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KRIEG/1660: Armenienfrage auf dem Altar deutscher Kriegsführung geopfert (SB)



Die Klassifizierung der Massaker an Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als "Völkermord" ist im Kalkül der Bundesregierung augenscheinlich nicht mehr als ein verzichtbares Faustpfand im Armdrücken mit Recep Tayyip Erdogan und der türkischen Führung. War schon der Vorwurf des Genozids an die Adresse einer anderen Nation aus deutscher Warte angesichts der damaligen Beteiligung an der Repression gegen die Armenier wie auch des Massakers an den Herrero höchst fragwürdig, so zeugte die Abstimmung im Bundestag von einer demonstrativen Reserve bestimmter hochrangiger Politiker. Während die Abgeordneten bei ihrem Votum im Juni die Massaker fast einhellig als Völkermord werteten, waren mehrere Regierungsmitglieder der Abstimmung ferngeblieben: Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihr Stellvertreter und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sowie Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Die Resolution hatte bekanntlich in der Türkei erbitterte Reaktionen ausgelöst. Präsident Erdogan überzog Bundestagsabgeordnete mit türkischen Wurzeln wegen ihrer Zustimmung zu dem Beschluß mit dem rassistischen Angriff, sie seien ein Sprachrohr der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und hätten wie "Terroristen" "verdorbenes Blut". Auch andere türkische Regierungsmitglieder kritisierten Deutschland heftig, es kam zu Morddrohungen gegen Abgeordnete, von denen mehrere unter Polizeischutz gestellt wurden.

Zudem verweigerte die Türkei deutschen Abgeordneten seither den Besuch bei Bundeswehrsoldaten auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik, was heftige Turbulenzen unter den Parlamentariern wie auch in den Medien zur Folge hatte. Nachdem selbst ein Treffen von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Erdogan und ein Besuch von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in der Türkei zu keinen Fortschritten in dieser Frage geführt hatten, sah sich die Bundesregierung schließlich zu einem diplomatischen Befreiungsschlag veranlaßt. [1]

Wie die Regierung nun betonte, distanziere sie sich nicht von der Parlamentsresolution, doch verweise sie zugleich darauf, daß diese nicht rechtsverbindlich sei. Die nahezu gleichlautende Erklärung von Regierungssprecher Steffen Seibert und später auch Angela Merkel war offenbar zuvor mit der türkischen Seite abgestimmt worden, um eine Übereinkunft herbeizuführen, ohne allzu großen innenpolitischen Schaden anzurichten. Für eine solche Vorklärung spricht auch die durchweg positive Reaktion der türkischen Botschaft in Berlin, welche die Stellungnahme der Bundesregierung begrüßte. Der Sprecher der Botschaft, Refik Sogukoglu, verwies insbesondere auf zwei Bemerkungen des deutschen Regierungssprechers: "Wir schätzen Seiberts Aussage, dass den Gerichten die Entscheidung obliegt, was Völkermord ist - und nicht dem Parlament. Darüber hinaus stimmen wir Seiberts Bewertung zu, dass die Bundesregierung nicht immer die gleiche Meinung haben muss wie der Bundestag", erklärte Sogukoglo. [2]

Mit dieser lobenden Bewertung legte die türkische Botschaft offen, in welchem Maße die Bundesregierung Staatsräson nach exekutiven Maßgaben definiert und das Parlament zu einer Statistenrolle degradiert. Der Zweck dieser Distanzierung vom Votum des Bundestags zeigte sich nach einem rund einstündigen Gespräch der Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten vor dem Start des G20-Gipfels in Hangzhou. Hinterher ging Merkel nach eigener Aussage davon aus, daß das Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete bei Bundeswehrsoldaten auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik in Kürze aufgehoben wird.

Wie sehr dieses erste Treffen zwischen Merkel und Erdogan seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli in einem diplomatischen Winkelzug Bewegung simulierte, wo keine war, und unter Aussparung diverser Streitpunkte Annäherung signalisierte, unterstrichen auch die plötzlich formulierbaren Perspektiven in anderen strittigen Fragen. Man sei sich vor allem einig gewesen, daß der politische Prozeß in Syrien wieder in Gang kommen müsse. Was das Flüchtlingsabkommen und mögliche Visaliberalisierungen betreffe, sei noch viel Arbeit zu leisten, so die Kanzlerin. Sie glaube aber, daß die Gespräche sehr intensiv auch unter Einschluß des Europarats geführt würden, zumal die türkische Seite ihres Erachtens durchaus Interesse daran habe, noch ausstehende Probleme zu lösen. Im Gegenzug meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Quellen im Präsidentenamt, Merkel habe Erdogan bei ihrem Treffen versichert, daß Deutschland den Putschversuch in der Türkei ablehne und auf der Seite der Demokratie stehe. [3]

Warum war das Besuchsverbot auf der Luftwaffenbasis Incirlik so wichtig, daß die Bundesregierung dafür den türkischen Gesichtsverlust in der Armenienfrage mit einem diplomatischen Teilrückzug entschädigt hat? Incirlik in der Südtürkei ist die strategische Drehscheibe der NATO-Kriegsführung im Nahen und Mittleren Osten bis hin zu Afghanistan. Auf dem Luftwaffenstützpunkt sind mehr als 200 deutsche Soldaten, Aufklärungsmaschinen und ein Tankflugzeug stationiert. Sie unterstützen die von den USA angeführte Koalition im Kampf gegen den "Islamischen Staat" in Syrien. Darüber hinaus will das Militärbündnis in Kürze damit beginnen, die Intervention in Syrien und im Irak mit Flügen von AWACS-Aufklärungsflugzeugen zu unterstützen. An derartigen Einsätzen sind jedoch in aller Regel deutsche Soldaten beteiligt, da die Bundeswehr rund ein Drittel der Besatzungsmitglieder für die aus 16 Flugzeugen bestehende AWACS-Flotte der NATO stellt.

Zudem gefährdete der Streit zwischen Deutschland und der Türkei die Planungen der NATO für den Start eines neuen Marineeinsatzes im Mittelmeer. Mit der Operation "Sea Guardian" will die NATO unter anderem die Möglichkeit schaffen, die EU-Operation "Sophia" vor der libyschen Küste zu unterstützen. Diese wurde zur Eindämmung der Migration aus Libyen gestartet und soll sich künftig auch mit der Kontrolle des Waffenembargos und der Ausbildung libyscher Küstenschutzkräfte befassen. Im Rahmen der Operation "Sea Guardian" sollen ebenfalls AWACS-Maschinen zum Einsatz kommen, doch muß der Bundestag einer Beteiligung deutscher Soldaten erst noch zustimmen.

In Kreisen der NATO wurde befürchtet, die deutschen Abgeordneten könnten die Zustimmung verweigern, solange die Türkei keine Parlamentarier aus der Bundesrepublik auf türkische NATO-Stützpunkte reisen läßt. Dies hätte vor allem deswegen nahegelegen, weil der Einsatz im Rahmen von "Sea Guardian" mit der Luftraumüberwachung für den NATO-Partner Türkei verbunden werden soll. [4] Aus Sicht der Bundesregierung stand also bei der Kontroverse um das Besuchsverbot in Incirlik die gesamte deutsche Kriegsbeteiligung in dieser Weltregion insofern auf dem Spiel, als man sich keinesfalls von dem Parlament in die Suppe strategischer Planungen und deren ungehinderter Umsetzung spucken lassen wollte.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/2016-09/g20-gipfel-tuerkei-angela-merkel-armenien-resolution-incirlik

[2] http://www.dw.com/de/abgeordnete-wollen-im-oktober-nach-incirlik-reisen/a-19524323

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/g-gipfel-merkel-erwartet-ende-des-besuchsverbots-fuer-incirlik-1.3147433

[4] http://www.schwaebische.de/panorama/aus-aller-welt_artikel,-Fortsetzung-von-Armenien-Streit-koennte-Nato-Einsaetze-erschweren-_arid,10519847.html

4. September 2016


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