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KRIEG/1547: Verrechtlichung des Krieges zementiert die Ohnmacht der Betroffenen (SB)



Barack Obama hat seine Wahl zum US-Präsidenten nicht zuletzt der Kritik an der Kriegführung seines Vorgängers George W. Bush im Irak zu verdanken. Daß Obama den Abzug der US-Truppen aus dem Land mit der Behauptung feierte, man lasse "einen souveränen, stabilen und selbstständigen Irak zurück, mit einer repräsentativen Regierung, die vom Volk gewählt wurde", daß er die völkerrechtswidrige Eroberung des Irak also in der Summe als positive Errungenschaft bewertete, könnte nicht besser dokumentieren, wie sehr dieser US-Präsident in den Stiefeln seines Vorgängers marschiert. Neun Jahre nach diesem Angriffskrieg ist das Land alles andere als befriedet, seine Bevölkerung lebt zum großen Teil in dauerhaftem Elend, und es wird von einer autokratischen Regierung beherrscht, deren Machenschaften belegen, daß der kriegerisch artikulierte Anspruch auf Freiheit und Demokratie das Gegenteil dieser Werte hervorbringt.

Es paßt in das von Obama entworfene Bild einer von den Invasionstruppen erbrachten zivilisatorischen Leistung, daß nicht einmal ein so offensichtliches Kriegsverbrechen wie das Massaker von Haditha strafrechtliche Konsequenzen für die Täter zeitigt. Nachdem die Anklagen gegen sechs US-Marines fallengelassen wurden und einer der Tatverdächtigen freigesprochen wurde, wird dieser Tage vor einem US-Militärgericht gegen den achten Angeklagten, den befehlshabenden Frank Wuterich, verhandelt. 24 Iraker, darunter zehn Frauen und Kinder, mußten sterben, weil dieser seinen Marineinfanteristen freie Hand bei einer offensichtlichen Racheaktion gab. Bei einem Anschlag mit einer Sprengfalle auf ihren Konvoi waren ein Soldat getötet und mehrere verwundet worden. Ein Taxifahrer und vier Jugendliche wurden unmittelbar darauf auf Befehl Wuterichs auf der Straße erschossen. Als aus dem Umfeld auf die Marines geschossen wurde, drangen sie in drei naheliegende Häuser ein, indem sie zuerst Handgranaten hineinwarfen und daraufhin alle Bewohner, die sie erblickten, unter massivem Waffeneinsatz erschossen.

Was anfangs von der US-Militärführung als Selbstverteidigung dargestellt wurde, erwies sich schon bald als Akt willkürlicher Gewalt. Das Massaker von Haditha wurde zu einem der bekanntesten Kriegsverbrechen eines Krieges, in dem jeden Tag Dutzende irakischer Zivilsten ums Leben kamen, ohne daß dies größere internationale Aufmerksamkeit hervorrief. Selbst der US-amerikanische Angriff im November 2004 auf die Stadt Fallujah, die zum größten Teil dem Erdboden gleichgemacht wurde, bei dem geschätzte 6000 Einwohner starben und deren Kinder wegen der eingesetzten Uran-Munition noch heute in weit überdurchschnittlichem Maße an Leukämie erkranken, erreichte nicht den Bekanntheitsgrad dieses Ereignisses. Um so mehr scheint der Militärgerichtsbarkeit der US-Streitkräfte daran gelegen zu sein, ihre Soldaten von dem Vorwurf zu befreien, unangemessene Gewalt angewendet zu haben.

Dies fällt um so leichter, als die Frage danach, welches Ausmaß an Gewalt im Krieg vertretbar wäre, insbesondere im Fall ausgemachter Angriffstruppen stets zu Lasten der von ihnen heimgesuchten Bevölkerungen ausgelegt wird. So geht die Verteidigung Wuterichs davon aus, daß die Soldaten in Haditha lediglich die Rules of Engagement befolgt hätten, die für sie gelten. Diese Einsatzregeln werden unter anderem dahingehend ausgelegt, daß ein Soldat im Kampf niemals eine zweite Chance hat, wenn er sich in der Einschätzung der Situation irrt, was in der Praxis auf den von Wuterich gegebenen Befehl, erst zu schießen und dann zu fragen, hinausläuft. Das wiederum ist keine Ausnahme bei einer Soldateska, die ein fremdes Terrain einnehmen soll, sondern eine Regel, die die Vorstellung rechtskonform geführter Kriege ad absurdum führt.

So ist die betont aggressive Ausrichtung der US-Marineinfanterie seit langem bekannt. Als eigens für den Einmarsch in andere Länder vorgesehene Sturmtruppen sind sie speziell darauf gedrillt, bestimmte strategische Ziele zu erreichen, ohne sich dabei von der Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Gewalteinsatzes allzu sehr beirren zu lassen. Das belegt auch ein Bericht des Fotografen Laurent Van der Stockt, der 2003 drei Wochen lang mit einem Voraustrupp von Marines von Kuwait aus unterwegs war, bis sie am 9. April Bagdad erreichten. Es war die Einheit, die das berühmte Ereignis inszenierte, bei der die Statue Saddam Hussein unter dem Beifall einer ausgesuchten Schar geladener Iraker und Journalisten fiel.

Der erfahrene Kriegsberichterstatter, der in weit mehr Kriegen war als die Soldaten, die er begleitete, gab in der Zeitung Le Monde an, von der irakischen Armee so gut wie nichts zu Gesicht bekommen zu haben. In den drei Wochen habe er lediglich das Abfeuern einiger Kurzstreckenraketen und einiger Schüsse seitens des Gegners erlebt, so daß ihm das gesamte Szenario äußerst gespenstisch vorgekommen sei. Dem massiven Aufgebot an schwerbewaffneten Soldaten und Fahrzeugen der Invasoren habe sich praktisch niemand in den Weg gestellt, so daß man kaum glauben konnte, sich im Krieg zu befinden, so der Eindruck des Fotografen.

Mangels echter Gegner richtete sich die Zerstörungskraft der Angreifer Van der Stockt zufolge fast ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung. So berichtete er von einem Ereignis am 6. April in den Außenbezirken Bagdads, bei dem die Marines einen Lieferwagen zusammenschossen, der bereits gewendet hatte und sich von ihren Stellungen entfernte. Die zwei Männer und eine Frau im Innern des Wagens seien anschließend praktisch durchsiebt gewesen. Doch damit nicht genug, kurz darauf kam ein zweites Auto in Sichtweite, dessen Insassen ebenfalls unter massivem Beschuß starben. Schließlich näherte sich ein alter, an einem Stock gehender Mann den Stellungen der Marines, und auch er wurde erschossen. Bald darauf feuerten die Soldaten auf einen Geländewagen, der in die Reichweite ihrer Waffen geriet. Das Fahrzeug überschlug sich, und die noch lebenden Insassen, zwei Frauen und ein Kind, suchten in seinen Trümmern Deckung. Der Beschuß ging weiter, und kurz darauf ging der Wagen in Flammen auf, in denen die Überlebenden umkamen.

Der Fotograf führt den unterschiedslosen Beschuß aller Menschen und Fahrzeuge, die in die Nähe der Marines kamen, darauf zurück, daß sie darauf trainiert seien, jedes wie auch immer geartete Ziel unter entschiedenem Einsatz der Feuerkraft ihrer Waffen zu zerstören. Diese Übermacht, die durch Panzerartillerie und Kampfhubschrauber ergänzt wird, verleiht den Marines ein Maximum an Unangreifbarkeit, das die Totalität der anzuwendenden Gewalt voraussetzt. Dem liegt eine Vernichtungslogik zugrunde, laut der der Feind unterschiedslos, also in Gesamtheit von Bevölkerung und Militär, die Kosten für den geleisteten Widerstand zu tragen hat.

Das Massaker von Haditha erinnert nicht von ungefähr an eine Partisanenbekämpfung, deren Vergeltungslogik, für jeden eigenen gefallenen Soldaten hundert Zivilisten umzubringen, schlicht dem Kalkül einer Grausamkeit folgt, die die Zivilbevölkerung davon abhalten soll, den aus ihren Reihen rekrutierten Widerstand zu unterstützen. Dieses militärstrategisch rationale und daher immer wieder manifest werdende Kalkül zu begrenzen ist Aufgabe eines internationalen Rechts, dessen Unabhängigkeit so wenig gegeben ist, daß es Gefahr läuft, das Gegenteil dessen zu bewirken. Wie auch immer das Ergebnis des letzten Militärgerichtsverfahrens im Fall Haditha aussehen wird, es frönt einem Legalismus, der die Ohnmacht, die durch die Verrechtlichung des Krieges aufgehoben werden soll, mit dem Nimbus einer Zivilisierung besiegelt, die als Gegenentwurf zur Barbarei unerfüllt bleibt.

Exemplarisch abgehandelte Fälle von Kriegsverbrechen legitimieren das primäre Verbrechen, mit kriegerischer Gewalt politische Interessen durchzusetzen. Der Irak wurde unter Bruch des zur internationalen Friedenssicherung vorgesehenen völkerrechtlichen Procederes mit dem Ergebnis überfallen, daß die Vereinten Nationen die Besetzung des Landes durch die Eroberer legalisierten. Nun, da sich neue Kriege am Horizont abzeichnen, geht die Saat dieser opportunistischen Rechtspraxis auf ein Neues zu Lasten der davon voraussichtlich betroffenen Gesellschaften und Staaten. Eine Verrechtlichung des Krieges, die vom konstitutiven Gewaltverhältnis der beteiligten Akteure abstrahiert, läuft stets Gefahr, zugunsten der Stärkeren instrumentalisiert zu werden. Nimmt man dieses Gewaltverhältnis in seiner präjudizierenden Wirkung ernst, dann allerdings kann die Antwort nur lauten, aggressive militärische Gewaltanwendung von vornherein mit allen Mitteln zu verhindern.

Was die Bevölkerung des Irak in den letzten 20 Jahren an kriegerischer Zerstörung und sozialer Verelendung erlitten hat, kann durch die Despotie eines Saddam Hussein längst nicht mehr aufgewogen werden. Es wäre Sache der irakischen Bevölkerung gewesen, ihn aus eigenem Antrieb heraus zu stürzen, doch diese Möglichkeit wurde schon in den 1980er Jahren durch den von westlichen Hegemonialinteressen auf Seiten des Irak maßgeblich beeinflußten Krieg mit dem Iran hintertrieben. Spätestens heute, da sich andere arabische Bevölkerungen ihrer Diktatoren entledigen, hätte die Chance bestanden, im Irak eine ähnliche Bewegung in Gang zu setzen. Doch selbst die unter den Bedingungen der angeblich neugewonnenen Freiheit erfolgten Proteste irakischer Bürger gegen die amtierende Bagdader Regierung wurden vor einem Jahr blutig niedergeschlagen, und zwar unter Duldung der US-amerikanischen Regierung. Letzter Anstoß zum Abzug ihrer Besatzungstruppen war die Weigerung Bagdads, den US-Soldaten Immunität gegenüber den irakischen Strafverfolgungsbehörden zuzubilligen. Warum dies von so großer Bedeutung für die US-Regierung ist, dokumentieren die Scharaden, in denen - wie im Falle Libyens - die Mißachtung US-amerikanischer Hegemonialansprüche mit dem Ruf nach internationaler Strafverfolgung quittiert wird, während jegliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs im eigenen Fall verworfen wird.

10. Januar 2012