Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

KRIEG/1463: Morden in Mexiko - Sicherheit der US-Eliten hat ihren Preis (SB)



Als Demarkationslinie zwischen Reichtum und Armut nimmt die Südgrenze der Vereinigten Staaten zunehmend den Charakter einer scharfen Zäsur zur Abschottung gegen die eskalierenden Sozialkämpfe an, die Mexiko in einen Hexenkessel verwandeln. Während die nordmexikanische Grenzregion einem Schlachtfeld gleicht, hebt man auf der anderen Seite des Rio Grande stolz hervor, daß etliche grenznahe Städte der USA zu den sichersten des Landes zählten. Dieser augenfällige Kontrast resultiert jedoch nicht aus einem Gefälle der Kompetenz und Fähigkeit, das eigene Haus sauber zu halten, er ist im Gegenteil unmittelbares Resultat der Metropolenstrategie, Konfliktfolgen der Ausbeutung und Verelendung auszulagern. Das Nachbarland Mexiko wird zu diesem Zweck als Bollwerk gegen die anbrandende Hungermigration rekrutiert, die sich dort aufstaut und mit der einheimischen Armut zu einer explosiven Gemengelage verschränkt. Die entfesselte Grausamkeit der Drogenkriege ist das Produkt anderweitig verhinderter oder vernichteter Möglichkeiten der Überlebenssicherung, da sie einer durch äußere Rahmenbedingungen erzwungenen Notökonomie entspringt.

Vergleichbar mit der Vorgehensweise der europäischen Länder, die ihren Krieg gegen die Migranten nach Nordafrika auszulagern versuchen, verpflichtet das zwischen den USA und Mexiko geschlossene Sicherheitsabkommen der Merida-Initiative die mexikanische Regierung zu einem Bündel repressiver Maßnahmen, wofür sie von Washington finanziell unterstützt und aufgerüstet wird. Zum forcierten Kampf gegen die Drogenökonomie und den Menschenhandel gesellt sich die Eindämmung der Migration, wobei diese ohnehin miteinander verwobenen Zielfelder staatlicher Sicherheitspolitik ihren gemeinsamen Ursprung in der Illegalisierung haben. Wie das internationale Drogengeschäft untrennbar mit der Prohibition seiner Handelsware verbunden ist, wäre lukrativer Menschenhandel ohne die Abschottungspolitik und Kriminalisierung nicht denkbar. Zwischen der Brutalität der Einwanderungsbehörden, der Kollaboration der Sicherheitskräfte mit der organisierten Kriminalität und dem entufernden Bandenwesen bestehen daher nur graduelle Unterschiede, da sie allesamt ihre Existenzweise der forcierten Durchsetzung eines ausbeutungsgestützten Verwertungssystems verdanken.

Die Führungseliten der USA behaupten ihre Position an der Spitze der weltweiten Raubordnung mit der Doktrin nationaler Sicherheit, die gegen jede reale oder potentielle Gefährdung der eigenen Überlebenssicherung auf dem höchstmöglichen Niveau in Stellung gebracht wird. Damit nehmen sie für sich in Anspruch, die Friedensordnung regulierter Ausplünderung jederzeit um die bellizistische Durchsetzung der Verfügung über die schwindenden Ressourcen zu ergänzen. Das Kalkül des konservativen Präsidenten Felipe Calderón, das Heil der mexikanischen Oberschicht an der Seite der übermächtigen US-Administration zu suchen, leistet einer gemeinsamen Sicherheitspolitik Vorschub, die sein Land in eine Kriegszone verwandelt. Seit Amtsantritt Calderóns im Dezember 2006 sind mehr als 28.000 Menschen den Kämpfen zwischen den Kartellen und deren Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften zum Opfer gefallen. In diesem bürgerkriegsartigen Konflikt triumphiert bislang die Strategie, Restbestände an Humanität zu entsorgen, um unter Demonstration ungezügelter Brutalität Machtansprüche geltend zu machen. Je mehr Soldaten die Regierung in diese Schlacht schickt, um so grausamere Zeichen setzen die Kartelle, wobei keine Grenze mehr zu existieren scheint, die zu überschreiten für unmöglich erachtet würde.

Als am 25. August auf einer Ranch im nordmexikanischen Bundesstaat Tamaulipas 72 Migranten aus Mittel- und Südamerika abgeschlachtet wurden, unterstrich dieses Blutbad von San Fernando, daß sich die Drogenkartelle auch auf den Menschenhandel verlegen, der nicht minder lukrativ wie der Rauschgiftschmuggel und vielfach mit wesentlich geringeren Risiken verbunden ist. Da jährlich schätzungsweise 140.000 Migranten nichtmexikanischer Herkunft die Grenze zu den USA erreichen, brauchen sich die Banden um den Nachschub nicht zu sorgen. Nach Angaben mexikanischer Nichtregierungsorganisationen haben allein die Zetas, die man für das Massaker verantwortlich macht, in den letzten vier Jahren rund 18.000 Einwanderer entführt und geschätzte 50 Millionen Dollar Lösegeld von Verwandten in den USA erpreßt. Zugleich belegen Tausende Interviews mit Migranten, daß deren Bedrohung in Mexiko gleichermaßen von den Sicherheitskräften ausgeht. Sogenannte illegale Einwanderer genießen keinerlei behördlichen Schutz, so daß Polizisten freie Hand haben, sie zu verprügeln, zu erniedrigen, auszurauben und unter Androhung von Haft oder Ermordung Gelder von ihnen zu erpressen. Dies führt zwangsläufig dazu, daß die Polizei als denkbar größte Gefahr gemieden wird, was wiederum Kartellen und anderen Banden in die Hände spielt, zumal diese ohnehin häufig mit Teilen der Sicherheitskräfte zusammenarbeiten.

Gestern haben Feuergefechte zwischen Soldaten und Kämpfern von Drogenkartellen die Einwohner zweier nordmexikanischer Städte in Angst und Schrecken versetzt. Wie Augenzeugen berichteten, trieben Gangster in Nuevo Laredo mit vorgehaltener Waffe Fahrer aus ihren Wagen, um mit den Fahrzeugen die Straßen zu blockieren. In der Stadt Reynosa kam es zu einer Schießerei, die zu einem riesigen Stau auf der Autobahn von Matamoros nach Monterrey führte. Die Behörden forderten die Bewohner über den Kurznachrichtendienst Twitter und auf Facebook dazu auf, ihre Häuser nicht zu verlassen. Das US-Konsulat in Nuevo Laredo warnte davor, auf die Straße zu gehen, Eltern holten ihre Kinder aus der Schule, Fabriken empfahlen ihren Arbeitern, im Gebäude zu bleiben. In Matamoros warfen Unbekannte eine Handgranate auf das Gelände einer Kaserne. Bei diesem Zwischenfall wurden vier Menschen leicht verletzt. Erst Stunden später gab die Stadtverwaltung von Nuevo Laredo dann Entwarnung und erklärte die akute Gefahr für beendet. Während die Autos von der Straße geräumt wurden, zeugten Einschußlöcher in Häusern und Fahrzeugen sowie zahllose verstreute Patronenhülsen vom Ausmaß der Kämpfe. (www.spiegel.de 21.10.10)

Leichenfunde in alten Bergwerksschächten, auf Mülldeponien oder direkt neben Straßen, an Brücken aufgehängte Rivalen, in Menschenmengen geworfene Handgranaten, abgeschlagene Köpfe und Folterspuren, Massaker und stundenlange Schießereien in Städten - der Eskalation der Grausamkeiten scheint kein Ende gesetzt zu sein. Man fühlt sich an die Tage Pablo Escobars erinnert, der einst dem kolumbianischen Staat den Krieg erklärt hat, oder an die blutigen Kämpfe auf dem Balkan, im Irak und in Afghanistan. Zweifellos wird auch in Mexiko eine Entwicklung in Gang gesetzt, die in Greueltaten mündet, zu denen jeder Mensch fähig ist, sofern man ihn nur in die Enge treibt. Daher empfiehlt es sich um so mehr, bei der Frage nach den Urhebern und Nutznießern dieses Prozesses nicht zu kurz zu greifen.

21. Oktober 2010