten halten solle. Ein NATO-Sprecher in Kabul erklärte, man sei glücklich mit Zahir, weil sein Boß glücklich über ihn sei. Und der ranghöchste NATO-Offizier in der Hauptstadt, Mark Sedwill, wurde von einem Sprecher mit den Worten zitiert, dieses Land könne nicht von Chorknaben regiert werden.

Hamid Karzai warnte dennoch davor, die Amerikaner zu verteufeln, da Afghanistan ohne ihre Hilfe unter den Einfluß der Nachbarländer fallen würde. Man brauche die Unterstützung der Amerikaner, um das Land wiederaufzubauen, behauptete er. Sobald der Wiederaufbau in Gang komme, würden die ausländischen Truppen abziehen. Ob sie das wirklich versprochen hätten, wollte daraufhin ein Rufer aus der versammelten Menge wissen. "Sie würden sofort abziehen, aber wir halten sie zurück", brachte Karzai das Faß zum Überlaufen, wofür er höhnisches Gelächter erntete.

Daß Karzais Propagandaauftritt in Marjah als Debakel bezeichnet werden müsse, wollte US-Verteidigungsminister Gates nicht gelten lassen. Schließlich sei es doch zu begrüßen, wenn der Präsident, dessen Einfluß außerhalb der Hauptstadt so lange begrenzt gewesen sei, andere Landesteile bereisen und dort mit den Menschen sprechen könne. Wenn diese erstmals Gelegenheit hätten, einem Regierungsmitglied aus Kabul persönlich zu begegnen, könnten Beschwerden eben nicht ausbleiben. Schließlich hätten sie jahrelang unter der Knute der Taliban gelebt. Daß sich die Stadtältesten von Marjah nicht über die Taliban, sondern das Regime aus Kriegsherrn, Zentralregierung und Besatzungstruppen bitter beklagt haben, scheint Gates entgangen zu sein.

8. März 2010