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KRIEG/1618: Interventionismus der NATO bricht Völkerrecht (SB)




Wenngleich man hierzulande längst ungeniert vorhalten darf, daß die Bundeswehr den ungehinderten Nachschub benötigter Rohstoffe wie auch die Handelswege im Interesse der deutschen Ökonomie in aller Welt zu sichern habe, nimmt man kontaminierte Begriffe wie "Angriffskrieg" höchst ungern in den Mund. Der ist nach Artikel 26 des Grundgesetzes verboten und muß deshalb umdeklariert werden, damit man ihn de facto führen kann, indem man ihn de jure legitimiert. Wie das gehen soll, führt Professor Dr. Matthias Herdegen, Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn, in einem Beitrag der FAZ [1] vor. Von überlegener Waffengewalt als Grundvoraussetzung jeder Intervention oder hegemonialem Expansionsstreben der NATO spricht er tunlichst nicht, entlarvte dies doch den von ihm befürworteten Bruch des völkerrechtlichen Gewaltverbots als geostrategische Aggression.

Daß der Schutz der territorialen Souveränität nach der UN-Charta (Artikel 2 Nr. 4) absolut ist, solange der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht zu einem militärischen Eingreifen ermächtigt, will er nicht gelten lassen. Ein Veto Rußlands oder der Volksrepublik China steht dem von den westlichem Mächten angestrebten Regimewechsel in Syrien im Wege, was Herdegen nicht etwa auf eine grundsätzliche Widerspruchslage zwischen den beiden zunehmend eingekreisten Staaten einerseits und der vorrückenden NATO andererseits zurückführt, sondern als notorische Blockadehaltung Moskaus und Beijings diskreditiert. Er konstatiert neuere Entwicklungen, die dafür gesorgt hätten, daß sich im Völkerrecht andere Grundsätze Bahn brechen, die "den Schutz einer geschundenen Bevölkerung" nicht mehr allein dem Sicherheitsrat überlassen. Diese Grundsätze stünden "hinter der völkerrechtlichen Diskussion um die humanitäre Intervention als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund für militärische Einsätze außerhalb eines Sicherheitsratsmandats".

Mit seiner Aussage, daß es sich bei der sogenannten humanitären Intervention um einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund handle, räumt Herdegen ein, daß mit geltendem Völkerrecht schlittengefahren werden soll. Um sein Vorhaben gängig zu machen, stellt er den Schutz elementarer Menschenrechte vor systematischer Verfolgung als mindestens gleichrangigen Grundsatz neben das Gewaltverbot, wobei er wohlweislich ausspart, wer über die Deutungsmacht verfügt zu bestimmen, wann und wo Menschenrechte gebrochen werden und deswegen eine militärische Intervention geboten sei.

Als Paradebeispiel führt er den Jugoslawienkrieg an, den rund 20 NATO-Staaten, darunter auch die Deutschland, geführt haben. Die damalige rot-grüne Bundesregierung nutzte diese Gelegenheit, unter Mißachtung des Grundgesetzes endlich wieder einen Angriffskrieg zu führen, wobei Herdegen behauptet, daß diesen inzwischen kaum noch jemand ernsthaft als solchen bezeichnen würde. Er will das zwar nicht als eine beliebige Rechtfertigung einseitiger Gewaltmaßnahmen verstanden wissen und hebt die vorrangige Zuständigkeit des Sicherheitsrats als Garant der internationalen Sicherheit hervor, spricht jedoch schon im nächsten Schritt von einem Versagen des Sicherheitsrats im Falle Syriens, welches eine humanitäre Intervention rechtfertige. Diese berühre sich mit dem modernen Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect), was auch die rechtmäßige Versorgung der Aufständischen mit Waffen einschließe.

Wie der Völkerrechtler vorhält, gehe es bei einer humanitären Intervention weder um einen Regimewechsel, noch um Vergeltung oder Bestrafung, sondern ausschließlich um Schutz. Dies dürfe eine "unbedachte Sanktionsrhetorik" nicht verdunkeln. "Chirurgische" Militärschläge müßten wirklich dem Schutz der Verfolgten dienen, "und sei es auch durch Abschreckung". Wer sich indessen die zurückliegenden und noch anhaltenden Kriege der NATO wie auch deren verheerende Langzeitfolgen vor Augen führt, kann unschwer erkennen, daß es sich beim Konzept sogenannter chirurgischer Schläge ausschließlich um ein Legitimationskonstrukt handelt, während sich eben die von Herdegen ausgeschlossenen Gründe unübersehbar als die eigentlichen Kriegsziele abzeichnen.

Der Bonner Völkerrechtler beklagt einen starken "Chor derjenigen Rechtslehrer (...), die das Gewaltverbot als den alleintragenden Schlussstein in der Architektur der Völkerrechtsordnung sehen. Hier wirkt - einseitig, aber durchaus verständlich - die Last der Geschichte in souveränitätsschonender Zurückhaltung gegenüber militärischen Optionen nach: Die äußere Befriedetheit der Staatenwelt steht dabei über dem inneren Frieden." Diese Haltung entspringe dem wissenschaftlichen und politischen Biotop einer gewissen Behütetheit, die hinter der geschärften Eigenverantwortlichkeit in Washington, London oder Paris zurückbleibe. Doch auch im übrigen Europa gehe "die behagliche Behaustheit in einfachen Gewißheiten ihrem Ende zu".

Dieses als Wandel völkerrechtlicher Grundsätze verbrämte Plädoyer für die entfesselte Brachialgewalt westlicher Führungsmächte, selbstlegitimierte Angriffskriege zu führen, bedarf einer angemessenen Erwiderung, wie sie der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel im Deutschlandradio Kultur [2] gegeben hat. Was Herdegen schreibt, sei offensichtlich unrichtig. Dieser verwische ganz bewußt den Unterschied zwischen einer Intervention, wie sie zur Bestrafung eines Giftgaseinsatzes in Syrien geplant war, und der ganz anderen Art der Intervention zur Beendigung eines blutigen Bürgerkriegs. Das Letztere könne nicht in dem Modus geschehen, wie ihn Präsident Barack Obama als Reaktion auf den Giftgaseinsatz angekündigt hat. Herdegen bleibe in diesen Dingen unklar, und so müßten sich eben die Völkerrechtler von den Rechtsphilosophen etwas über die Fundamente der Legitimität erzählen lassen.

Merkel verwirft den angekündigten Bestrafungskrieg als rundum illegitim, mithin also einen gravierenden Verstoß nicht nur gegen das Völkerrecht, sondern auch gegen die politische Ethik. Bestrafungskriege treffen immer unschuldige Dritte und sind folglich eine Art Kollektivbestrafung. Niemand dürfe sich anmaßen, auf das Begehen eines schweren Verbrechens mit einem Krieg zu reagieren, der Unschuldige tötet. Wollte man jedoch tatsächlich intervenieren, um die ineinander verbissenen feindlichen Parteien zu trennen, könne man sich nicht wie im Falle Libyens zur Luftwaffe einer der Bürgerkriegsparteien machen und das Land bombardieren. Das sei schon deshalb obsolet, weil es auf seiten der Rebellen keine klare Partei gebe, "sondern eine große Menge von Schurken und Leuten, die die USA nicht an der Macht sehen wollen". Man müßte also mit einer Übermacht von Bodentruppen einmarschieren und das Land mindestens für die nächsten zehn Jahre unter eine Art internationales Protektorat stellen. Das würde Tausende Milliarden US-Dollars kosten und wäre eine politische Utopie, die niemand im Sinn hat. Er hoffe daher, daß ein Weg der kleinen Schritte und der Diplomatie, wie er derzeit zumindest nicht mehr ausgeschlossen sei, auch von den westlichen Regierungen eingeschlagen werde, so Merkel.

Zuvor hatte er dezidiert dargelegt, daß es nach dem positiven Völkerrecht illegal ist, in einem Bürgerkrieg ohne Sicherheitsratsbeschluß und auf seiten aufständischer Rebellen zu intervenieren. Das schließe eigene Waffenlieferungen, die Duldung der Maßnahmen Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei wie auch die Übernahme logistischer Aufgaben seitens der USA ein. Diese Handlungsweise sei skandalös und beinhalte eine tiefe Mitschuld an diesem katastrophalen Geschehen in Syrien, die der Westen auf sich geladen hat. Das verbreitete Mißverständnis in den westlichen Medien scheine zu sein, daß man Präsident Assad als Schurken bezeichnet, gegen den man Widerstand üben dürfe. Aber nicht Widerstand in jedem Modus, so Merkel. Nicht im Modus eines Bürgerkriegs, der allen anderen in Syrien aufgezwungen wird, die vielleicht dagegen gewesen sind. Obgleich es sich um ein despotisches Regime handle, sei dieses längst nicht von der finsteren Art, wie man es in Saudi-Arabien oder in Katar erlebe. Heute habe man 120.000 Tote, "und wenn dieses gespenstische Geschehen irgendwann zu Ende sein wird, werden es Zehntausende mehr sein". Das hätten beide Seiten zu verantworten, also auch die Rebellen, die zu den Waffen gegriffen haben und vom Westen darin bestärkt und unterstützt werden.

Das sind klare Worte des Hamburger Rechtsphilosophen, der Mitglied im Deutschen Ethikrat ist. Er scheut sich nicht, die Winkelzüge und Täuschungsmanöver eines Matthias Herdegen entschieden zurückzuweisen, der sich dem Bombardement der Menschenrechtskrieger als legitimatorischer Erfüllungsgehilfe andient. Merkel bezeichnet die vorerst abgewendete Intervention als ein mögliches Lehrstück für die künftige Entwicklung einer Diplomatie, die nicht nur im Modus von Macht, Drohung und Gewalt agiert: "Wir müssen weg von dem Modus der schieren militärischen Gewaltanwendung!"

Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/syrien-konflikt-eingreifen-erlaubt-12561220.html

[2] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/2255944/

20. September 2013