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KRIEG/1417: Von nichts gewußt zu haben, bleibt das Mantra deutscher Kriegsbeteiligung (SB)



Da die Behauptung, man habe von nichts gewußt, in der Geschichte deutscher Kriegsführung reichlich kontaminiert ist, erfordert die sukzessive Transformation des moralischen Imperativs, von deutschem Boden dürfe nie wieder ein Krieg ausgehen, in das Postulat der gerechten und daher notwendigen Kriegsbeteiligung eines langen und ausgeklügelten Prozesses denkkontrollierender und handlungspervertierender Regulation. Das Geflecht aus expansionistischem Vormachtstreben bundesdeutscher Führungseliten und Bürgerbeteiligung unter dem Primat relativer Wohlstandssicherung ist einerseits so stabil, daß man die Antikriegsbewegung auf der Straße mit der Lupe suchen muß, und andererseits so fragil, daß ein Paukenschlag wie das Massaker von Kundus das mühsam errichtete Lügengebäude durchaus zum Einsturz zu bringen droht.

Das Manko des guten Krieges im Namen von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und anderen Vorwänden, zum Angriff zu blasen, ein Okkupationsregime zu installieren und die dort lebende Bevölkerung zu drangsalieren, bleibt offenbar die Doktrin eigener Rechtschaffenheit, der es schlecht zu Gesicht steht, Zivilisten abzuschlachten. Weit davon entfernt, die wahllose Dezimierung der Afghanen zum Zweck ihrer Unterwerfung dem Endsieg unterzuordnen, reagieren die Deutschen in ihrer Mehrheit mißmutig, wenn das Trugbild, an das sie so gerne glauben, vor ihren Augen allzu abrupt demontiert wird.

Von einer regelrechten Kriegsmüdigkeit zu sprechen, die sich in Zorn verwandelt und den Kriegstreibern das Handwerk legt, kann allerdings noch keine Rede sein. Verhandelt wird vorerst nur darüber, wer für die vorgeblichen Fehltritte verantwortlich war, damit man Sündenböcke aussondern und beruhigt dem anständigen Krieg gegen die "Taliban" und andere fiktiven Bedrohungsszenarien seinen Lauf lassen kann. Rüttelt die Arbeit des Untersuchungsausschusses wider Erwarten so heftig an den Fundamenten des Feldzugs, daß man eines Tages in den Geschichtsbüchern lesen wird, Kundus sei der Anfang vom Ende der deutschen Kriegsbeteiligung am Hindukusch gewesen? Eher ist zu befürchten, daß sich das hiesige Publikum von einer Berliner Seifenoper einwickeln läßt, deren Dramaturgie den grundsätzlich zu führenden Streit gegen die bellizistische Herrschaftssicherung vollständig ausblendet, indem sie die allein seligmachende Beantwortung der deutschen Frage inszeniert, wer wann wieviel gewußt hat.

Bedarf es tatsächlich eines mehr als acht Jahre währenden Besatzungsregimes mit seinen zahllosen Toten, Verstümmelten, Vertriebenen und Traumatisierten, bis man sich zu der Erkenntnis durchringt, daß die Bundeswehr Schritt für Schritt bis zur unterschiedslosen Integration in der Front der Okkupationsmächte mitmarschiert? Hat man den Formulierungskünsten der Militärs, Politiker und Juristen wirklich Glauben geschenkt, die uns sprachakrobatisch weiszumachen versuchten, die deutschen Soldaten unterstünden einer Friedens- und Aufbaumission?

Was der parlamentarische Untersuchungsausschuß mindestens leisten sollte, wäre eine rückhaltlose Aufdeckung aller Filter zwischen Art und Ausmaß der Kämpfe in Afghanistan und deren Wahrnehmung durch die bundesdeutsche Bevölkerung, damit sich letztere nicht mehr auf die Schutzbehauptung zurückziehen kann, sie sei jahrelang belogen worden. Dem widerspricht keineswegs, daß der gescheiterte Versuch, das Massaker von Kundus zu verschweigen, zu verschleiern und zuletzt zum Ausrutscher zu erklären, geradezu von Täuschungsmanövern strotzt. Angefangen von Spezialkräften, die im Stil von Todesschwadronen operieren und fast vollständiger Geheimhaltung unterliegen, über die Praxis der Militärs, Zivilisten tunlichst nicht einzuweihen, und ein Regime an der Spitze des Verteidigungsministeriums, welches das Parlament durch vorenthaltene Informationen ignoriert, bis hin zu mehr oder minder zahnlosen Ausschüssen, die aus institutionellen und rechtlichen Gründen nicht so sehr eine Kontrollfunktion ausüben, als vielmehr brisante Kontroversen durch Verschleppung entschärfen und im Sande verlaufen lassen, entfaltet sich ein Szenario ausgehebelter Volkssouveränität wie aus dem Lehrbuch.

Ein Volk von Zuschauern darf sich an der Debatte ergötzen, welche Köpfe im Gefolge des Massakers von Kundus rollen. Wird es am Ende sogar die Kanzlerin erwischen, die jüngsten Berichten zufolge bereits wenige Stunden nach der Bombardierung der beiden Tanklaster am 4. September 2009, bei der nach offiziellen Angaben 142 Menschen starben oder verletzt wurden, Hinweise des BND auf zahlreiche getötete Zivilisten erhalten haben soll? Endet der Höhenflug Karl-Theodor zu Guttenbergs, der sich auf fehlende Informationen berief, was inzwischen als so gut wie widerlegt gelten muß? Merkel hat den ehemaligen Verteidigungs- und kurzzeitigen Wirtschaftsminister Franz Josef Jung geopfert, Guttenberg den Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und den Staatssekretär Peter Wichert, was nach Lage der Dinge eher dafür spricht, daß die Regierungschefin und ihr Shootingstar über genügend Einfluß verfügen, um andere über die Klinge springen zu lassen und nicht selbst zu Fall zu kommen.

Nach wie vor ist nicht grundsätzlich auszuschließen, daß Bundeswehr und Bundesregierung von ihrem transatlantischen Seniorpartner über den Tisch gezogen wurden. Die "Washington Post" hatte einen Journalisten im Team, mit dem ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal am Morgen nach dem Bombardement zum Ortstermin nach Kundus geflogen war, und berichtete prompt von möglichen zivilen Opfern. Schenkt man Jungs Aussage vor dem Untersuchungsausschuß Glauben, hat die Kanzlerin am 6. September von dem Zeitungsartikel erfahren und ihm daraufhin mitgeteilt, daß man die Frage ziviler Opfer nicht mehr ausschließen könne. Haben die Amerikaner insofern nachgeholfen, als sie das Massaker unter deutscher Regie sofort kommunizierten, um den zögerlichen Verbündeten mit Haut und Haar in diesen Krieg zu ziehen?

Vom Repräsentanten der Linkspartei abgesehen ist der Untersuchungsausschuß mit Vertretern von Parteien besetzt, die allesamt den Afghanistankrieg gutheißen. Ihnen geht es folglich darum, entlang der aktuellen Frontlinie zwischen Regierungslager und Opposition zu decken oder zu bezichtigen, um dem parteipolitischen Kalkül der Beteiligung an der Macht und deren Kriegen Bahn zu brechen. Daß dabei Krokodilstränen, Scheinheiligkeit und Selbstdarstellung dem Streben nach rückhaltloser Aufklärung den Rang ablaufen, liegt auf der Hand. Abzuwarten, woran sich dieses Gremium die Zähne ausbeißt, wäre daher der schlechteste Weg, aus dem Massaker von Kundus Konsequenzen zu ziehen, denn daß man von nichts weiß, kann hierzulande inzwischen wohl niemand mehr behaupten.

26. März 2010