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KRIEG/1641: Terrorstrategie - Das gewollte Sterben Kobanis (SB)




Der hierzulande erzeugte Eindruck, die kurdische Bevölkerung in der Türkei gehe auf die Straße, um die Regierung in Ankara zum militärischen Eingreifen im Kampf um Kobani zu veranlassen, trifft nicht zu [1]. Die Kurdinnen und Kurden protestieren dagegen, daß der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Verteidigung der Stadt aktiv behindert, indem er die Grenze nach Syrien für kurdische Kämpferinnen und Kämpfer, die das nur über türkisches Territorium zu erreichende Kobani gegen den IS verteidigen wollen, sperren läßt. Eine umfassende, nicht von den türkischen Streitkräften behinderte Grenzöffnung für militärische Hilfe und die Einstellung aller Unterstützung des IS, dessen Kämpfer und Waffen Augenzeugenberichten zufolge immer noch über die Grenze von der Türkei nach Syrien gelangen, sind die zentralen Forderungen der kurdischen Bevölkerung.

Die 23 Todesopfer der jüngsten kurdischen Proteste in der Türkei sollen unter anderem auf das Konto der islamistischen Hizbullah, einer paramilitärischen Organisation, die in den 90er Jahren unter Billigung der Regierung terroristische Gewaltakte gegen die kurdische Opposition verübte, gehen. Wie bei den Protesten und Solidaritätsdemonstrationen in der Bundesrepublik, die von Islamisten angegriffen wurden, formieren sich die IS-Sympathisanten gegen die kurdische Befreiungsbewegung und stellen sich in der Türkei auf die Seite der Regierung. Ohnehin ist die Erklärung Ankaras, man greife nicht ein, weil es für eine Offensive mit Bodentruppen einer internationalen Koalition bedürfe, unglaubwürdig. Die türkischen Streitkräfte hatten niemals ein Problem damit, regelmäßig mit Bodentruppen in den Norden Iraks einzurücken, um das Rückzugsgebiet der PKK anzugreifen.

Wie einig man sich in Ankara ist, daß Rojava von der Landkarte verschwinden muß, belegt auch der ehemalige türkische Botschafter in Deutschland, Onur Öymen. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk insistierte der CHP-Politiker darauf, daß nicht nur der IS, sondern alle terroristischen Organisationen bekämpft werden müßten:

"Für die Konfliktlösung müssen wir verstehen, dass es nicht eine Lösung für einige Terroristen gibt oder eine andere Lösung für andere Terroristen. Unser Präsident sagte gestern, ISIS und PKK zum Beispiel sind vergleichbar. Das sind alles terroristische Organisationen." [2]

Das hat nicht nur Erdogan erklärt, sondern auch sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Er ist sich darüber hinaus mit dem türkischen Präsidenten darin einig, daß der Kampf gegen den IS auch den Sturz der syrischen Regierung unter Präsident Bashir al-Assad zum Ziel haben müsse.

Wenn auch Politiker der kemalistischen Opposition die kurdische Befreiungsbewegung und den Islamischen Staat als terroristische Organisationen gleichsetzen, dann scheint der seit zwei Jahren währende Friedensprozeß zwischen der Regierung und der PKK beendet zu sein. Ob er von seiten Erdogans jemals ernsthaft betrieben wurde, ist in Anbetracht seines geringen Entgegenkommens ohnehin fraglich. Was der kurdischen Bevölkerung der Türkei nun am Beispiel Kobanis eröffnet wird, ist die Alternativlosigkeit ihrer Unterwerfung unter eine Staatsdoktrin, die sich durch das in Rojava etablierte Modell der rätedemokratischen Selbstverwaltung in Frage gestellt sieht [3].

Die großen Fortschritte, die die kurdische Befreiungsbewegung mit dem Entwurf eines Gesellschaftsmodells unter Einbeziehung aller Ethnien und Religionen bei vorbildlicher Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit und zumindest perspektivischer Etablierung sozialer Gerechtigkeit gemacht hat, stellen für die den Weg in die autoritäre Reislamisierung der Gesellschaft beschreitende AKP eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Der nach außen als neoosmanisches Projekt artikulierte Machtanspruch Ankaras manifestiert sich im Inneren der Türkei als Kulturkampf zwischen den islamistischen Anhängern Erdogans und der bei den Juniaufständen des letzten Jahres formierten säkularen Opposition. Um seine Machtbasis zu konsolidieren, will Erdogan zumindest nicht in vorderster Front im Kampf gegen den IS stehen und sich so die Möglichkeit offenhalten, den von den Dschihadisten entfachten Terror im eigenen Interesse zu instrumentalisieren.

Auf jeden Fall scheint die Entwicklung im Norden Syriens mit der innenpolitischen Dynamik in der Türkei eng verknüpft zu sein. Zwischen der AKP, die darauf baut, die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen, der islamistischen Konkurrenz der Gülen-Bewegung und der säkularen bürgerlichen wie linken Opposition herrscht ein dauerhafter Konflikt, den die Regierung mit der Entdemokratisierung des Staatsapparates und anwachsender staatlicher Repression unter Kontrolle zu bekommen versucht. Indem Kobani dem IS überlassen und die Verteidigung der Stadt durch kurdische Kräfte massiv behindert wird, statuiert Erdogan ein Exempel an der kurdischen Minderheit, das als Gewaltandrohung in Richtung Opposition nicht mißzuverstehen ist und antikurdische Ressentiments in den konservativen Kreisen der Bevölkerung wiederbelebt.

Die abwartende und indifferente Haltung der NATO-Verbündeten läuft auf die informelle Gutheißung dieser Politik hinaus. Die US-Regierung hat offen erklärt, es gehe ihr bei der Bekämpfung des IS vorrangig darum, seine Kommandostäbe und Nachschubwege zu bombardieren. Gelegentliche Luftangriffe in der Nähe von Kobani sollen offenbar als Feigenblatt dienen, auf das man sich berufen kann, wenn die Stadt gefallen ist. Gleiches gilt für die deutsche Regierung, die ihren Einfluß im Norden des Iraks ausweitet und keine Forderungen an die Regierung in Ankara zur Öffnung der Grenze nach Kobani, geschweige denn zur strikteren Bekämpfung des IS erhebt. Ohnehin hat die Führung der PYD, die an der Selbstverwaltung Rojavas maßgeblich beteiligt ist, wiederholt klargestellt, daß die Volksverteidigungskräfte YPG/YPJ zwar panzerbrechende und andere schwere Waffen für die wirksame Verteidigung der Stadt benötigen, jedoch nicht an der militärischen Unterstützung durch ausländische Bodentruppen interessiert sind. Sollten diese erst einmal Fuß in das Gebiet gesetzt haben, dann ist der politische und gesellschaftliche Modellcharakter Rojavas absehbar in Frage gestellt.

Dies geht auch daraus hervor, daß von einer Aufhebung des Verbots der PKK in Deutschland, der EU und USA trotz der Angebote, die der in der Türkei inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan der türkischen Regierung unterbreitet hat, keine Rede ist. Allein die ideologische Nähe der PYD zur PKK, die den von Öcalan initiierten Demokratischen Konföderalismus zur offiziellen Parteidoktrin erhoben hat, brächte bei einem Einrücken von NATO-Truppen die Gefahr mit sich, daß der Terrorkrieg nicht nur seitens der Türkei, sondern auch der anderen NATO-Staaten auf die kurdischen Einheiten ausgeweitet würde.

Seit jeher unterstützen deutsche Regierungen die Unterdrückung der linken Opposition in der Türkei [4], und sich für Rojava als Beispiel für eine fortschrittliche Gesellschaftsentwicklung, die in die ganze Region ausstrahlen könnte, einzusetzen, kommt für Staaten, die imperialistische Politik betreiben, ohnehin nicht in Frage [5]. Hier gibt es jenseits schneller Antworten viel zu bedenken für eine Linke, die eine eigenständige und fortschrittliche Position im Weltgeschehen zu beziehen beansprucht [6].

Das betrifft auch die Zerstörung Syriens, die auf der Agenda der NATO-Staaten verbleibt und die unveränderte Gültigkeit des von den USA im angeblichen Krieg gegen den Terrorismus angekündigten Plans zur Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens belegt. Die drei Kantone Rojavas, die integraler Bestandteil Syriens sind, durch den IS zerstören zu lassen, um anschließend eine sogenannte Schutzzone zu etablieren, eröffnet der AKP-Regierung langfristig die Perspektive, Teile des Nachbarstaates zu annektieren. Über die Brücke einer solchen Sicherheitszone, die durch ein internationales Truppenaufgebot hergestellt würde, wäre der Weg zur Okkupation ganz Syriens frei. Für die Bundesrepublik böte sich hier die Chance auf Teilnahme an einem Krieg, dessen geostrategische und hegemoniale Zielsetzungen offenkundig sind.

Wenn die mehrheitlich kurdische Enklave fällt, dann könnte die Eroberung Syriens durch die Herstellung des Bündnisfalls der NATO beschleunigt werden. Nach den Anschlägen des 11. September 2001, so der CHP-Politiker Öymen, waren die NATO-Staaten "einig im Kampf gegen alle terroristischen Organisationen in der Welt. Bush hat gesagt, es gibt keine Grauzone, entweder sie sind für uns oder gegen uns. Das ist exakt das, was wir heute sagen." Ganz offensichtlich spricht der Diplomat nicht nur für sich oder seine Partei, sondern eine türkische Regierung, die zum Sprung auf die benachbarte Regionen des Nahen und Mittleren Ostens ansetzt. Wie gefährlich dieses Vorhaben für alle daran auch nur mittelbar Beteiligten ist, zeigt allein das Interesse des Irans und Rußlands am Fortbestand eines souveränen Staates Syrien [7].


Fußnoten:

[1] http://civaka-azad.org/falsche-berichterstattung-deutschland-kurden-fordern-kein-tuerkisches-eingreifen-kobane/

[2] http://www.deutschlandfunk.de/kampf-um-kobane-ein-internationales-problem.694.de.html?dram:article_id=299787

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0239.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0178.html

[5] http:/www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1640.html

[6] http://thedisorderofthings.com/2014/10/07/4-things-to-learn-from-kobane/#more-9118

[7] "Türkei will den Bündnisfall der Nato herbeiführen"
Interview mit dem Nahost-Experten Michael Lüders
http://www.radiobremen.de/politik/alle-artikel/kurdische-kaempfe100.html

9. Oktober 2014