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KRIEG/1539: NATO brüskiert Rußland und greift weiter nach seinen Atomraketen (SB)



Vordringliches Ziel des transatlantischen Militärpakts NATO ist die Ausschaltung der Atomraketen Rußlands. Sie stehen der Durchsetzung des globalen Führungsanspruchs der USA und ihres Juniorpartners EU im Wege. Solange sie Rußland nicht entwunden sind, muß sein Souveränitätsanspruch zumindest bedingt respektiert werden. Sollte das Land jemals in die Lage geraten, seine ultimativen Gewaltmittel zu verlieren, wäre es vermutlich nachhaltigen Destabilisierungsversuchen ausgesetzt, gegenüber denen sich der NATO-Beistand für Georgien im Konflikt mit Rußland im Jahr 2008 noch harmlos ausnähme.

Der Zerfall der Sowjetunion 1991 hat den Westen schon ein Stück näher an sein Ziel der atomaren Entwaffnung seines Blockgegners gebracht. Gleiches gilt für die Jelzin-Politik des neoliberalen Umbaus. Der Trend zur Auflösung des Landes wurde ab dem Jahr 2000 von Präsident Wladimir Putin gestoppt, seitdem ist Rußland wieder aus der völligen Defensive herausgekommen. Mit dem NATO-Rußland-Rat (NRR), der seit Mai 2002 besteht und offensichtlich eine Reaktion des Westens auf das Wiedererstarken Rußlands ist, wird parallel zu den fortlaufenden Zermürbungsbemühungen eine andere Politik der atomaren Entmachtung Rußlands betrieben als die des Kalten Kriegs. "Partnerschaft" lautet der Name des Honigtopfs, mit dem die westlichen Militärs den russischen Bären in die Falle des süßen Versprechens auf dauerhaften Frieden locken wollen.

Nicht zuletzt wegen der relativen Schwäche der russischen Verteidigung sah sich der Kreml genötigt, der hohlen Zusage für Partnerschaft zu folgen. Außerdem wollte man eine weitere Runde kräftezehrenden Wettrüstens wie zur Zeit des Kalten Kriegs vermeiden. Schließlich dürfte sich die russische Regierung auch etwas davon versprochen haben, mit der NATO zu sprechen, und wenn es nur wäre, um die Stimmung besser ausloten zu können.

Die jüngste Sitzung des NRR vom Donnerstag zeigt indes den offenen Widerspruch, der sich aus dem Machtanspruch der NATO und dem Sicherheitsbedürfnis Rußlands ergibt. Seit den neunziger Jahren hat die NATO einen ehemaligen Ostblockstaat nach dem anderen aufgenommen und ihre militärischen Aktivitäten bis an die russische Grenze herangebracht. Die Geostrategen im Kreml wissen selbstverständlich um die Absichten ihrer Kollegen in Washington, Brüssel und den anderen westlichen Metropolen und opponieren auf schärfste gegen den geplanten Aufbau des USA/NATO-Raketenabwehrschirms entlang der Außengrenzen der Russischen Republik. Mit diesen Raketenstellungen, die angeblich nur gegen ballistische Raketen aus Schwellenländern, nicht aber gegen die strategischen Langstreckenraketen aus Rußland gerichtet sein sollen, könnte die russische Zweitschlagskapazität ausgeschaltet werden.

Am 23. November gab der russische Präsident Dimitri Medwedew eine scharfe Erklärung zum geplanten Raketenabwehrschirm der USA/NATO ab und kündigte den Aufbau eigener militärischer Maßnahmen, beispielsweise die Stationierung eines Raketensystems vom Typ Iskander im Gebiet Kaliningrad, an. Auch ein Ausstieg aus dem START-Vertrag wurde von ihm nicht ausgeschlossen. Dieser Ankündigung, die nicht als Wahlkampfgetöse zu deuten ist, waren lange, vergebliche Verhandlungen um eine partnerschaftliche Einigung mit der NATO vorausgegangen. Die USA lehnen es nach wie vor ab, eine juristische Garantie dafür abzugeben, daß das Raketenabwehrsystem nicht gegen das strategische Potential Rußlands ausgerichtet ist.

Das Anhäufen von Atomwaffen bis zu mehrfachen Overkillkapazitäten war von den Militärs stets als Friedensgarantie verkauft worden, da keine Seite losschlagen konnte, ohne sich dadurch nicht selbst auszulöschen. Ein beträchtlicher Teil der Atomwaffenarsenale beider Seiten wurde inzwischen wieder abgebaut, ohne daß dadurch das gegenseitige Vernichtungspotential ernsthaft beeinträchtigt wäre. Mit dem Aufbau eines eigenen Raketenabwehrschirms hingegen könnte der Westen eine deutliche militärische Überlegenheit gewinnen und einen Nuklearangriff gegen Rußland in Erwägung ziehen, der nicht automatisch zur vollständigen eigenen Vernichtung führen würde. Das Gleichgewicht des Schreckens wäre empfindlich gestört.

Die nachvollziehbaren Bedenken Rußlands sind nicht mit fadenscheinigen Erklärungen westlicher Politiker und Militärs aus der Welt zu räumen, die beteuern, daß die Raketenabwehrstellungen rund um das russische Territorium nicht gegen Rußland gerichtet sind. Eigentlich sollte der NATO-Rußland-Rat eine Einrichtung sein, in der solche Interessensunterschiede ausgeräumt werden. In der Pariser Grundakte des NRR aus dem Jahr 1997 heißt es:

"Hauptaufgabe dieses Ständigen Gemeinsamen Rates wird es sein, immer mehr Vertrauen zu bilden, einheitliche Ziele zu formulieren und die Praxis ständiger Konsultation und Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland zu entwickeln, um die Sicherheit der jeweils anderen Seite und die aller Staaten im euro-atlantischen Raum zu verbessern, ohne die Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten werden die NATO und Russland sich bemühen, diese auf der Grundlage des Prinzips des guten Willens und des gegenseitigen Respekts im Rahmen politischer Konsultationen beizulegen." [1]

Von gegenseitigem Respekt ist jedoch nichts zu spüren. Die Stimmung zwischen Rußland und der NATO auf der gemeinsamen Ratssitzung wird als ausgesprochen giftig beschrieben. Wenn NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen wie ein Mantra wiederholt, daß der Raketenabwehrschirm nicht gegen Rußland gerichtet sei (gleichzeitig aber Rußland ein Mitspracherecht über den Einsatz der Abwehrraketen verweigert wird), und er Raketen aus Ländern wie Libyen als potentielle Gefahr für die NATO anführt, dann verletzt er damit die Intelligenz der russischen Politiker und Militärs.

Das waren in etwa die Worte des russischen Außenministers Sergej Lawrow am Donnerstag beim Treffen mit seinen Amtskollegen aus den NATO-Staaten in Brüssel. Geradezu als Beleidigung muß die Erklärung Rasmussens angekommen sein, Rußland solle doch jetzt nicht anfangen, eigene Raketen aufzustellen: "Es wäre definitiv Geldverschwendung, wenn Russland begänne, in Gegenmaßnahmen gegen einen künstlichen und nicht existierenden Feind zu investieren. (...) Dieses Geld könnte nutzbringender zum Wohle des russischen Volkes für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Modernisierung der russischen Gesellschaft ausgegeben werden." [2]

Mit diesem Belehrungsversuch hat Rasmussen die Pariser Grundakte verletzt, in der es heißt: "Die Konsultationen erstrecken sich nicht auf innere Angelegenheiten der NATO, der NATO-Mitgliedstaaten oder Russlands."

Spräche man Rasmussen auf diesen Passus an, würde er vermutlich erwidern, daß er es nur gut gemeint und einen Rat unter Freunden erteilt habe; seine Aussage könne man nun wirklich nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Rußlands mißverstehen.

Wenn man sich vorstellt, daß die Gespräche im NATO-Rußland-Rat ähnlich ablaufen und den ernsthaften russischen Bedenken hinsichtlich des Plans der NATO, einen eigenen Raketenabwehrschirm aufzuspannen, stoisch entgegengehalten wird, daß sie die Absicht der NATO völlig falsch verstünden, dann kann Rußland aus strategischen Gründen gar nicht anders, als ebenfalls die Sprache der Militärs zu sprechen und an geeignet erscheinender Stelle aufzurüsten. Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß die NATO, wenn sie den Druck auf die russische Regierung weiter erhöht, das Gespann Putin-Medwedew von der Partei Einiges Rußland schwächt und um vieles konfrontativere, nationalistische Kräfte das Ruder übernehmen. Vielleicht will die NATO genau das. Dann könnte sie mit kreideweicher Stimme und Unschuldsmiene erklären, daß sie alles versucht habe, die Spannungen abzubauen, aber "die Russen" hätten das nicht gewollt.

So könnte sich die NATO beispielsweise mit Hilfe des russischen Nationalismus einen Vorwand konstruieren, um die eigene Sicherheitsarchitektur (die wie bei der vergangenen Umzingelung Rußlands selbstverständlich rein defensiv ausgerichtet wäre ...) weiter auszubauen. Gleichzeitig hätte man sich eine vermeintliche Legitimationsgrundlage verschafft, Absetzbewegungen in den peripheren russischen Regionen, die sich dann von den Nationalisten im Kreml unterdrückt fühlen, tatkräftig zu unterstützen - irgendeine Blume als Symbol auf dem Banner oder am Revers dürfte sich für solche Aktionen leicht finden lassen.

Beim Konflikt zwischen USA (NATO) auf der einen und Rußland auf der anderen Seite treten zwei Staaten gegeneinander an, die in der Zeit des Kalten Krieg bereits sehr heiße Kriege geführt haben, wobei an ihrer statt die Bevölkerungen anderer Länder den Blutzoll entrichten mußten. Die USA und Rußland sind auch Dauerweltmeister in Sachen Rüstungsexporte, was bedeutet, daß sie Bedrohungen aufbauen, gegen die sie sich dann wieder vermeintlich verteidigen müssen. Im Streit um den Raketenabwehrschirm ist Rußland in eine Rolle geraten, die es selbst - siehe Tschetschenienkriege - anderen aufgedrückt hat. Die russischen Strategen können noch so schlagkräftige Argumente gegen den Raketenabwehrschirm vorbringen, es nutzt nichts, denn die NATO will auf irgendeine Weise die Atomwaffen ausschalten, um anschließend freie Hand zu haben, die eigenen globalhegemonialen Intentionen zu verfolgen.



Anmerkungen:

[1] http://www.nato.diplo.de/contentblob/1940894/Daten/189459/1997_05_Paris_DownlDat.pdf

[2] http://www.zeit.de/news/2011-12/07/nato-nato-raketenabwehr-moskau-reagiert-mit-stationierung-07195601

8. Dezember 2011