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KRIEG/1639: Tagesbefehl Wegschauen - Kobanê in höchster Not (SB)




Man dürfe nicht wegschauen, heißt es stets, wenn geostrategische Interessen auf der Agenda deutscher Hegemonialpolitik stehen. Wenn, wie im Kosovo 1999, sehr intensiv hingeschaut wird, dann wird aus einer bürgerkriegsartigen Eskalation schon einmal ein Genozid, der die Regeln internationalen Rechts bar jeden Beweises als ultimativer Interventionsgrund vom Tisch fegt. Das Starren auf einen kleinen Ausschnitt globaler Gewaltverhältnisse läßt schnell vergessen, wie relativ Einzelereignisse im Verhältnis zu Mißständen sein können, deren Überwindung aller gemeinsamen Anstrengung bedürfte. Der blinde Fleck eigener Beteiligung am Sterben anderer könnte nicht besser übertüncht werden als durch den moralischen Aufschwung zum höheren Anliegen der humanitären Intervention, auch wenn diese im Ergebnis langfristige Verelendung und permanenten Bürgerkrieg bewirkt. Wo hingegen, wie im Falle der israelischen Angriffe auf Gaza, die Entfaltung außenpolitischen Drucks zur Verhinderung schlimmster Exzesse geboten wäre, tritt die freie Auslegbarkeit einer angeblich wertegestützten Politik unübersehbar hervor.

Mit ähnlicher Dringlichkeit wurde vor wenigen Wochen die Bedrohung der yezidischen Minderheit im Nordirak durch den Islamischen Staat (IS) zu einem neuen Imperativ militärischen Krisenmanagements in einer Region aufgebaut, deren Raumaufteilung durch die europäischen Kolonialmächte die Kriege der letzten Jahrzehnte von Anbeginn an inhärent waren und der imperialistischen Politik des globalen Nordens folgerichtig Vorschub leisten. Obwohl die kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und YPJ des nordsyrischen Selbstverwaltungsgebiets Rojava maßgeblichen Anteil an der Rettung der yezidischen Flüchtlinge hatten, während sich die Peschmerga der KDP des nordirakischen Kurdenführers Masud Barzani in entscheidender Situation zurückzogen, zielt die Politik der Bundesregierung auf die militärische Unterstützung letzterer ab. Der heutige Besuch von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in Erbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomiegebiete, findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem die Bevölkerung in Kobanê (arabisch Ain al-Arab), dem politischen Zentrum Rojavas, akut davon bedroht ist, durch die angreifenden IS-Truppen überrannt und womöglich massakriert zu werden. Wie wenig ernst auch nur die Verteidigung der Yeziden gegen den IS gemeint war, ist daran zu ermessen, daß die Anwesenheit Tausender yezidischer Flüchtling in Rojava keine Erwähnung in den Stellungnahmen der Bundesregierung findet, obwohl sie dort zum zweiten Mal in akuter Lebensgefahr sind.

In einer Situation, die sich zum schlimmsten aller Terrorakte des IS entwickeln könnte, verkehrt sich der moralische Primat deutscher Außenpolitik in systematisches Wegschauen. Die Verteidigung Rojavas verstößt gleich in mehreren Fällen gegen die strategischen Interessen der Bundesrepublik in der Region. Zum einen ist die AKP-Regierung der Türkei maßgeblicher Akteur bei der Bekämpfung jeglicher kurdischen Autonomiebestrebungen, wie die allen anderslautenden Bekundungen zum Trotz aufrechterhaltene Unterstützung des IS durch die Türkei zeigt. Während IS-Kämpfer nach wie vor die Grenze nach Syrien überschreiten und diese auch für Waffenlieferungen an deren Adresse nicht verschlossen ist, erhalten kurdische Flüchtlinge, die aus der grenznahen Stadt Kobanê in die sichere Türkei flüchten wollen, vom türkischen Staat kaum Hilfe, sondern werden durch türkische Militärs und Sicherheitskräfte drangsaliert. Kurdische Kämpferinnen und Kämpfer, die die Grenze in Richtung Kobanê überschreiten wollen, um die Stadt zu verteidigen, werden von der türkischen Regierung ebenso daran gehindert, wie sie die humanitäre Hilfe für Rojava durch die seit zwei Jahren erfolgte Schließung der Grenze des selbstverwalteten Gebiets für den zivilen Handel unterbindet.

Zum andern findet in Rojava ein Prozeß der politischen, ökonomischen und militärischen Demokratisierung statt, der maßgeblich von der ideologisch der PKK nahestehenden PYD initiiert wurde. Was in dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Syrien in zwei Jahren an eigenständigen Verwaltungsstrukturen aufgebaut und an emanzipatorischen Prozessen entwickelt wurde, ist einzigartig für die Region und hat in seinem multiethnischen, konföderalen und geschlechtergerechten Charakter eine weit ausstrahlende Vorbildfunktion. Was für die rigoros patriarchalische Doktrin des IS, dessen Saat mit der systematischen Schwächung und Zerschlagung arabischer Staaten durch die Kriegführung der NATO-Staaten gelegt wurde, ein Feindbild ersten Ranges darstellt, trifft auch in Ankara, wo Präsident Recep Tayyip Erdogan die Reislamisierung der türkischen Gesellschaft betreibt, auf entschiedene Ablehnung.

Aus der Mißachtung, die die Bundesregierung Rojava entgegenbringt, ist nur zu schließen, daß es sich bei ihr ähnlich verhält. Berlin scheint das mit unheiligen historischen Vorbildern belastete strategische Bündnis mit der Türkei weit wichtiger zu sein als die Unterstützung fortschrittlicher Kräfte innerhalb des Landes wie unter jenen Kurdinnen und Kurden, die das Ziel der nationalen Autonomie längst zur Vision einer staatliche Grenzen überwindenden Konföderation aller im Nahen und Mittleren Osten lebenden Bevölkerungen transformiert haben. So wird die radikale türkische und kurdische Linke in der Bundesrepublik in Zusammenarbeit mit Ankara politisch verfolgt, während man die Türkei als wichtigen strategischen Verbündeten der NATO und Abnehmer deutscher Rüstungsgüter hofiert. Dem widerspricht auch das Aufkommen eines antimuslimischen Rassismus in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung nicht, wird das Verhältnis der Bundesrepublik zur Türkei doch in seiner Ambivalenz von kulturalistischer Arroganz und geostrategischer Notwendigkeit gerade dadurch stabilisiert, daß die Bundesregierung ihren türkischen Partnern keinen Handlangerdienst verweigert.

So ist von einer Aufhebung des seit über 25 Jahren bestehenden PKK-Verbots, mit dem die Unterstützerinnen und Unterstützer der kurdischen Befreiungsbewegung in der Bundesrepublik kriminalisiert werden, ebensowenig die Rede wie von der kritischen Überprüfung der Politik Barzanis gegenüber den Menschen in Rojava. Es ist nicht auszuschließen, daß die Bedrohung nordirakischer Feudalstrukturen durch das Beispiel der sozial sehr viel gerechteren Selbstverwaltung in Rojava dazu führt, daß Barzani dessen Verteidigung in Übereinstimmung mit Erdogan eher sabotiert als unterstützt. Zumindest stärkt seine Aufwertung durch die Bundesregierung, die starke wirtschaftliche und ressourcenpolitische Interessen in den kurdischen Gebieten des Iraks verfolgt, den reaktionären und damit leichter in die westliche Hegemonialpolitik einzubindenden Flügel des kurdischen Autonomiestrebens.

Wenn also partout Waffen geliefert werden sollen, dann sollte sich das Angebot zumindest an diejenigen Opfer des IS-Terrors richten, die sie am dringendsten benötigen. Ansonsten liegen der militärischen Intervention der USA in Syrien ebenso wie dem Vorrang, den deutsche Waffenlieferungen vor entschiedener humanitärer Hilfe für die bedrohten Menschen in Syrien und im Irak erhalten haben, strategische Ziele zugrunde, die mit den Interessen der Menschen im Kriegsgebiet nichts zu tun haben. Sich in ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber äußeren Akteuren mit eindeutigen Absichten zu begeben, ist stets eine schlechte Idee, doch wenn es um Leben und Tod geht, wie das in Kobanê der Fall ist, zählt für die Betroffenen jede Form von Nothilfe. Daß die Bundesregierung nicht einmal den Versuch unternimmt, die Regierung in Ankara dazu zu bringen, die Grenze nach Kobanê für humanitäre Hilfe und den Nachschub für die kurdischen Verteidigungskräfte zu öffnen [3], während sie sie gleichzeitig für die Jihadisten des IS schließt, ist kein Zeugnis bloßer Ignoranz. Dieser Politik liegt die prinzipielle Bekämpfung aller sozial fortschrittlichen Bewegungen zugrunde, gefährden diese doch nicht zuletzt die Herrschaftsordnung der eigenen neofeudalen Gesellschaft.


Fußnoten:

[1] KRIEG/1638: Kriegsgründe gesucht und gefunden ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1638.html

[2] PROPAGANDA/1480: Wenn sich die Fußtruppen imperialistischer Kriege selbstständig machen ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/prop1480.html

[3] Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik aufgrund der akuten Situation in Kobanê/Ain al-Arab in Rojava
http://www.schattenblick.de/infopool/buerger/ticker/btik0042.html

25. September 2014